nachtkritik-Theatertreffen 2017: Das Ergebnis

2. Februar 2017. Sie haben gewählt und wir gehen auf Reisen! 50 herausragende Inszenierungen des vergangenen Jahres, nominiert mit je einer Stimme von den nachtkritik-Autor*innen, standen zur Wahl. Eine Woche lang waren die Wahlurnen für die nachtkritik-Leser*innen zu Abstimmung geöffnet. Bis zu zehn Stimmen konnte jeder Teilnehmende abgeben.

Die zehn Inszenierungen mit den meisten Stimmen bilden zusammen das 10. virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2017 und werden hiermit bejubelt und gepriesen.

Das Haus, an dem die Inszenierung mit den meisten Votes herausgekommen ist, besuchen wir in den kommenden Wochen, um ein öffentliches nachtkritik-Gespräch zu führen. Nachdem die Reise im letzten Jahr nach Osnabrück ging, fahren wir diesmal ins Prinzregenttheater nach Bochum.

Wir gratulieren, bedanken uns bei allen, die mitgemacht haben, und setzen uns mit dem Haus im Ruhrgebiet in Verbindung, um die Realisierbarkeit des Gesprächs zu prüfen.

Insgesamt wurden in diesem Jahr 8363 Stimmen von 4562 Wählern abgegeben, das entspricht durchschnittlich etwas mehr als 1,8 Stimmen pro Wähler. Die Inszenierungen mit der höchsten Stimmenzahl sind:

1. Die Schöne und das Biest von Lucy Kirkwood und Katie Mitchell  (686 Stimmen)
Regie: Romy Schmidt
Prinzregenttheater Bochum, Premiere am 26. November 2016

2. Die Räuber von Friedrich Schiller (429)
Regie: Ulrich Rasche
Residenztheater München, Nachtkritik vom 23. September 2016

3. Die Borderline Prozession von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin (370)
Regie: Kay Voges
Theater Dortmund, Nachtkritik vom 15. April 2016

4. Five easy pieces von Milo Rau (345)
Regie: Milo Rau
Produktion von IIPM– International Institute of Political Murder und Campo Gent, Koproduktion mit Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016, Münchner Kammerspiele, La Bâtie – Festival de Genève, Kaserne Basel, Gessnerallee Zürich, Singapore International Festival of Arts (SIFA), SICK! Festival UK, Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création und Sophiensaele Berlin.  Nachtkritik vom 14. Mai 2016

5. I am afraid of what you do in the name of your god  (313)            
eine Stückentwicklung zu Lessings Ringparabel                                                                                          
Regie: Maria-Elena Hackbarth
Junges Theater Regensburg, Premiere 15. April 2016

6. Jeder gegen Jeden  (279)
Regie: Martin Gruber
aktionstheater ensemble, Koproduktion mit Bregenzer Frühling in Kooperation mit Werk X, Nachtkritik vom 29. April 2016

7. Empire von Milo Rau  (271)
Regie: Milo Rau
Produktion des IIPM – International Institute of Political Murder, in Koproduktion mit dem Zürcher Theater Spektakel, der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin und dem Steirischen Herbst Graz, Nachtkritik vom 1. September 2016

8. Látszatélet / Imitation of Life von Kornél Mundruczó / Proton Theatre  (266)
Regie: Kornél Mundruczó
Eine Produktion des Proton Theatre Budapest, koproduziert von Wiener Festwochen, Theater Oberhausen, La rose des vents – Scène nationale Lille Métropole Villeneuve d’Ascq, Maillon, Théâtre de Strasbourg / Scène européenne, Trafó Kortárs Művészetek Háza, Budapest, HAU Hebbel am Ufer, Berlin, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste, Dresden, Wiesbaden BiennaleKoproduktion Wiener Festwochen mit Theater Oberhausen, Wiener Premiere am 21. Mai 2016

9. Jeder stirbt für sich allein nach Hans Fallada  (229)
Regie: Till Weinheimer
Theater Plauen-Zwickau, Premiere am 16. April 2016 in Plauen

10. Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter von Christoph Marthaler  (220)
Regie: Christoph Marthaler
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, Nachtkritik vom 21. September 2016


Was sagt diese Auswahl?

Gleich mehrere Inszenierungen sogenannter kleiner Bühnen haben es zum virtuellen Theatertreffen geschafft. Offenbar vermögen diese Häuser nicht nur ihr Publikum zur Abstimmung zu bewegen, sie haben auch Inszenierungen mit hohem Identifikationspotential im Programm. Auffallend ist ja, dass Arbeiten wie "Die Schöne und das Biest" vom Prinzregenttheater Bochum oder "Jeder stirbt für sich allein" vom Theater Plauen-Zwickau vor allem dank der Schauspieler*innen geliebt werden, und zwar sowohl von den nachtkritik-Autor*innen, die diese Abende nominiert haben, als auch von den Kommentaror*innen. Mehrfach wurde die Bochumer Inszenierung eines Gegenwartsmärchens von Romy Schmidt in den Kommentaren als "wundervoll" und "berührend" gepriesen: Die theateralte, aber deshalb ja keineswegs überholte Lust, sich durch das Bühnengeschehen beeindrucken, vielleicht auch überrumpeln zu lassen, die Sehnsucht nach anschlussfähigen Geschichten und Figuren ist offenkundig ungebrochen. Nicht wirklich überraschend.

Und es gibt dabei, natürlich, sehr verschiedene Formen von Beeindruckungsästhetik. Als "elektrisierend, kirremachend und reinigend. Kurz: Groß!", hat Nachtkritikerin Sabine Leucht den Münchner "Räuber"-Abend von Ulrich Rasche beschrieben. Als ausgesprochen nah an den verwickelten, typisch zeitgenössischen Konflikten zwischen Ethik und Politik, Ästhetik und moralischem Anspruch wurden vielfach die beiden Milo-Rau-Abend "Empire" und "Five Easy Pieces" gelobt. Überhaupt finden gerade auch Abende Zustimmung, die sich den großen gegenwärtigen Fragen stellen, etwa nach den Geisteszuständen der Bewohner des digitalen Zeitalters wie in Kay Voges’ Dortmunder Inszenierung "Die Borderline Prozession" oder auch zu Fragen der Toleranz und Religion wie in der Regensburger Stückentwicklung "I am afraid of what you do in the name of your god".

Das Verlangen nach einem Theater als öffentlichen Ort der Selbstverständigung hat sich genauso wenig überholt. Auch nicht überraschend. Aber womöglich ist das ein leiser Hinweis darauf, dass Debatten wie jene über das Für und Wider von Performance- und Schauspielertheater für den Fach-Diskurs relevant sein mögen, das breitere Publikum jedoch nicht weiter beschäftigen? Auffallend ist in diesem Zusammenhang ja zudem, dass gut die Hälfte der ausgewählten Inszenierungen von nachtkritik.de nicht besprochen wurde.

Anders als das analoge Theatertreffen in Berlin muss das virtuelle jedenfalls keine Rücksichten nehmen, weder auf die berüchtige Miesepetrigkeit des Berliner Publikums noch auf ästhetische Moden oder Diskurswasserstände und die Vergleichbarkeit der gewählten Abende untereinander. Dieses Tableau verdeutlicht schlicht einmal mehr die große Vielfalt und Verschiedenheit des gegenwärtigen Theaterschaffens. Ein Publikum, dem die zehn Inszenierungen des nachtkritik-Theatertreffens gleichermaßen zusprächen, würde sich wohl nicht finden.

(dip)

 

Hier die Nominierungen, aus denen in diesem Jahr gewählt werden konnte, inklusive Nominierungsbegründungen.

Mehr zu den Gewinnern der letzten Jahre: Ergebnis 2016, Ergebnis 2015, Ergebnis 2014, Ergebnis 2013, Ergebnis 2012, Ergebnis 2011, Ergebnis 2010 und Ergebnis 2009.