Ausgangspunkt der Reformation?

23. Dezember 2016. "Das, was ich hier am Haus, während der letzten Spielzeit und jetzt bei den Proben zum 'Kirschgarten' erlebe, hat wirklich nichts zu tun mit dem, was in der Presse verhandelt wird", sagt Nicolas Stemann im Interview mit Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung, und sein Regisseurskollege Christopher Rüping pflichtet ihm bei und sagt auf die Frage zum in diesem Zusammenhang vieldiskutierten Unterschied zwischen Schauspieler und Performer: "Die gängige Definition würde wahrscheinlich so ähnlich lauten wie: Ein Schauspieler ist jemand, der sich auf der Bühne verwandelt, und ein Performer ist jemand, der auf der Bühne er selbst bleibt." Ihm scheine diese Unterscheidung allerdings viel zu schematisch, so Rüping "insbesondere an einem Ort wie den Kammerspielen mit seinen Schauspielerpersönlichkeiten". Beides mische sich immer: "Jemand kommt auf die Bühne, ist er selbst und setzt sich ins Verhältnis zu einer Figur, zu einem Text."

"Als bekannt wurde, dass Matthias Lilienthal Intendant an den Kammerspielen wird, ging eine Welle der Erleichterung durch die Theaterwelt: endlich!", sagt Nicolas Stemann außerdem. "Endlich entsteht ein Ort, an dem das Stadttheater weitergedacht werden kann – was Ästhetiken angeht, aber auch strukturell." Das sei "dringend nötig, gerade um dieses System zu erhalten", so Stemann: Man dürfe nicht vergessen, "dass die herkömmlichen Stadttheater nicht unbedingt eine Insel der Glückseligen sind. Das fängt mit der Weisungsgebundenheit der Schauspieler an, die zu einem Gefühl struktureller Entfremdung führt, zu dem Gefühl, ausgebeutet und überfordert zu sein. Und endet mit einer fabrikartigen Produktionsweise, meist noch in Form von fast schon panischer Überproduktion, die den einzelnen Künstlern und ihrer Arbeit nicht gerecht wird."

Natürlich habe das Ensemble- und Repertoire-Theater große Vorteile, "und es gibt Leute, die die künstlerisch notwendige Debatte um eine Reform der Stadttheater missbrauchen wollen, um Dinge auf ungute Art kaputtzusparen", so Stemann weiter. Denen dürfe man das Feld nicht überlassen. "In der Kombination der beiden Systeme liegt die Herausforderung, und die wird in den Kammerspielen erstmals angegangen."

(sd)

 

Mehr zur Debatte um die Münchner Kammerspiele:

– Presseschau vom 13. Dezember 2016 – die taz analysiert die Debatte um die Münchner Kammerspiele und diagnostiziert falsche Fronten

– Presseschau vom 13. Dezember 2016 – Die Neue Zürcher Zeitung spricht mit Matthias Lilienthal über seinen umstrittenen Kurs für die Münchner Kammerspiele

– Welches Theater braucht München? – Bericht von einer Podiumsdiskussion zur Debatte um die Münchner Kammerspiele (21.11.2016)

– Interview mit Matthias Lilienthal vom 12. November 2016 – Die Kammerspiele haben nichts mit dem HAU zu tun

– Presseschau vom 17. November 2016 – Die Debatte um Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele in der Übersicht

 

Kommentare  
Stemann und Rüping: Unterschied zum Zappen?
Warum gibt es denn die panische Überproduktion?? Das meine ich ganz ernst als Frage. Wenn sehr gute Stücke sehr gut produziert werden, dauert es doch einigermaßen lange, ehe die Stadtbevölkerung sie wirklich wahrgenommen hat. Ehe heute der letzte Theatermuffel auf die ein oder andere Art genötigt wurde, sich das im Theater halt auch widerwillig anzusehen, sind schon längst die nächsten halbguten und halbgaren Inszenierunen auf dem Spielplan und bereits wieder durch. Das gibt dem Theatermuffel ja Argumente in die Hand, eben doch nicht ins Theater zu gehen. Das beste Argument wäre: wo ist der Unterschied zum Zappen beim Fernsehen? Ja, wo isser denn dann? Es kommt also nicht unbedingt aufs Repertoire an, sondern auf ein angesammeltes Rpertoire an sehr guten Produktionen von sehr guten Stücken, wenn man mich fragt, was man nicht tut, aber dis macht nichts, ich sags trotzdem- so zwischen Frühstück und Gänsebraten...
Stemann und Rüping: Schutz abschaffen
Sehr erstaunlich! Was meint Stemann eigentlich mit weisungsgebundenheit"? Sie besteht am Stadttheater darin, dass ein dort Beschäftigter für 12 Monate Arbeit zuverlässig bezahlt und auch beschäftigt wird. Dies betrifft rollensufgaben, nach denen er sich sehnt, es betrifft rollensufgaben, nach denen er sich nicht sehnt und darüber hinaus in einem Solidarpakt die Übernahme im Fall von Krankheit, die Verfügbarkeit bei vorstellungsänderungen etc. Die Freiheit des Schauspielers, von der Stemann spricht, ist die des freelancers, der als ich-AG bei vollem unternehmerischen Risiko arbeitet und sich der "Weisungsgebundenheit" des jeweiligen Regisseurs unterwirft, der ihn engagiert oder künftig eben nicht mehr engagiert. Denn hier vermischen sich ökonomische und künstlerische Verhältnisse zugunsten eines feudalsystems, an dessen Spitze der Regisseur steht. Der Schauspieler übergibt sich dem freien Projekt des Regisseurs, und selbst das objektivierende dritte Element, der Text, fehlt zunehmend häufig.
Die Freiheit, von der Stemann träumt, ist seine eigene. Er will - die Politik der Münchner Kammerspiele verteidigend - den Schutz, den der Schauspieler im Stadttheater genießt, abschaffen!
Stemann und Rüping: eigene Interessen
Stimmt. Die Klugheit von Regisseuren endet offenbar bei ihren eigeninteressen. Stemann entlarvt sein Denken. Aber nicht nur er. Matthias Hartmann war 15 Jahre Intendant und macht jetzt solche Vorschläge! Matthias Hartmann hat am Burgtheater in 5 Jahren unfassbare 2,5 Mio Euro verdient und das Theater in den Abgrund geführt. Soll er doch mal - den eigenen Maximen folgen und das Geld zurück zahlen! Anstatt mit solchen Interviews Bewerbungen bei Politikern zu lancieren
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