Chris Dercon spricht über sein Programm für die Berliner Volksbühne
Reformierte Begriffe
20. Dezember 2016. Der designierte Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Chris Dercon und seine Programmleiterin Marietta Piekenbrock haben mit dem Berliner Tagesspiegel und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erstmals über ihr künftiges Programm gesprochen.
Tempelhof
Es sei zwar unklar, ob das Amphitheater von Francis Kéré auf dem Flughafen Tempelhof tatsächlich zu finanzieren sei, jedenfalls aber solle die Spielzeit im September in Tempelhof mit einem Fest und dem neuen Stück des Choreografen Boris Charmatz beginnen. Charmatz werde über zwei Wochen "choreografische Versammlungen auf dem Tempelhofer Feld inszenieren, bei Tag und bei Nacht, und die ganze Stadtgesellschaft zu unterschiedlichen Formaten einladen". In seinem neuen Stück gehe es dann um "biopolitische Aussagen", um das "Wechselspiel des einzelnen Menschen mit der Architektur im riesigen, leeren Hangar von Tempelhof". Falls das Amphitheater kommt, soll es dort eine "Überschreibung" der euripideischen "Iphigenie in Aulis" mit "40 syrischen Frauen" von Mohammed al Attar geben.
Rosa-Luxemburg-Platz
Im Großen Haus am Rosa-Luxemburg-Platz sollen frühe Stücke von Samuel Beckett gezeigt werden. "Sein 'Not I', einen der innovativsten Entwürfe der Theatergeschichte, werden wir als Becketts Originalinszenierung rekonstruieren. Sein langjähriger Assistent und künstlerischer Mitarbeiter, Walter Asmus, lebt hier in Charlottenburg und wird das machen." Susanne Kennedy inszeniert. Sie habe sich für ihre Eröffnungspremiere von John Cassavetes "Opening Night" inspirieren lassen. Im Mittelpunkt stehe eine Schauspielerin, die "durch ein traumatisches Erlebnis die Kontrolle über ihren Alltag verliert".
Mette Ingvartsen, Johan Simons und der dreiundneunzigjährige französische Theaterregisseur Claude Régy sollten nach Berlin "eingeladen", außerdem "neue Ehen" gestiftet und Filmregisseure an die Volksbühne geholt werden, "wie der katalanische Theater- und Filmregisseur Albert Serra". Apichatpong Weerasethakul aus Thailand werde seine Arbeit "Fever Room" auf die Räume der "Volksbühne zuschneiden". Das Theater als vorwiegend maskuline Veranstaltung mit kreischenden Frauen auf der Bühne sei passé, künftig würden viele "Regisseurinnen und Choreografinnen" am Haus arbeiten.
Ensemble und Repertoire
Beim Ensemble wolle man an Frank Castorfs "reformierten Ensemblebegriff", das ist: sein Rumpfensemble, anknüpfen, zu dem die jeweiligen Regisseure sich ein eigenes kleines Ensemble zusammenstellen könnten. Ein Schlüsselbegriff des Programms sei das Repertoire. In Zukunft werde die Volksbühne "Modellinszenierungen, Re-Lektüren legendärer Avantgarde-Stücke der Theater-, Tanz- und Musikgeschichte" zeigen. Man wolle den "Kult um das ständig Neue in der Kunst" beenden.
(Tagesspiegel / jnm)
Mehr dazu:
+ ausführlich fassen wir die Pläne des Teams Dercon hier in der Presseschau zusammen
+ Presseschau vom 20. Dezember 2016 – Die Süddeutsche Zeitung spricht mit Berlins Kultusenator Klaus Lederer über Mindestgagen und Chris Dercon
+ Presseschau vom 14. Dezember – Chris Dercon gibt der dpa ein Interview zur Zukunft der Volksbühne
+ Presseschau vom 10. Dezember – Die Süddeutsche Zeitung porträtiert Chris Dercon
+ Presseschau vom 6. Dezember 2016 – Die Welt berichtet über einen Abend mit Chris Dercon in der Berliner belgischen Botschaft
+ Adventskalender – Was sich Theaterschaffende für das Theater 2017 erhoffen (7)
+ Kommentar – Christian Rakow zum "Berliner Kulturkampf" (Dercon oder doch nicht Dercon?)
+ Meldung: Mobiles Theater für Berliner Volksbühne geplant
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Gebt doch Dercon den Martin-Gropius-Bau?
Im Kern ist das reaktionär: eine selbsternannte Elite schafft das Theater als sozialen Akt ab. Und das an der "volks"Bühne! -
Geradezu lächerlich ist die Rekonstruktion v beckett Inszenierungen mit Walter Asmus. Daneben gibt es Tanztheater v charmatz und seiner Frau und Installationen v Susanne Kennedy.
Ansonsten werden Gastspiele zum Konzept hochgejazzt: ein rilke-Monologs aus Paris, Bochumer Inszenierungen von Johan Simons, ein begnadeter thailändischer Regisseur, den man per Scheckbuch vom weltweiten vermarktungsprozess entfernt hat, um sein werkneinige Male zu zeigen etc.
Dann: der ensemblebegriff - ach nein. Nicht räsonieren- ein unfassbar begriffsloses durcheinander.
Dercon und Piepenbrock bestätigen mit der Kunst nebelbombe alle Klischees, die über sie im Umlauf sind.
Vielleicht ist es künstlerisch gut, wenn sie ihre Ideen durchsetzen und vor die Wand fahren. Dann bleibt restdeutschland dieser Quatsch wenigstens erspart. Ein unfreiwilliger Musterprozess.
"'Not I', einen der innovativsten Entwürfe der Theatergeschichte, werden wir als Becketts Originalinszenierung rekonstruieren."
Nichts, aber auch gar nichts gegen Walter Asmus -- wenn der "Not I" in England oder Irland oder auch hier in Kanada inszeniert, ist das noch immer eine ziemlich radikale Setzung, weil es sich halt die gesamte Theaterästhetik seit Beckett hier im Realismus gemütlich gemacht hat. Aber in Deutschland? Was soll das denn? Und was soll denn da groß zu "rekonstruieren" sein? Das ist ein Mund, der isoliert aus dem Schwarz heraus spricht. Für ne knappe halbe Stunde. Technisch durchaus beeindruckend, aber als zukunftsweisendes Theaterkonzept, naja, etwas limitiert. Und auf deutschen Bühnen halt auch eher eine Museumsnummer.
Und der Rest? Wieso soll das Theater sein Heil denn ausgerechnet bei Filmregisseuren suchen? Und bei sehr, sehr altehrwürdigen Franzosen? Und beim Tanz? Also irgendwie überall nur nicht im Schauspiel- oder Spielertheater, richtig? Toll. Da kann man sich ja auf was freuen.
Den verächtlichen Ton der Volksbühnenarbeit gegenüber könnte ich ja noch nachvollziehen wenn der mit einem radikal anderen und neuen Ansatz verknüpft wäre. Aber ich seh da nichts, was man nicht ständig auch im Barbican oder auf den französischen Festivals vorgesetzt bekäme. Mit anderen Worten, die Art Arbeit, die in deutschen Theatern eigentlich schon vor 10-20 Jahren lief und abgehandelt wurde. Soll die Volksbühne jetzt so was wie die Schaubühne Ost werden, nur mit viel mehr Tanz? International massenkompatibles Festivalstheater? Schade. Dann muss ich nicht mehr nach Berlin fahren, um das interessanteste Theater der Welt zu sehen. Aber wohin dann?
Als Programm, nicht als einmaliges Ereignis.
Deswegen wurde die alte Mannschaft als antiquiert verabschiedet.
Mumifizierung von Theatergeschichte ist das bahnbrechend Neue.
Danke, dass wir das nun endlich lernen dürfen.Die neue Lebendigkeit, die uns Chris Dercon lehrt.
Dafür wickelt Berlin das berühmteste Theater der Welt ab.
Ich finde spannend, was ich da lese, endlich mal ein bisschen inhaltliches Futter, endlich mal Stellungsbezug.
Ja, es ist anders. Ist doch super! Und warum nicht auch mal der Blick zurück auf stilbildende Inszenierugen und ein Focus aufs Handwerkliche, aufs Können? Natürlich ist das jetzt erstmal Programmatik, man muß schauen, was kommt, was umgesetzt wird. Aber der Ansatz klingt gut und wem's nicht gefällt, der hat in Berlin und sonstwo haufenweise Theateralternativen. Bzw. geht in die 'Andere VB', die ja vermutlich demnächst mit 4 Mio. vom Hauptstadtkulturfonds gefördert ihr "Wir wollen unsern alten Kaiser Frank wiederham"-Theater (mitm Bart) aufziehen.
https://www.youtube.com/watch?v=uIYbdyZqTN4
- Wir können nicht.
( Liest.)
- "Wir müssen Beckett einfach nur aufs Neue einen Besuch abstatten."
- Ach ja.
Ich: Was hältst du davon?
Er: Not I. (grinst)
Mir gefällt ja, daß im Interview auch mal mit Zahlen operiert wird: die VB habe 180.000 Besucher gehabt, davon hätten 66.000 Theater gesehen. Aus der SenKultur-Statistik für 2014/15 gehen 143.000 zahlende Besucher hervor, von etwas über 3,1 Mio. für sämtliche Bühnen (inkl. Friedrichstadtpalast mit 470.000 zahlenden Besuchern).
Da wäre natürlich schon spannend zu wissen, wieviel der 66.000 Theatergänger der VB denn aus dem Ausland angereist sind. Und weil ja immer über Internationaliät gesprochen wird mal zum Vergleich (nur ein kurze Internetrecherche, ohne Garantie...): in New York hatten die 40 Broadwaybühnen in der Spielzeit 15/16 13,3 Mio. Besucher, in London die 241 Theater über 22 Mio. Besucher.
Und by the way: die Tate Modern hatte 2014 5,8 Mio. Besucher (Tate Britain 1,4) und 50% davon aus 'overseas'.
Das ist alles so theoretisch und wissenschaftlich verkopft, das es nur so staubt: Modelinszenierungen wie bei Brecht, Beckett-Reenactments wie bei Stein. Susanne Kennedy inszeniert John Cassavetes "Opening Night" und kopiert damit Polleschs Spiel mit Rolle und Repräsentation. Das ist Theater für Theaterwissenschaftler und -studenten. Wenn ich Alexander Kluge haben will, dann höre ich mir seine Gespräche mit Heiner Müller an. Das ist ein theatertheoretischer Diskurs, den man greifen kann.
Dazu gibt's dann noch Filmregisseure, wie auch schon bei Reese am BE. Was man erst bei Castorf kritisiert hat, nämlich das der eh schon länger kein richtiges Ensemble mehr hatte, wird jetzt als fortzuführende Tradition verkauft. Boris Charmatz bespielt den Hangar in Tempelhof wie einst den Treptower Park für die Berliner Festspiele. Im Amphitheater treten syrische Frauen auf und spielen griechische Tragödie. Da frag ich mich ernsthaft wozu. Es ist wie man es vorher gesagt hat. Dercon zückt sein Adressbuch und holt die Namen raus, mit denen er schon seine Turbinenhalle in London gefüllt hat. Die Volksbühne wird zur Tate Modern 2.0. Eine Dockingstation für weltreisende Künstler, ein Netzwerk der Kulturinstitutionen. Wo bleibt da eigentlich das Publikum? Ach so, das wird natürlich auch importiert.
„Wir werden zum Beispiel viel Tanz im Programm haben, weil wir glauben, dass die Biopolitik von Tanz sehr interessant ist.“ Zitat Dercon
Biopolitik ist ja der philosophische Begriff für das politische Ausnutzen der Funktionsweise, oder der Beschaffenheit des menschlichen Körpers (auch der Rasse) in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. So funktionieren kapitalistische Herrschaftssysteme und Konsumgesellschaften. Das ist ein durchaus interessanter aber auch problematischer Begriff. Was meint das eigentlich, wenn ich jetzt Foucaults Thesen auf die künstlerische Ausdrucksform Tanz übertrage? Eine Entpolitisierung des Begriffs? Der Körper reduziert auf seine rein mechanischen Funktionen? Auch damit hat sich ja René Pollesch schon ausgiebig an der Volksbühne beschäftigt, z.B. mit dem Kollektivkörper oder Schwarm. Will Dercon hier den Neoliberalismus zertanzen? Tja, alle Theorie ist grau.
Fertig.
Oder wie ein Freund von mir neulich sagte"You germans can Never take a compliment."
es ist doch nun nicht von der hand zu weisen: die volksbühne hat die theaterwelt in den letzten 25 jahren revolutioniert und für immer geprägt.
dercon und piekenbrock sagen jetzt durch die blume, dass sie genau dieses theater ablehnen. sie installieren eine art anti-volksbühne, sie räumen auf mit dem "performativen", (das in den 90ern das theater aus der krise gerettet hat!), dem "expressiven diskurs", dem "gekreische", mit der politischen haltung (den "Himmelsrichtungen") und wollen restaurativ zurück zu den "well made plays" und dem kunsthandwerk. wo wird denn da bitte die volksbühne "weitergedacht"?
Aber freuen wir uns doch über die Revolutionen aus der Volksbühne, die mehr oder weniger jetzt die Grundlage für alles Theaterhandeln sind. Das nimmt niemand mehr weg, ein bisschen mehr Selbstbewußtsein bitte! Mozart hört sich auch gut an, wenn er seine Stücke nicht selber dirigiert. Und jetzt sollte man sich von der Anbetung der Asche entfernen...
@22 Danke Christian. Wenn der Guardian es kennt (was natürlich nichts damit zu tun hat, dass das Haus von einem wichtigen Londoner Kunstmanager übernommen wird) heißt das natürlich, dass es weltberühmt ist. (Wobei ich auch nicht verstehe, wofür das ein Argument sein soll).
Und lieber Nis-Momme Stockmann: Könnten wir bitte die Benutzung rechter Kampfbegriffe wie "politisch korrekt" unterlassen? Vielen Dank!
Andersherum wird ein Schuh draus: Dort die Axt anlegen, wo der Holzwurm nagt, nicht dort, wo es kraftvoll strahlt!
Die Genannten haben über Ihre Person hinaus jeweils einen Korpus geschaffen, mit dem sie in der Tat künstlerisch ausstrahl(t)en. Weltweit.
By the way: "Auf Lebenszeit" hat niemand gefordert, auch wenn Sie das beinah unterstellen.
Und wenn Sie meinen, der Guardian sei ein Einzelfall, lege ich mal los mit der Liste weiterer internationaler Wahrnehmungen:
- http://www.nytimes.com/2016/07/06/theater/plans-for-volksbuhne-theater-cause-worry-about-berlins-artistic-direction.html
- http://www.lemonde.fr/culture/article/2015/04/27/frank-castorf-le-genial-kamikaze-quittera-la-volksbuhne-en-2017_4623382_3246.html
Noch Fragen?
Nun, Becket ist sicher nicht well made, wie kirillov shreibt. Ihn zum neuen Hausheiligen zu erklären, macht aber für Dercon schon Sinn. Beckett hatte eine große Affinität zur bildenden Kunst. Er hat sogar Texte zur bildenden Kunst geschrieben und war fest in der Pariser Szene der Surrealisten verankert. Nur wo ist der Bezug zur aktuellen zeitgenössischen Kunst? Die scheint Dercon zu durchökonomisiert, wenn ich das richtig verstehe. Aber deshalb zurück zur Abstraktion, zur Sinnverweigerung, zum Ausdruck der Unmöglichkeit von Ausdruck? Sprache nur noch als ästhetische Komponente, nicht mehr als Transporteur von Inhalt zu sehen, das ist ja so neu auch nicht. Dadaismus, Surrealismus, das gab es ja alles schon, und mit Beckett auch am Theater. Nun will Dercon zu den Wurzeln zurück, wie er sagt. Und die verortet er für sich mal eben bei Beckett.
Das Revival des auf einer ganz bestimmten Ästhetik aufbauenden Theaters erleben wir ja gerade mit Susanne Kennedy und Ersan Mondtag. Vegard Vinge und Robert Wilson sind da ebenfalls Referenzen. Castorf steht da natürlich in einer ganz anderen Tradition, die man nicht nur auf Geschrei und Gehüpfe leicht bekleideter Damen reduzieren kann.
Nochmal zurück zum Begriff Biopolitik und Körper. Alle die vorher erwähnten Künstler machen ja ein sehr körperbetontes Theater. Aber ist das nun der Körper mit seinem kreativen und produktiven Potential, oder wird er nur parasitär zur Erzeugung rein ästhetischer Bilder abgeschöpft.
Andererseits bringt man die Bühnenfigur in „Not I“ ganz zum Verschwinden. Man kann die Reduktion natürlich noch weiter vorantreiben bis zum schwarzen Quadrat von Malewitsch. Sind das nun nur retrospektive Versuche für eine neue Bühnenästhetik, oder was soll uns das sagen?
Auch der thailändische Filmemacher Apichatpong Weerasethakul arbeitet ja sehr assoziativ mit transzendenten Traumbildern. Die geplante Videoarbeit war übrigens schon beim Steirischen Herbst zu sehen. Raum, Licht und dreidimensionale Projektionen von Filmbildern. „Projiziertes Bewusstsein“ nennt das das Programm. Das ist in jedem zweiten Museum der Moderne zu sehen. Die Berlin-Biennale z.B. war voll davon. Nur geht da eben kein Theaterbesucher hin. Muss man es dann aber im Theater zeigen?
Bei alldem verschwindet ja eigentlich der Mensch völlig von der Bühne. Wo tritt dann aber das Schauspielensemble auf, von dem Dercon spricht. Man kann nur hoffen, dass zumindest Johan Simons noch ein paar echte Schauspieler braucht.
"Generell interessiert mich Handwerk mehr als die Reaktionsgeschwindigkeit dilettantischer Performativität. Ich bin sehr für das Handwerk." Das ist für mich die Gegenthese zB zu schlingensief.
Heisst dass, Castorf muss Intendant bleiben? Gar nicht. Ich hab überhaupt kein Problem damit, zu sagen, nach 25 Jahren ist mal Zeit für eine neue Leitung.
Zum Thema Berühmtheit -- so ein doofes Thema. Christian Rakow stellt ja die richtige Frage: was ist denn das berühmteste Theater der Welt? Sowas gibt es doch gar nicht. Und mit künstlerischer Qualität hat so ein Standard ja auch nicht sonderlich viel zu tun. Dass die Schaubühne viele internationale Gastspiele hat, heisst ja noch lange nicht, dass das, was produziert wird, das interessanteste Theater deutscher Bühnen ist -- sondern es heisst vermutlich, wie das der englische Theaterwissenschaftler Benjamin Fowler vor ein paar Jahren mit Bezug auf Ostermeiers Hamlet geschrieben hat, dass das Schaubühnen-Theater halt edgy genug ist, um im Ausland als deutsch-avantgardistisch durchzugehen, andererseits aber auch stilistisch und im Spiel der Anglo-Amerikanischen Tradition nahe genug bleibt, um nicht als völlig fremdartig unzugänglich zu bleiben. Eben massenkompatibel.
Aber mal ernsthaft: was sind berühmte Theater? Das Théâtre du Soleil? Bouffes du Nord? Das Old Vic? Das National Theatre? Das Public in New York? Die meisten Leute, die diese Häuser kennen, kennen auch die Volksbühne, und die Schaubühne -- und das BE. Das BE kennen quasi alle meine Studenten hier in Toronto. Die waren da natürlich noch nie, aber sie haben im theaterhistorischen Einführungskurs was über Brecht gelernt, und deswegen kennen sie das berühmte BE. Na und? Theater ist doch, als lebende Kunstform, zunächst und vor allem, lokal und/oder regional. Da internationale Maßstäbe anlegen zu wollen, ist ziemlich dämlich -- sag ich mal so, aus meiner internationalen Perspektive. Da ist Theater eben wirklich anders als bildende Kunst, oder Film, oder Musik: Theater reist nicht so gut, und wenn es gut reist, heisst das nicht, dass das ein eindeutiges Qualitätsmerkmal ist. So wie der Dercon redet, hört sich das schon sehr an, als ob er das nicht versteht -- als ob er meint, dass man (also, er) da einen irgendwie international genormten Standard von "Handwerk" anlegen könnte, und das, was in Deutschland (und v.a. auch an der Volksbühne) erarbeitet worden ist, unter Umständen, die sich kaum mit denen in anderen Ländern vergleichen lassen, aus dem gleichen Blickwinkel betrachten und beurteilen könnte, aus dem ein internationales Festival für ein internationales Publikum zusammengestellt wird. Leider heisst das aber, meiner Ansicht nach, eine künstlerische Entwicklung, die in Deutschland viel weiter und spannender ist als anderswo, auf internationale Niveau runterzuziehen. Der gute Herr Dercon sollte sich vielleicht mal mit Katie Mitchell zusammensetzen. Oder mit Simon Stephens. Oder ein bisschen ins Young Vic in London gehen. Dann bekäme er zu hören, wieviel das Theater anderswo vom deutschen Theater zu lernen hat, und welch eine Vorreiterrolle unserer Bühnenkunst zukommt.
Aber ne. Lieber die 70er Jahre aus dem Schillertheater an die Volksbühne porten. Klingt doch toll.
@14: Wozu due historische Aufbereitung? Gründgens "Faust" kann man sich im Original ansehen. Die DVD ist günstig auszuleihen und zu erwerben.
Berlin ist seit Neuestem von gestern: Wenn Peymann geht und das BE den Betrieb des vielzitierten und noch häufiger verunglimpften "musealen" Theaters einstellt, führt der Kurator Dercon das Museumstheater, das den Namen wirklich verdient, in der Volksbühne fort. Das hätten die Herren Kulturpolitiker einfacher und viel billiger haben können. Aber vielleicht kann man ja gewinnbringend mit einem Touristikkonzern kooperieren, der Studienreisen in die Vergangenheit anbietet.
Vielleicht kommen ja alle wieder Mal auf den Trichter von den Fehlfarben:
"Alles was ich haben kann dass will ich nicht.
Und alles was ich will ,das bekomm ich nicht.
Ich will nicht was ich seh,ich will was ich erträume,
ich bin mir nicht sicher ,ob ich mit dir was versäume"
Meine Familie ist seit 23 Jahren durch,oma & Eltern.
Jetzt kommen meine Kinder zu pollesch und Castorf.
Nennt mich Romantiker,
oder konservativ,
ist mir schnuppe.
Noch so'n internationalen Austauschbasar?
Ich brauche den nicht.
Streitet gefühlvoll ,aber streitet !
Der 20.12.2016 war ein Tag der Medienoffensive von Chris Dercon und seiner Programmleiterin Marietta Piekenbrock. Sicher haben sie damit allzu provokativen Spekulationen den Wind aus den Segeln genommen. Und sie haben durchaus für Klarheit gesorgt. Wer derzeit in die lebendige, fast jeden Abend volle Volksbühne geht, kann es kaum glauben, dass Dercon und Piekenbrock wortreich den Horror vacui vertreiben müssen, weil sie am 24.08.17 “vor einem Haus stehen werden, dass völlig leer ist“. Das sie mit „Metastruktur“ füllen wollen, einem „Superapparat, der alle Formen in sich aufnimmt und transzendiert“. Vor allem wollen sie es mit heimatlosen internationalen Künstlern füllen, die uns lehren sollen, „lustvoll auf Fremdheit zuzugehen“: Die Volksbühne als „Schule des Befremdens“. Da reicht für Ur-Berliner eine Fahrt mit U- oder S-Bahn.
Und dann, um auch dem Wunsch nach Kontinuität gerecht zu werden, soll sogar noch „das Prinzip Castorf“ fortgesetzt werden, mit einem reformierten Ensemblebegriff und einem „radical repertory“. Und trotzdem „alles neu erfinden“? Reduktionismus und Minimalismus a la Beckett statt übervoller Suaden?
Ich denke, die Kontraste sind scharf gestellt. Warum dieser Zwang, die lebendige Volksbühne abzumurksen und feindlich zu übernehmen? Wenn Dercon und Piekenbrock ein völlig leeres Haus haben wollen: Das Schillertheater kann Ihnen fast zur gleichen Zeit besenrein übergeben werden.
Was sagen denn so die Studenten in Toronto, wenn sie in drei Sätzen das Besondere an der deutschen Theatertradition beschreiben sollen? Sagen wir mal, wenn sie einen Workshop organisieren dazu und deshalb dafür knackig werben wollen/müssen?
#F-P-S: Was meinen Sie, müssen wir jetzt Frau Piekenbrock glauben, dass "Repertoire" ursprünglich "Fundstätte" bedeutet? In welcher Sprache? Das Lateinische lässt sich m.E. aufs Verb zurückverfolgen und heißt da wiederfinden, auffinden, finden, ausfindig machen, ermitteln, aber auch: wahrnehmen, erfahren, erlangen, erwerben sowie erfinden und ersinnen, während das Substantiv "repertor" Erfinder, Urheber, Schöpfer bedeutet und durchaus nicht Finder oder Ermittler, Erwerber heißt. Das Französische in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennt hier für "repertoire" Sammlung, Sachregister, Fremdwörterbücher der etwa 70er Jahre (ostdeutsch) bevorzugen bereits die theaterspezifische Auslegung "Gesamtheit der Bühnenwerke im Spielplan", Rollenverzeichnis eines darstellenden Künstlers oder die Gesamtheit der von einem Künstler beherrschten Vortragsstücke - Man kann sich selbstverständlich auf eine Auslegung einigen, mit der man vermitteln möchte, was man genau meint - aber ich finde, man sollte nicht einfach sagen, das hieße unbestreitbar so und so. Welche Art von Repertoire ist also von Marietta Piekenbrock und Chris Dercon gemeint?
Für Chris Dercon hat das Wort "Alleinstellungsmerkmal" einen ganz unguten Beiklang und das kann man nachvollziehen. - Für mich hat das Wort "Biopolitik" einen extrem unguten Beiklang. Es ordnet sich auf einer Beiklang-Unbehangensskala, also methaethisch bedacht, von 1 - 10 auf 10 ein und teilt sich diesen Platz mit "Humankapital", welches zum Beispiel seit Ende der 80er/Anfang 90er Jahre gern im Finanzsektor verwendet wird für "Arbeitnehmer". Die schlechte, nie philosophisch fundiert bemängelte Angewohntheit hat vermutlich mit dazu geführt, dass sich bei Anlegerbetrügereien zwecks Herstellung von Finanzblasen der Begriff auf Klein-Kapital anlegende Menschenmassen ausgeweitet hat...
Ich bin sehr dafür, dass Intellektuelle sich klug ausdrücken. Noch mehr bin ich aber dafür, wenn sie sich so einfach wie möglich ausdrücken. Wenn es nicht auch einfach geht, ist meist irgendetwas faul an ihren Ideen. Ich begrüße es, wenn einem inhaltsleeren "Kult um das ständig Neue", den wir auch der gewinnmaximierenden Entwicklung der Medien verdanken, Einhalt geboten wird. Aber ich denke trotzdem nicht, dass es sinnvoll ist, diesen durch einen neuen Kult um das "ewiggültige Alte" zu ersetzen... Alles hört sich an, als sei der Tempelhofer Hangar das neue "Stammhaus" von Dercon/Piekenbrock und - so sehr sie sich auch auf die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz geruillaartig zubewegen mögen - die Volksbühne sich weigern wird, ihr geistiges Stammhaus zu sein. Ohne jeden offenen Brief, ohne jede Rede, ohne überhaupt ein Banner oder dergleichen weigern. Sie werden den Geist der Volksbühne nicht zu ihnen gehörig herbeireden können. Selbst wenn die Werkstätten das geschätzte geforderte Handwerk abliefern. - Sie haben ein stimmiges Konzept. Auch für die Stadt. Auch für ein u.a. Theatermuseum. Aber nicht für die Volksbühne. Und auch nicht für Theater. Beckett mag sich selbstverständlich für Bildende Kunst interessiert haben, alle Dichter interessieren sich notwendigerweise für Bildende Kunst. Sie werden sonst gar keine. Vor allem aber hat er sich für Sprache interessiert. Für die gesprochene und die geschwiegene. Und beide hat er mit ungeheurer Präzision auf experimentelle Situationen, in denen sich erfundene Dinge befinden, angewandt. Er hat damit experimentiert, Menschen und Dinge situativ gleichzusetzen. Er hatte neben seiner Mehrsprachigkeit viel und eng Gelegenheit gehabt an einem noch größeren Sprachgenie als er selbst war, zu wachsen und sich damit auseinanderzusetzen.
Die Weigerung der alten Mannschaft ist/war die ultimative Reaktion auf Tim Renners Vorgehen, dem Chris Dercon sich brav angeschlossen hat. Tim Renner war der Alleingänger. Sich nicht für seine Zwecke/Pläne entmündigen und einspannen zu lassen, ist die souveräne Entscheidung einer/eines jeden Künstlerin/Künstlers.
Bitte nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Das "leere Haus" ist eine Konsequenz von Renner und Dercon. Sie wussten es. Sie wollten es.
Stichwort "radikaler Neuanfang".
Dass Chris Dercon sich in Tim Renners Vorgehen nutznießend eingeklinkt hat, ist unabweisbar. Das muss man nicht, aber das darf man ihm anlasten. Mitverantwortlich ist er allemal. Der Sieger schreibt die Geschichte.
Piekenbrock und Dercon hätten auch „Faust“ oder „Brecht“ als Programmpunkte aufrufen können, oder gar eine Neuauflage von „Fix und Foxi“ inszeniert von Sylvester Stallone, man wäre immer gleich mit ihnen verfahren. Nichts, aber rein gar nichts kann einen Castorf Fan überzeugen, außer der Meister selber. Das ist das Wesen von echter Gefolgschaft.
Castorf ist aus meiner Sicht eine ganz „arme Seele“. Denn er hat zu wesentlichen Anteilen diese Ausgangslage mit inszeniert. Auch er kann sich keinen Nachfolger für sich selbst vorstellen.
Wer sollte das sein? Außer er selbst?!
Auf Castorf kann nur Castorf folgen. Und ein Ende gibt es nicht.
Und wenn jemand das anders sieht, kann er nur ein kleiner Laufhund der neoliberalen Event-Kultur sein, die man ebenso gut am Friedrichstadtpalast etablieren könne, so Dercon´s Gegner.
Tatsächlich! Ein Stück von einem jungen syrischen Dramatiker, eine Überschreibung der „Iphigenie auf Aulis“ von vierzig Syrerinnen gespielt im Friedrichstadtpalast und eine Beckett-Rekonstruktion im Quatsch Comedy Club im Keller dazu?! Genau der richtige Ort für dieses „Theater Tralala“?! Wie uns die Dercon Gegner seit Wochen klar machen wollen?!
Wohl kaum.
Eine von Übertreibungen getragene Debatte läuft allmählich ihrem Ende zu und macht den Blick frei für das Kommende. Und nun müssten die Kulturjournalisten endlich mal wieder ihren Job machen und nicht nur Glossen schreiben. Da stehen ein paar Interview´s und Portrait´s an mit dem jungen syrischen Dramatiker. Mit einem afrikanischen Architekten, der dem jungen Syrer ein Theater bauen will. Und viele andere mehr, deren Namen und Projekte jetzt bekannt sind.
Ja. Doch. Es wird eine Nachfolge Castorf geben. Und wahrscheinlich in ein paar Jahren eine Nachfolge Dercon. Und das ist gut so.
Entscheidungen dieser Tragweite sollten nicht im Hinterzimmergespräch unter vier Augen getroffen werden. Das intransparente Verfahren hat die Atmosphäre von Anfang an vergiftet. (Gäbe es eine Ausschreibung, wären auch vorher schon Konzepte zu beurteilen gewesen.) Das ist sicher Tim Renners Schuld. Aber auch diejenige von Chris Dercon, dem es nichts ausmachte, auf diese undurchsichtige Weise, einzig auf das Votum eines unerfahrenen Kulturstaatssekretärs, an eine solche Position zu gelangen. So wie es hier gelaufen ist, darf es in Zukunft nicht mehr laufen - nirgends.
@40 Von Sieger oder Besiegtem kann man hier nun wirklich nicht reden
Und wer von Siegern, Besiegten und feindlicher Übernahme spricht, der hat das Jahr 1989 offensichtlich immer noch nicht verkraftet.
Castorfs Vertrag nach einem Vierteljahrhundert nicht zu verlängern, finde ich gar nicht problematisch. Castorf durch jemanden zu ersetzen, der weder in seiner Vita noch in seinen öffentlichen Äußerungen -- je detaillierter desto enttäuschender -- viel vorzuweisen hat, das hoffen liesse, er könne ähnlich wichtige Theaterarbeit leisten oder fördern, wie das seine Vorgänger konnten... das ist ja wohl ein anderes Thema.
Will sagen, man muss nicht Castorf vergöttern um Dercon für unqualifiziert zu halten. OK?
Eigentlich ist bekannt, dass heute alles mit heißer Nadel gestrickt wird und keiner mehr Zeit für Recherche hat. Und dabei ist Googeln so leicht. Zudem ist es mit der Schwarmintelligenz bei Nachtkritik auch nicht weit her. Das Interview mit Chris Dercon und Marietta Piekenbrock in der FAZ vom 20.12.16 trug den Titel „Unser Theater soll eine Schule des Befremdens sein“.
Am 17.03.1989 erschien im Magazin der FAZ der Aufsatz von Peter Sloterdijk „Museum – Schule des Befremdens“, dessen zentraler Begriff die ‚Weltfremdheit‘ ist. „Das philosophische Denken gründe im Staunen, was gleichbedeutend sei mit der Geburt der Subjektivität aus der Weltfremdheit“, so Hans-Jürgen Heinrichs 2007 in Deutschlandfunk und ZEIT. „Die Welt habe etwas Museales angenommen; sie blicke uns, als bekannte, fremd an. Erst ein grundsätzliches und tief erfahrenes Befremden über die Welt, wie und dass sie ist, lässt Subjektivität und Philosophie als Selbst- und Zwiegespräch entstehen. Weltfremdheit, Befremdungsgefühl und Staunen liegen sehr nah beieinander. Das Museum ist ein Ort, wo das ganze Spektrum der Ambivalenzen, Neigungen und Tendenzen sichtbar wird.“
Als Entschuldigung mag gelten, dass Sloterdijk sich mittlerweile selbst vergisst, wie die Diskussion Anfang 2016 zeigte. Auch ist mir nicht bekannt , dass Peter Sloterdijk zum Team von Chris Dercon gehört. Und mit Staunen darf erfüllen, dass das (geklaute ?) Konzept von Chris Dercon älter ist als die Intendanz von Frank Castorf.
Ergänzen möchte ich, dass Museum und Theater nicht gleichzusetzen, dass sie verschieden sind.
Es ist schon blöd, wie sehr sich polemischer Furor in der Erinnerung festsetzt. Eigentlich blieb Sloterdijk intuitiv bei seiner „Schule des Befremdens“, als er im CICERO-Interview sinngemäß sagte, dass wir schon mehr als zufrieden sind, wenn wir uns in angstfreier Gleichgültigkeit zwischen zu vielen Menschen bewegen können, mit denen wir eigentlich nichts gemein haben. Das ist unser Alltagsgefühl in U- und S-Bahn und überhaupt in Berlin, das am 19.12.2016 grausam erschüttert wurde. Ich weiß nicht, wie Armin Nassehi in der ZEIT vom 11.03.2016 darauf kommen konnte, dass dies der „wirklich ärgerlichste Passus des Interviews“ war. Man kann wieder sinngemäß mit Sloderdijk entgegnen, dass uns die Propheten der Lebenslüge auch nicht weiter bringen, da sie mit ihren Voraussagen leider Pech haben werden.
Also wenn Tim Renner vor seiner Entscheidung wusste, dass es da eine massive Ablehnung geben würde (wie #43 andeutet), dann wäre doch spätestens da ein ausführlicheres, breiteres Verfahren angemessen gewesen. Das musste Tim Renner wissen. Das musste Chris Dercon wissen. Mit "Augen zu und durch" "komme, was da wolle". Tatsachen schaffen, bevor es eine Diskussion gibt. (Erinnern wir uns nur an die hastig vorgezogene Nominierungspressekonferenz.) Formale Autorität, statt moralischer. Traurig, arm und rückgratlos.
Stichwort '89: Danke für den Hinweis, #46. Mit Dercons/Renner "radikalem Neuanfang" wird in der Tat die Berliner Stadt- und Kunstgeschichte verarmt. Gedanklich, in Bezug auf Diversität, auf Lokalität. Diese Stadt hat ihre Geschichte (und ihre Zukunft). Den Topos 89 wegzuherrschen ist unwürdig und kann nur jemandem einfallen, der seiner Sache zu sicher ist. Das macht mir Angst, die Selbstherrlichkeit des Herrschenden. Die Herablassung in Ihren Worten spricht Bände. 89 kam eben nicht von oben. Die Volksbühne-Zerschlagung schon.
Rudern sie dann einfach, wie Trump zurück, und sagen dann, es war alles nicht so „wörtlich“ gemeint?!
Woher nehmen sie die Sicherheit, dass ihre Prognose sich bewahrheitet?! Und falls sie wirklich diesen Kompass in sich besitzen! Warum sind sie dann nicht alle schon längst erfolgreiche Intendanten oder Programmdirektorinnen. Mit einem solchen Talent bewiesenermaßen ausgestattet, stehen ihnen überall alle Türen offen.
Nur haben sie keine Beweise. Das ist der Punkt.
Ihre Hybris ist so groß, dass sie es nicht einmal für nötig erachten ihre Prognosen zu unterfüttern. Und deshalb fordere ich sie auf, zeigen sie hier deutlich und detailliert auf, warum die Aufführung von Attar scheitern wird. Warum Kérè ein schlechter Architekt ist. Greifen sie sich jeden einzelnen Programmpunkt heraus und widerlegen sie ihn. Widerlegen sie die Arbeiten von Künstlern, die sie noch gar nicht gesehen haben und erklären sie uns, warum gerade sie, als erklärte Gegner des Neoliberalen, eine Situation für diese Künstler kreieren, in der es aus ihrer Sicht nur heißen kann: Entweder du bist genial, großartig und ein absoluter Publikumserfolg, oder du bist „tot“.
Warum wollen sie den Satz von Castorf: „Entweder in einem Jahr berühmt oder tot.“ noch einmal exekutieren?! Ist das die einzige Arbeitshaltung für ein Theater, die sie akzeptieren können?
Ein wenig unterkomplex diese Arbeitsthese, nicht wahr: Entweder berühmt oder tot! Warum zwängen gerade die „Feinde des Neoliberalen“ die Theater-Kunstproduktion in die schlimmsten neoliberalen Strukturen hinein?! Was gefällt ihnen so sehr an der Situation, die sie gerade schaffen?! Ist es das Einzige, was sie am Theater wirklich noch aufregen kann, extrem zugespitzte Konkurrenz?!
Da hat Herr Dercon dann eventuell recht mit seiner These, dass es eine mangelnde Komplexitätstoleranz gibt. Das sie sich nicht wirklich auf etwas Komplexes einlassen wollen, dass sie nicht nur mit zwei Kategorien bemessen können „Erfolg oder Desaster“. Ist das wirklich ihr begrenztes Urteilsvermögen für Kunstvorgänge?! Anscheinend schon.
Da darf nichts Fremdes kommen. Nichts, was mich befremdet. Nichts, auf das ich nicht sofort Zugriff haben kann. Nichts, das sich mir sofort, schon bevor es überhaupt aufgeführt wird, als Erfolg erschließt. Ist das ihre Schule der Kunstwahrnehmung?!
Dann sind sie vielleicht doch nicht die Richtigen für eine Position als Intendanten, die sie hier so gerne einnehmen und anderen so sehr neiden.
Leider änderte das nichts an dieser unwürdigen Causa als solcher. Großartige Inszenierungen könnten auch andernorts und in anderen Konstellationen entstehen. Ich neide sie keinem Theater der Welt. Sie sind auch bitter nötig. Andernorts teilweise noch mehr als am Rosa-Luxemburg-Platz. An der Castorf-Volksbühne *sind* viele großartige Inszenierungen (entstanden). Das ist ja genau ein Teil ihrer Großartigkeit.
Was halten Sie davon, den Fernsehturm abzureißen? Man könnte sicher ein (vielleicht) neues großartiges Gebäude an diese Stelle stellen. Und warum hat die Synagoge in der Oranienburger eigentlich noch diese bezaubernd kunstfertige Kuppel und nicht eine neue (vielleicht) großartige von Sir Norman Foster? Warum ist ein Daniel Barenboim noch Chef der Staatskapelle (seit 1992! Skandal!!), wenn es einen Dudamel oder Thielemann gibt? Und warum gibt es eigentlich drei Opern in Berlin? Könnte nicht eine von ihnen in ein (vielleicht) großartiges Sprechtheater umgebaut werden? Oder ein reines Tanztheater. Oder ein rein nichtkolonialsprachliches Performancehaus.
Das eine (vielleicht) Großartige zur Verdrängung des anderen Großartigen in Anschlag zu bringen kann nur jemandem einfallen, der die Geschichte und Bedeutung, das Potential und den kulturellen Reichtum dieser Stadt als ungeheure Warenansammlung versteht und nicht als etwas Lokales, Spezifisches, Nichterzwingbares.
Die willentliche und wissentliche Zerschlagung der castorfschen Volkbsühne würde durch großartige dercon-induzierte Inszenierungen nicht richtiger. Und auch nicht weniger problematisch.
Ich bitte das zur Kenntnis zu nehmen, und aufrichtig/grundlegend zu argumentieren anstatt in Ergebenheit der Macht des Faktischen ("ist halt jetzt so, hat der Renner so gesagt") zu wiederholen, dass ja alles(?) (doch noch) gut werden könnte.
Dercon ans Schillertheater, das Humboldt [Leerzeichen; sic!] Forum, das Haus der Berliner Festspiele (das könnte er dann meinethalben auch wieder in "Freie Volksbühne" zurückbenennen, wenn ihm an dem Label liegt), das HAU, die Tempelhof-Hangars, eine temporäre Kunsthalle, die Uferstudios in Moabit, jede Menge reizvoller Brachen undsoweiter.
Mehr Geld für die Kunst, relativ und absolut. Mehr Raum für Koexistenz. Gegen die Zerschlagung der Castorf-Volksbühne.
wenn Sie bis jetzt den Unterschied zwischen einem Fernsehturm und einem Theater nicht begriffen haben, ist Ihnen nicht mehr zu helfen. Gleiches gilt für historische Gebäude, wie die Synagoge.
Theater werden eben anders betrieben als solche Orte. Sie leben vom Wechsel. Und der zertrümmert nichts. Er setzt die Geschichte eines Hauses mit anderen Mitteln fort. Wenn Sie sich also gegen den Wechsel an Theatern grundsätzlich stellen wollen, sind sie einfach nur am falschen Ort.
Dann sollten sie tatsächlich besser Museen besuchen.
Ihr Problem leben sie einfach nur an einem falschen Ort.
1) War es richtig die Intendanz von Frank Castorf zu beenden?
2) Ist Chris Dercon grundsätzlich als Intendant der Volksbühne geeignet?
3) Ist das Programm von Chris Dercon gut, interessant oder doof?
Hier tuen ja ein paar Schlaumeier so, als habe Herr Dercon im kollektiven Zusammenwirken mit Herrn Renner Frank Castorf aus der Volksbühne gejagt. Das ist so lange falsch, bis jemand auch nur ansatzweise nachvollziehbare Nachweise liefert.
Meine Ansicht:
zu1)Jein. Prinzipiell ja. Der unvorbereitete Zeitpunkt nein.
zu2)Nein.
zu3)Wenn nicht für Volksbühne, gut.
Ich bin zum Einen beeindruckt, dass Sie Barenboim und die Opernhäuser außen vor lassen. Ist das so, weil Sie hier Ihr Argument ("Theater werden eben anders betrieben") nicht durchfechten könnten? Falls doch, sind wir gespannt, ob und wie sich diese beiden Beispiele ebenfalls "anders" verhalten.
Zum Anderen bin ich froh, dass auch die beiden indirekten Beispiele verfangen. Ich stimme Ihnen zu: Der Fernsehturm ist kein Theater. (Insofern ist mir glücklicherweise doch noch zu helfen.) Aber er hat eine Bedeutung für die Stadt. Er strahlt aus. In die Stadt und darüber hinaus. All das tut die Castorf-Volksbühne ebenfalls. Das ist aber nicht ihre Hauptgemeinsamkeit, sondern die, dass beide singulär sind. Der Fernsehturm wird regelmäßig saniert. Und zwar DANN, WENN Bedarf besteht. Gleiches gilt für die Kuppel der Synagoge. Und auch die strahlt, golden sogar, herrlich und weithin sichtbar.
Über diese metaphorischen Parallelen hinaus, war mein Argument, dass es nicht Aufgabe der Verantwortlichen ist, eine eminent singuläre kräftige Struktur fahrlässig zu zerlegen. Das gilt freilich auch für ein bespieltes Haus, wie die Castorf-Volksbühne.
Das (soll man sagen: fachmännische?) unverständige Zerlegen der Volksbühne mit einem nachgeschobenen "vielleicht wird alles großartig" zu rechtfertigen ist schlicht daneben. Es ist Platz in dieser Stadt. Man kann einen Dercon holen. Dafür muss man die Volksbühne nicht auflösen. Jedenfalls nicht in diesem Hauruck-Verfahren.
Ob Theater "vom Wechsel leben" kann man lange diskutieren. Ich denke, sie leben von der in ihnen geschaffenen Kunst. Der Wechsel ist mit Sicherheit ein Bestandteil, beileibe aber nicht der einzige. Insofern danke ich Ihnen: Ich bin offenbar am richtigen Ort, denn ich stelle mich *nicht* grundsätzlich gegen den Wechsel an Theatern. Aber der Wechsel darf eben kein Selbstzweck bzw. eine An-Sich-Rechtfertigung sein. Er muss der Kunst zuträglich sein.
Kurzum: Dercon mag als Kurator super (oder gar: großartig) sein. In diesem Schauspiel jedoch hat er sich jedoch bereiterklärt auf den Trümmern der (fraglos) großartigen Castorf-Volksbühne zu arbeiten. Ich hätte mir andere Lösungen gewünscht. Lösungen, die das eine nicht dem anderen opfern!! Diese Stadt sollte ihre Großartigen großartig sein lassen. Lasst die Castorf-Volksbühne arbeiten.
Wie man den Wechsel an einem solchen Haus vollzieht, darüber kann man ja sprechen. Hat Renner aber effektiv nicht gemacht. Dercon sitzt das aus. Auf den Trümmern. Mag sein, dass er großartig ist, aber wieviel Respekt hat er vor der großartigen Castorf-Volksbühne. Wenig wohl. Denn er fügt sich nach wie vor in seine von Ex-Staatssekretär Renner entworfene Rolle.
PS: Ich werde bald noch was zum Interview selbst schreiben. Denn das war ja der Ausgangspunkt dieser Diskussion. Es ist auf jeden Fall gut, dass Dercon sich endlich programmatisch äußert. (Was aber auch bedeutet, dass er seine Rolle weiterhin spielen möchte.)
Wenn Peter Sloterdijk neuer Chefdirigent würde, hätten wir ungefähr eine ähnliche Art von fremdem ganz neuen, einfach frischen Blick auf bestehendes.
Castorf ist kein Wahrzeichen. Eine schlimmere Beleidigung für ihn kann man sich wohl nicht einfallen lassen, denn er ist kein Juhnke.
Seine Singularität bleibt uns am BE erhalten. Nur seine Intendanz endet sinnigerweise.
Alles wird gut. Frohe Weihnachten.