Warum nicht im Theater?

von Wolfgang Behrens

13. Dezember 2016. Als ich noch ein Zuschauer war, lauschte ich einmal einer Podiumsdiskussion in der Berliner Akademie der Künste, bei der sich verschiedene Musiker über die Lehrbarkeit ihres Metiers austauschten. Der Komponist Frank Michael Beyer erzählte damals, er habe einmal einen Kompositionsschüler gehabt, der mit leuchtenden Augen zu ihm gekommen sei und verkündet habe: "Herr Beyer, ich möchte ein Stück für Schlagzeug komponieren. Ja, für Schlagzeug! Aber es soll ein besonderes Stück sein, denn es soll gar nicht wie Schlagzeug klingen." Beyer will darauf geantwortet haben: "Na, dann schreiben Sie doch erst einmal ein Stück für Schlagzeug, das so klingt wie Schlagzeug!"

Abstellgleis für hoffnungslos altmodische Kritiker

Ich habe ein Faible für diese Anekdote und erzähle sie etwa zweimal pro Jahrzehnt, wenn ich mit irgendwelchen Musikern zusammentreffe. Erst kürzlich habe ich sie wieder zum Besten gegeben und herzlich darüber gelacht (im Gegensatz zu den anderen Anwesenden). Und wenn ich dann herzlich gelacht habe, frage ich mich immer, ob man die Geschichte irgendwie aufs Theater übertragen kann. Ich stelle mir Regiestudent*innen vor, die sagen: "Ich möchte eine Komödie inszenieren, die aber überhaupt nicht nach Komödie aussieht!" Oder: "Ich möchte Shakespeare machen, aber es soll sich anfühlen wie Jelinek." Oder: "Ich will einen Schimmelpfennig uraufführen, aber der Text des Autors soll nicht vorkommen." Ich stelle mir diese Sätze vor und muss mir eingestehen, dass sie gar nicht so weit entfernt sind von der Realität dessen, was täglich auf unseren Bühnen stattfindet.

kolumne 2p behrensUnd dann bekomme ich natürlich einen Schreck! Oje, sage ich mir, wenn du das jetzt aufschreibst und dich über die Regiestudent*innen oder die fertigen Regisseur*innen lustig machst, die solche Dinge in die Tat umsetzen, dann wirst du in die rechte Ecke gestellt – AfD-Hilfsausdruck! Man wird dich zum Werktreue-Mufti ernennen, man wird dir Richard Wagners Diktum "Kinder, schafft Neues!" um die Ohren hauen und dich mit dem Herrn Stadelmaier auf dem Abstellgleis für hoffnungslos altmodische Kritiker parken.

Mit Pointen und Timing und so ...

Und ich werde zu Kreuze kriechen und rufen: "Nein, nein, nein! Jetzt seid doch nicht so doof (winsel, jaul)! Ihr wisst doch, wen ich gut finde! Ich liebe doch Schlingensief und Schleef, Castorf und Pollesch! Ich bin doch gar nicht so ..." Im Stillen aber werde ich denken, dass es viel zu viele Schlingensiefs, Schleefs, Castorfs und Polleschs gibt. Viel zu viele, die glauben, sie könnten eine Tragödie so machen, dass sie nicht wie Tragödie aussieht, die sie aber in Wirklichkeit so machen, weil sie gar nicht wissen, wie Tragödie aussieht. Viel zu viele, die so hoch hinauswollen, dass sie – schwindlig geworden – die fehlenden Fundamente gar nicht bemerken. Und viel zu wenige Handwerker*innen, die ein Boulevardstück so inszenieren können, dass es auch wie ein Boulevardstück rüberkommt. Mit Pointen und Timing und so ...

Ich werde ans Kino denken, wo es seltsamerweise noch nichts Ehrenrühriges hat, wenn ein Regisseur einen guten Genrefilm dreht. Während im Theater das Wort "well made play" ein Schimpfwort ist. "Ha, gut gemacht!", rufen die Genreverächter. "Gemacht, nicht geschaffen! Wie kümmerlich!" Wenn sie noch mit mir reden würden, entgegnete ich ihnen vielleicht: "Ja, aber die tollsten Filme im Kino sind doch oft diejenigen, in denen die Genre-Regeln perfekt beherrscht und dann ein wenig verschoben werden. Warum darf das im Theater nicht so sein?"

Erst die Arbeit, dann die Dekonstruktion

Wenn mich noch jemand fragen würde, wünschte ich mir also: Dass es wieder mehr Regisseur*innen gibt, die ihren Job von der Pike auf lernen. Die traumhaft sicher das Genre Komödie so bedienen können, dass es tatsächlich wie Komödie aussieht. Die einem bei einem Trauerspiel die Tränen der Rührung in die Augen treiben und bei einem antiken Drama einen Zipfel des Erhabenen erhaschen lassen. Und wenn sie das können, die Regisseur*innen, dann – aber erst dann! – sollen sie in Gottes Namen ihre Stücke für Schlagzeug schreiben, die wie Geigen singen, wie Klarinetten schluchzen und wie die Posaunen zum Jüngsten Gericht rufen.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

Zuletzt berichtete Wolfgang Behrens über die ideale Kritiker-Aufführung.

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Kommentare  
Kolumne Wolfgang Behrens: mal so, mal so
Bravo! Nur in einem Punkt irrt Wolfgang Behrens: Ws gibt nicht viel zu viele Schlingensiefs, Schleefs, Castorfs und Polleschs - damit könnte man ja leben -, sondern viel zu viele, die sich für Schlingensiefs, Schleefs, Castorfs und Polleschs halten, mit diesen aber so viel zu tun haben wie Geigen mit Schlagzeug. Nicht die Ideen der echten Talente sind das Problem, sondern jene, die diese Ideen zur Mode machen. Und nicht jene Kritiker sind hoffnungslos altmodisch, die Einspruch erheben gegen das Modische, sondern jene, die Ideen immer noch als genial und neuartig feiern, wenn sie längst zur Mode geworden sind. Video auf der Bühne etwa oder die Auflösung von Figuren waren einmal revolutionär. Inzwischen sind solche Theatermittel konventioneller und altbackener als eine Pappendeckelkulisse oder die Anonymisierung durch eine Maske. Was einen trösten könnte: auch die Moden verschwinden wieder wie die Plastikfolien, die Schlapphüte und die anachronistischen Fernseher auf der Bühne, und jene Kritiker, die sich noch für Avantgarde hielten, als all dies nicht mehr als Zitat sein konnte, verschwinden mit ihnen. Also, lieber Wolfgang Behrens, ein Vorschlag zur Güte: ein Schlagzeug, das mal wie Geigen und mal wie Schlagzeug klingt. Besser noch: mal so, mal so, weil es eine Funktion erfüllt. Als ich noch Zuschauer und sehr jung war, bejubelte ich alles, was meinen Eltern missfiel. Inzwischen bin ich erwachsen. Und von Strehler immer noch begeistert. Der hätte auch meinen Eltern gefallen. Wahrscheinlich sogar Stadelmaier. Damit kann ich leben.
Kolumne Wolfgang Behrens: Schlingensief etc. waren gute Handwerker
Da kann ich mich meinem Vorredner nur anschließen. Habe selbst nie das Kampfwort "well made play" verstanden, aber zu viele Schlingensiefs, Schleefs etc gibt es nun wirklich nicht. Die wussten zudem, wie Pointen sitzen und ein Stück handwerklich auf dem absoluten Punkt ist.
Kolumne Wolfgang Behrens: gemeint sind die Epigonen
Ja, sorry, das war missverständlich ausgedrückt. Die zu vielen Schlingensiefs, Schleefs etc., die ich meinte, sollen natürlich die Epigonen sein. Wie Rothschild schreibt: "viel zu viele, die sich für Schlingensiefs, Schleefs, Castorfs und Polleschs halten". Und für die wirklichen Schlingensiefs und Castorfs gilt natürlich, dass sie so viele nicht nach Schlagzeug klingende Stücke für Schlagzeug komponieren dürfen, wie sie wollen.
Kolumne Wolfgang Behrens: es fehlt das Schauspielhandwerk
Ergänzung:
Für die stilsichere Boulevard-Komödie braucht es , neben der Regie, auch die richtigen Schauspieler.
Ein Grund warum das sog. "Performancetheater" so humorlos ist: fehlendes Schauspielerhandwerk. Florian Malzacher sagte mal, dass man in Gießen endlich auch theoretischen Schauspielunterricht erhalten habe - inclusive den Lehren der Strukturalisten.
Leider keinen praktischen. Warum leiden die meisten Perfomances der sog. "Freien Szenen" unter emotionaler Blutarmut und totaler Unter- oder Überspanntheit ihrer Darsteller, oder besser: Performer?
Lösung: Sie können meist nicht gut sprechen, nicht singen, nicht tanzen. Einfühlung ist ja doof (und auch zu anstrengend), Timing, Rhythmus, oh je.
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Kolumne Wolfgang Behrens: Immer nur Toni Erdmann
Ja, Wolfgang Behrens, genau die habe ich gemeint: die Epigonen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich ein Schlingensief, ein Schleef, ein Castorf und ein Pollesch mit Zadek, Stein, Brook, Kantor, Krejca, Piscator, ja sogar mit Stanslavskij besser verstanden hätten als mit eben diesen, den Nachahmern. Sie verbindet bei aller Unterschiedlichkeit in den ästhetischen Standpunkten die Originalität. Vielleicht sollte man - mit Verlaub: auch bei nachtkritik.de - statt zwischen "auf der Höhe der Zeit" und altmodisch unterscheiden zwischen originell und epigonal, zwischen intelligent und dumm, zwischen sinnvoll und effekthascherisch - und nicht einmal daraus muss man, wenn man etwa an die Commedia dell'arte, an Kabuki oder an Nestroy denkt, ein Dogma machen. Dann ist auch der Begriff "well made play" nicht per se ein "Schimpfwort". Was man dem ohnedies sehr unpräzis damit Gemeinten mit mehr oder weniger Recht vorwirft - den Mangel an Risikobereitschaft, an literarischem Mehrwert - hindert Ibsens Dramen nicht, historisch betrachtet, originell und bis heute intelligent zu sein und seine späten Nachahmer (oft) nur platt. Yasmina Reza oder Florian Zeller und viele ihrer Regisseure beherrschen die Genre-Regeln. Aber ihr Erfolg verdankt sich nicht unbedingt strengen Maßstäben. Jedenfalls nicht, wenn man, um beim Vergleich mit dem Film zu bleiben, an Lubitsch, Hawks oder McCarey denkt. Denkt man an die? Ich gerate ins Zögern. Ich lese immer nur Toni Erdmann. Na dann meinetwegen auch Reza und Zeller. Und nun weiter zu den nächsten Missverständnissen...
Kolumne Wolfgang Behrens: im Fußballbild
Um es mal wieder ins Fussballbild zu bringen: Die individuelle Klasse macht den Unterschied, und wenn der Trainer eine Spielidee hat, kann man die Champions League holen. Wenn nicht, muss man in die Relegation, weil der Zufall reagiert.
Kolumne Wolfgang Behrens: Verdacht
Millionär, egal wie
Danke, Wolfgang Behrens, Ihre Kolumnen sind immer so entspannt. Und auch noch so gut von Thomas Rothschild kommentiert. Da will oder kann ich mich gar nicht genügend aufschwingen und bleibe „im Fußballbild“ (#6), an das Sie sich vielleicht in den nächsten 10 Jahren zwei Mal erinnern mögen.
Es ist eine tatsächlich im Radio - vielleicht vor 10 Jahren gelaufene - Reportage, aus der mir diese Anekdote haften geblieben ist, die ich natürlich auch nicht wörtlich, nur sinngemäß wiedergeben kann. Es ging um Berufswünsche und ein interviewter Hauptschüler sagte, er wolle Profi-Fußballer werden. Ach, dann sei er ein leidenschaftlicher Fußball-Spieler, fragte die Reporterin zurück. So ein Quatsch, konterte der Hauptschüler, aufs Fußball-Spielen komme es ihm überhaupt nicht an. Aber schließlich seien fast alle Profi-Fußballer Millionäre und nur darauf, aufs Millionär-Sein, habe er Bock.
Könnte es sein, dass die von Ihnen aufs Korn genommenen „Künstler“ gar nicht mit Leidenschaft Kunst machen wollen, sondern irgendwas Anderes?
Kolumne Wolfgang Behrens: Torjäger
Ich glaube, die von #7 gemeinten Künstler wollen mit Leidenschaft Kunst machen, aber ohne Technik. Sie wollen nicht Fußball spielen, aber Tore schießen.
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