Höllentrip ins Ich

von Dorothea Marcus

Wuppertal, 19. Dezember 2016. Kurz vor der wie jedes Jahr hektisch erwarteten Geburt Christi in die Hölle abzusteigen, das zeugt von einem von religiöser Sentimentalität ungerührtem Gestaltungswillen. Oder ist es ironisch gemeint? Allerdings verläuft der Weg ins Inferno am Theater Wuppertal auf- und nicht abwärts. Denn ausgerechnet Susanne Abbrederis, jene Intendantin, die im Oktober vorzeitig ihren Vertrag löste, weil ein Gutachten mehr Vorstellungen, vor allem im Opernhaus, bei gleichbleibender Ensemblestärke und eingefrorenem Etat anmahnte, hat kurz vor ihrem Abtritt in Wuppertal eine neue Spielstätte entdeckt: die Saaldecke in der Kuppel des ehrwürdigen, denkmalgeschützten Jugendstilbaus von 1905.

Und zudem hat sie alte Kontakte unter Österreichern spielen lassen: Altmeister Johann Kresnik fand sich wundersamerweise bereit für eine Inszenierung im mit 980.000 Euro Etat nahezu totgesparten Haus, das kaum noch künstlerische Sprünge machen kann. Und das ausgerechnet zu einer mit Abbrederis' Nachfolger, dem bereits seit 15 Jahren im Ensemble befindlichen Schauspieler Thomas Braus, der die Gutachten-Forderungen nach mehr Spielterminen bei gleichem Geld erfüllen will und ab Sommer 2017 zum neuen Intendanten designiert ist.

Zwischen Stahlträgern, Drahtgittern, Metallkästen

Das muss nicht das Schlechteste sein – immerhin weiß er vermutlich, worauf es in einem Theaterbetrieb wirklich ankommt. Und so treffen sich die rund 40 Zuschauer im schönen Wuppertaler Kronleuchterfoyer, bevor ein Mann im Arztkittel zu Schlagermusik eine mit Toilettenpapier umwickelte Skulptur hereinschiebt. Heraus platzt Thomas Braus. Schnell wird klar, dass der neunkreisige Weg in die Hölle einer in die eigenen Psycho-Dämonen ist und Dante nur das Hilfsvehikel – verzweifelt, mit ungebrochenem Pathos ruft er ihn oder auch den Dichter Vergil immer wieder um Hilfe, bevor er sich die Treppe hinauf- oder ums Foyergelände herumwindet.

DieHoelle1 560 Klaus Lefebvre uUnter der Kuppel in den Höllenkreisen: Thomas Braus in Johann Kresniks Produktion
© Klaus Lefebvre

Die (Kurz-)Fassung, die Thomas Braus von Dantes Inferno-Text erstellt hat, ist in der Übersetzung von Kurt Flasch sehr griffig, aus den 33 Gesängen und rund 5000 Versen sind 24 schlanke Textbuchseiten geworden, die vielleicht Wahnvorstellungen eines psychisch Kranken, vielleicht eine Suche nach Selbsterkenntnis, vielleicht auch beides sind. Und nimmt das Publikum als Dante mit auf eine erstaunliche Wanderung durch nie gesehene, verwinkelte Theaterecken, bis hin zur Dachkuppel des Hauses, ein seltsamer Rundbau mit Rohren, gebogenen Stahlträger-Treppen, Drahtgitter-Brücken und surreal ragenden Metallkästen.

Kampf mit Psycho-Dämonen

Der top-durchtrainierte Thomas Braus schöpft mit nacktem Oberkörper virtuos aus all seinen Schauspiel-Registern, seiner präzisen Artikulation, seiner beherrschten Stimme und Körpergeschmeidigkeit, die von den Kresnik-Ideen geradezu befeuert werden. Er beschmiert das Gesicht mit Russ oder Blut, lauert Zuschauern auf, von denen er sich kurz abschminken lässt, tanzt mit einem leeren roten Seidenkleid (=Beatrice) durch uns hindurch.

Im dritten Wendekreis der Gier knallt er ein nacktes, rohes Hühnchen gegen die Wand und lässt Brotreste auf sich regnen, tobt, wälzt und windet sich im vierten, feiert die eigene körperliche Schönheit in einem Spiegel, der sich bald in einen Sargdeckel verwandelt, robbt in all der inneren Gefangenschaft zwischen den Zuschauer-Hockern hindurch und verwandelt sich denn wieder einen Conférencier mit Mikro, der das Publikum direkt in die Sinnsuche einbezieht, Distanz zu Dantes Selbstmitleid aufnimmt oder schlicht zum Weitergehen auf den schmalen runden Eisentreppen treibt.

Immer wieder verschwindet er und kommt aus einer versteckten Ecke wieder hervor, wird grundiert mit Musik aus Pina Bausch-Stücken oder melancholischen Arien. Zuweilen kommt Dantes Stimme auch nur vom Band, die Höllenfahrt wird zur Midlife-Crisis: "In der Mitte meines Lebens verirre ich mich in einem Wald, der kein Wald ist, sondern mein Leben".

Dante-Theater-Bruchstücke

Immer wieder gelingen da oben in diesem von Zuschauern nie zuvor gesehenen Theaterhimmel spektakuläre Bilder. Etwa, wenn wir noch weiter oben in einem kahlen, versteckten Technikraum gelandet sind und sich plötzlich das Notausgangs-Fenster öffnet mit Blick auf Wuppertal und Braus mit schwarzem Schleier verhangen buchstäblich vom Rand des Abgrunds aus zu uns herein spricht.

DieHoelle2 560 Klaus Lefebvre uKampf mit sich selbst in "Die Hölle / Inferno" © Klaus Lefebvre

So richtig zu begreifen ist die Krankheit und Wut, die seinen armen Dante-Menschen mit seinen mundgerechten Bruchstücken der Göttlichen Komödie da so umtreiben, allerdings auch nicht, zu sehr theatert es hier vor sich hin. Nach eigenen Worten leidet Braus' Dante am Knoten des eigenen Denkens, an mangelnder Erkenntnis, an der allgemeinen Sinn- und Gottlosigkeit. Nur der Schluss ist versöhnlich: am Ende der Höllenqualen sieht er dann doch die Sterne.

Als perfekt performte Metapher auf eine tiefe menschliche Grundverzweiflung ist das schön und unterhaltsam, bleibt aber letztlich ziemlich unspezifisch – von Aleppo bis katholischer Kirche, die Kresnik laut Vorab-Interviews auch im Blick hatte, ist nichts zu spüren. Immerhin kann man schon ahnen, dass der neue Vollblutschauspieler-Intendant Braus, auch wenn er die Actori-Gutachten-Forderungen erfüllen will, sein Schauspiel-Ensemble – das er um zwei Positionen aufstockt – ehren und halten will. Hoffentlich haben sie dann auch mal Atempausen.

Die Hölle / Inferno
Reise ins Innere frei nach Dante Alighieri, Deutsch von Kurt Flasch, Fassung von Thomas Braus
Regie und Bild: Johann Kresnik, Dramaturgie: Susanne Abbrederis, Bühne und Licht: Philipp Coen / Philipp Wulfhorst.
Mit: Thomas Braus, Frauenstimme: Luisa Rubel.
Dauer: 1 Stunde 15 Minute, keine Pause

www.wuppertaler-buehnen.de

 

Kritikenrundschau

"Eine Tour de Force, die Demonstration eines Schauspielers, der seinen durchtrainierten Körper vorführt, und eines Regisseurs, des Altberserkers Johann Kresnik, der mit Einfällen aast", so fast Andreas Rossmann den Abend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.12.2016) zusammen. "Das Theater als Mucki-Bude mit Auslauf." Aber was werde erzählt, was passiere mit der Figur? "'Ich dachte, ich erfahre hier etwas über mich', heißt es einmal. Fehlanzeige."

"Ein atemberaubend schneller Theaterabend, der auch dem Publikums einiges abverlangt", schreibt hingegen Sabina Bartholomä in der Wuppertaler Rundschau (22.12.2016). Während Braus bei allem Körpereinsatz "Dantes Text nuanciert und jedes Wort auslotend herüber zubringen" verstehe, baue
Kresnik "Bilder, betörend und verstörend zugleich, die sich ins Gedächtnis brennen".

Kresnik wisse, "wie man spektakuläre Bilder erzeugt, die aufschrecken und sich in den Kopf brennen", findet auch Anne Grages in der Westdeutschen Zeitung (21.12.2016). Braus’ Soloabend biete intensives Theater, wie man es selten erlebt. "Dennoch bleibt eine Leerstelle. Denn diese Reise ins Innere verläuft so furios und atemlos, dass der Zuschauer ihr kaum zu folgen vermag. Woraus sich die innere Verzweiflung speist, wie sich das Wechselspiel zwischen den Verdammten und dem Höllentouristen Dante entwickelt, lässt sich nur erahnen."

Über eine Stunde lang fessele Braus "in Kresniks Angst-und Schreckensbildern mit virtuosem Körpereinsatz und hoher Sprechkultur", schreibt Anne Linsel in der Süddeutschen Zeitung (24.12.2016). "Auch wenn die Vielschichtigkeit der Dichtung nicht vermittelt wird: Dieser Abend des designierten Wuppertaler Schauspielintendanten Thomas Braus (…) weckt Hoffnung auf Theater mit Leidenschaft."

 

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