Lob der Gewohnheit

von Jens Fischer

Hamburg, 6. Dezember 2016. Ein Abendessen mit Freunden hat Daniel arrangiert. Die Idee ist nicht lustig. Aber bei der Realisierung zuzuschauen, könnte ein beziehungstheoretisch erhellendes Vergnügen werden. Denn geladen sind der beste Kumpel Patrick samt Emma, die gerade erst ins Paarbildungsspiel eingewechselt wurde. Nicht einmal auf der Ersatzbank, geschweige denn am Esstisch platziert wird Patricks Ex-Frau – problematischer Weise die beste Freundin von Daniels Gattin Isabelle. Die sich aus Solidarität, aber auch aus Angst, ihr blühe bald ein ähnliches Auswechselschicksal, in einen empörungsprallen Kokon eingesponnen hat. Allein die Mitteilung, dass Patrick "mit seiner neuen Tussi" zu bewirten sei, reicht ihr als Initialzündung, richtig schäbig in Fahrt zu kommen und die Dinnergäste anzuspornen, dass jeder mal mit jedem abrechnet.

Mackerwitz mit lebensherbstlichem Sexfrühling

Florian Zeller löst auch mit seinem neuen, erneut am St. Pauli Theater deutschsprachig erstaufgeführten Stück "Hinter der Fassade" das Boulevardtheaterversprechen ein, dem Publikum die Verklemmungen und Verödungen des Lebens auf herzlich böse Art komödiantisch zu spiegeln – und so erträglich zu machen. Im Gegensatz zu Yasmina Reza, aber in Übereinstimmung mit Matthieu Delaporte / Alexandre de la Patellière läuft die dramatische Konstruktion auf ein Wohlfühlangebot für den Heimweg hinaus – waren die Szenen einer Ehe auch von Langeweile, Überdruss, Schweigen und Verachtung geprägt, es wird Weitermachen, die nächste Staffel avisiert. Ein Lob der Gewohnheit – ist die Moral der gewöhnlichen Geschichte.

HinterderFassade1 560 Oliver Fantitsch uIm Ikea-Idyll: Herbert Knaup, Cristin König, Stephan Schad, Jessica Ohl © Oliver Fantitsch

In ihrem Zentrum steht Herbert Knaup. Daniel ist wie gemacht für seine darstellerische Spezialdisziplin – den nöligen Trottel unterm Pantoffel. "Ein hoffnungsloser Spießer", wie Patrick seinen Freund nennt, "ein echtes Weichei", wie Emma formuliert. Ein tragikomisch nervender Clown, der stets vergeblich alle seine Lieben mit ihren widersprechenden Interessen unter einen Hut zu bekommen versucht, wie Isabelle nahelegt. Die immer genau weiß, wer nicht unter den Hut darf. Eine etwas verhärmte Machtzicke ist sie, fühlt sich nur als Regisseurin einer Situation wohl. Aber nachvollziehbar weiß sie Patrick (Stephan Schad) einzuschätzen als jemanden, der in "eitler Selbstgefälligkeit" seinen lebensherbstlichen Sexfrühling feiert. Ein Mackerwitz.

Ein ins Innere der Figuren gekehrtes Tourette-Drama

Wozu seine Emma (Jessica Ohl) recht gut passt: görig, prollig und nuttig verspielt. Nicht mehr als solche Skizzen hat Zeller für sein Personal entworfen, das Regisseur Ulrich Waller als Klischeefiguren grellbunt ausmalt. Und mit seiner Pointen-Dramaturgie fast alles vermeidet, was Mehrdeutigkeit suggeriert. Nur in ganz wenigen Momenten nach der Pause lotet Cristin König ihre Isabelle etwas tiefer aus, deutet zumindest den Schmerz ungelebten Lebens und eine Spur Verzweiflung an, mit der versenkten Lebenslust Daniels verheiratet zu sein. Raimund Bauers Bühnenbild verortet all das in einer dieser 08/15- Wohnzimmer-Inszenierungen der Ikea-Kaufhäuser.

Ansatzweise ist ein ins Innere der Figuren gekehrtes Tourette-Drama zu erleben. Die Hälfte des Stücks spielt titelgemäß hinter der Fassade und besteht aus gedanklichen sowie formulierungstechnischen Vorbereitungen für den nächsten Sprechakt – aber auch aus emotional getriebenen verbalen Revanchefouls zu den eben erlebten Sprechakten. Eben aus all dem, was so unausgesprochen an Worten in den Köpfen herumschwirrt. Und das Herumgedruckse erklärt.

Jede Figur ist Moderator ihrer selbst

Wobei die so genannte Doppelmoral des Bürgertums schier überdeutlich vermittelt wird. Als Daniel die Emma erblickt, denkt er: "Mein Gott, ist die schön ... scharf". Und er fragt sich: "Wie sieht die wohl nackt aus?" Das Grübeln beginnt: "Wie lange habe ich nicht mehr gevögelt?" Offiziell aber verkündet er Isabelle, dass Emma "der größte Fehler" Patricks sei. Patrick hingegen sagt er, Emma sei ein "Knaller". Woraufhin er sich seine Lebenslügen wie ein Mantra vorbeten muss: Dass das "tiefe intellektuelle Einvernehmen" mit seiner Gattin wichtiger sei als so eine frische Brise im Bett. Grenzverletzend fällt vor allem Isabelle auf, weil sie das, was sie denkt, manchmal auch hörbar für alle sagt – was ihren höflich sein sollenden Konversationston konterkariert. Etwa wenn sie Emma als "vulgären Vamp" abtut, der nur etwas für "Männer ohne Fantasie" sei – wie Patrick und Daniel.

Inwieweit es sinnvoll sei, stets die Wahrheit zu sagen, fragt Zeller. Er hatte dazu in seinem Stück "Die Wahrheit" ausführen lassen: "Wenn die Leute von heute auf morgen aufhören würden, sich zu belügen, gäbe es kein einziges Paar mehr auf Erden. Und in einer gewissen Hinsicht wäre das das Ende der Zivilisation." So ist das Lügen auch in seinem aktuellen Werk nichts moralisch Verwerfliches, sondern betoniert amüsant den Ehe-Status-quo. Für höchste Kiekser- und Gluckser-Ausschläge im Parkett sorgt, mit wie viel oder wenig Geschick sich das Personal in Lügengespinste verstrickt. Die durch das Beiseitesprechen der Wahrheit sofort offenbar werden. Was angenehm beiläufig inszeniert ist. Waller lässt weder Licht, Artikulation, Gestik oder Mimik verändern, sondern die Texte übergangslos weiter, allerdings vis-à-vis ins Publikum sprechen. Jede Figur ist so Moderator ihrer selbst. Nur Knaup leistet sich, die inneren Monologe immer mal wieder grotesk zu überzeichnen. Deutet an, was auch möglich gewesen wäre: den Abend mehr als eine Art Feydeau-Spaß, weniger als Boulevardgeplänkel zu versuchen. So bleibt es ein eher schlichtes Vergnügen.

 

Hinter der Fassade (Die Kehrseite der Medaille)
von Florian Zeller
Deutsch von Annette und Paul Bäcker
Regie: Ulrich Waller, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Ilse Welter.
Mit: Herbert Knaup, Cristin König, Jessica Ohl, Stephan Schad.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.st-pauli-theater.de


Kritikenrundschau

"Regisseur Ulrich Waller setzt gekonnt auf den feinen Sprachwitz der Komödie. Das Publikum geht mit", beobachtet Peter Helling im NDR (6.12.2016). "Ein spritziger, ein pikanter Abend über die unterdrückten Wahrheiten" sei "Hinter der Fassade". Die vier Schauspieler überzeugten, "allen voran Herbert Knaup", so Helling. "Sie spielen Charaktere aus Fleisch und Blut - mal schluffig und naiv, angeberisch und dominant, verliebt und verzweifelt."

"Auch wenn Zellers Stück nicht an die Dramen von Yasmina Reza heranreicht, hat Ulrich Waller aus der Vorlage ein höchst vergnügliches Stück gemacht", findet Heinrich Oehmsen im Hamburger Abendblatt (7.12.2016). Das "vorzüglich inszenierte Konversationsstück" biete allen vier Schauspielern Gelegenheit, in ihren Rollen zu glänzen, allen voran Herbert Knaup, der den Daniel "umwerfend witzig" spiele.

"Hinter der Fassade" rege stärker als die Vorgängerstücke von Florian Zeller zur blitzschnellen Selbstanalyse im Publikum an, schreibt Stefan Grund in Die Welt (7.12.2016). "Neben dem Status von Beziehungen checken die Zuschauer automatisch, wie groß die Schere zwischen Gesagtem und Gedachtem ist. Auch der, frei nach Kleist, allmähliche Verfall der Gedanken beim Verschweigen kommt auf den inneren Prüfstand und führt zu Folgefragen: Kann man unter Stress so druckreif denken, wie die Figuren auf der Bühne?", so Grund: "Welchen Einfluss haben Gefühle auf den Satzbau?" Regisseur Waller, "mittlerweile Experte für die Erstaufführung französischer Komödien", lasse die Konversationen zügig, mit punktgenauem Timing abspulen und schräg entgleiten.

"Keine sonderlich originelle Konstellation für eine Boulevardkomödie" sieht Irene Bazinger in Florian Zellers Stück und schreibt in der Zeit (8.12.2016): Ulrich Waller mache dann auch nicht mehr daraus als auf dem Papier steht. Das A-Part-Sprechen der Figuren ist für Bazinger "auf die Dauer für alle Beteiligten unbefriedigend". Ungeachtet ihrer vielen Wort gewännen die Figuren keine Tiefenschärfe, so Bazinger. "'Was denkst du?' ist eben nicht nur im Leben, sondern auch auf der Bühne eine ziemlich nervtötende Frage."

Kommentare  
Hinter der Fassade, Hamburg: weitere Kritik
Das sind doch nicht alle Kritiken. Habe gestern in DIE WELT noch eine Kritik von Stefan Grund gelesen. Sie nicht?

(Liebe*r Hanseat, danke für den Hinweis. Wir haben die Kritikenrundschau um die Rezension der "Welt" ergänzt – die wir tatsächlich heute vormittag per Google-Suche noch nicht fanden. Mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion)
Hinter der Fassade, Hamburg: druckreif sprechen
Zu Grund (Welt):
Die bessere, weil genauere Frage wäre:
Können Figuren unter dem situativen Stress auf der Bühne so druckreif sprechen beim Agieren wie der gedruckte Ausgangs-Text für die agierenden Schauspieler es vorsieht?
Antwort:
Das können sie mal sehr gut und mal eher nicht sehr gut. Daran, wie genau sie es mal mehr und mal weniger sehr gut können, spürt der Zuschauer, weil ihm das durch die Darsteller vermittelt wird, die Art und Weise des bestehenden Stresses in konkreten Situationen.
Der ist bei so privatistischen Zusammentreffen wie die Boulevardkomödie sie in der Regel arrangiert, entspannend und oft belustigend schnell als dem Alltag vom Publikum ähnlich von diesem Publikum wiederzuerkennen.
Figuren können in aller Regel überzeugend je druckreifer sprechen, je mehr sie mit einer rhetorisch überaus befähigten Figur eine gemeinsame Situation haben. Ihr Sprechen wird dann Wendungen aus deren Reden sehr schnell adaptieren. Einmal, weil die hervorragende Rhetorik der einen Figur das eigene Zweifeln der anderen präzisiert in größerer Schnelligkeit als das deren einsames Grübeln es täte. Es, das rhetorisch Vorbildhafte, hilft beim schnelleren klar werden über Lebens-Umstände, die die Situation hervorbrachten.
Und daher auch dabei, dass die Figur überzeugend schneller eine eigene Meinung zu ihnen, den Lebensumständen, und ein eigenes Handeln in der jeweiligen Situation ausbilden kann.

Am leichtesten ist dieses sprachliche Phänomen - auch im Alltag - bei Paaren zu beobachten, die einander mit starken Gefühlen zugetan sind (dabei ist nicht von Belang, ob dies positive, Kreativität anregende oder negative, frustrierende Gefühle sind): Die Adaption von rhetorischen Wendungen des jeweils einen, die auch dann in der Gegenrede angewandt werden, wenn es echte Einwände gegen vorgebrachte Ansichten und Meinungen des jeweils anderen gibt, sind vor allem Ausdruck einer undbewussten, oder sogar bewusst so gezeigten, emotionalen Verbundenheit…
Wenn es in einem Bühnentext jedoch gar keine sprachlichen Eigenheiten einer Figur mehr gibt, obwohl sie zum Beispiel einer ganz anderen gesellschaftlichen Schicht oder Klasse angehört als der, in der die Situation eigentlich angesiedelt ist, geht es einem Autor nur noch um Austausch von Argumenten. Dann hat man in der Tat ein Debatten-Drama, bei dem es nur mehr darum geht, bestenfalls aus gegebenem Anlass, verschiedene Standpunkte unter die Zuschauer zu bringen. Dann sind die Figuren zu Erfüllungsgehilfen einer Debatte degradiert und Schauspieler mmöglicherweise zu Sprachrohren - das ist sehr schwer, daraus, aus einer solchen Textvorlage, ein theatrales Ereignis zu machen
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