Am Ende nur das fürchterliche Leben

von Esther Slevogt

Berlin, 10. Februar 2017. Am Ende sank Claus Peymann vor seinem Publikum auf die Knie. Seine Inszenierung von Kleists letztem Drama "Prinz Friedrich von Homburg" hatte ein überraschend fatalistisches Ende gefunden: Als schon alle Zeichen auf Rettung des Prinzen von Homburg standen, beschwingte Musik eingesetzt und alle Beteiligten fast heiter noch einmal die in kaltes, gespenstisches Licht getauchte Bühne betreten hatten, quoll plötzlich Blut aus dem Mund der zusammensackenden Prinzessin von Oranien. Dann hing auch der Prinz selber wie eine jämmerliche Stoffpuppe tot oben auf dem Seil, über das er gerade noch mit verbundenen Augen seiner Rettung entgegen balanciert war. Auch die anderen Figuren schienen am Ende wie vom Optimismus der Cat-Stevens-Hymne If you want to sing out dahingemäht – als wollte uns der Abend, der zuvor keine Spur vom Weg des Textes in Richtung Deutung abgewichen war, nun doch noch einmal sagen: Es gibt nichts zu lachen und zu hoffen. Und was wir zu träumen glauben, ist am Ende nur das fürchterliche Leben.

Drama des Menschen

Und so kniete Peymann nun bei seinem letzten Premierenapplaus als Intendant des Berliner Ensembles vor seinem Publikum und seinen Schauspielern und erwies ihnen seine Reverenz – wie zuvor schon sein Prinz von Homburg der Staatsraison: indem er doch in das Todesurteil einwilligte, dass der Kurfürst über ihn verhängt hatte. Und das fast eine Staatskrise provoziert hätte, eine Rebellion. Beim Aufstehen wischt sich Peymann ein paar Tränen aus den Augen. Großer Applaus und großes Drama zum Abschied also, für den Peymann Kleists letztes Drama ausgewählt hat. Dessen verrätselte Geschichte zwischen Traum und Tod er noch einmal abschritt und fast zärtlich herunterbrach auf das Drama des Menschen und dessen irgendwie unübersichtlichen wie sinnlosen Hang nach Höherem. Während ihm dabei der Blick fürs Wesentliche abhanden kommt: der Blick für das kostbare und zerbrechliche Leben.

Homburg1 560 MonikaRitterhaus uDer Rettung entgegen balancieren, Sabin Tambrea als Prinz von Homburg  © Monika Ritterhaus

Und so ist einer der Höhepunkte des Abends dann auch die berühmte Szene, in der der Prinz von Homburg voller Todesangst vor der Gattin seines Kriegsherrn, des Kurfürsten von Brandenburg, zu Boden sinkt: die Stimme wird schrill, er wälzt und windet sich. Er verzichtet auf Glück, auf die Liebe und Ruhm, das alles interessiert ihn nicht mehr. Nur am Leben bleiben dürfen! Die Kurfürstin (von wuchtiger Bodenständigkeit: Swetlana Schönfeld) ist fast peinlich berührt. Schließlich ist der schöne Mensch (Sabin Tambrea), der sich da nun winselnd vor ihr windet, Prinz, Soldat, Heeresführer. Er hat eine Schlacht gewonnen. Auch wenn er wegen Ungehorsam nun zum Tode verurteilt wurde. Aber wie das hier nun auf Achim Freyers düsterer Bühnenschräge und in fahles diffuses Licht getaucht in Szene gesetzt ist, wie Tambrea mit Hingabe den schönen ätherischen Helden demontiert, der er bisher war, schrumpft plötzlich die ganze Welt aufs Maß des nackten (Über)lebens: Lebensträume von Macht, Liebe, Ruhm oder Theaterintendanzen – wonach man im Leben eben so strebt. Danach folgt man dem Fortgang der Geschichte einigermaßen atemlos.

Nach dem Knattern: schnörkellose Präzision

Der Triumph war nicht von Anfang an abzusehen. Denn in der ersten Hälfte schleppt sich das Drama recht unentschlossen und mit viel Theaterdonner und Mimengeknatter dahin. Doch dann erzählen Peymann und sein großartiges Ensemble Kleists berühmte Geschichte mit schnörkelloser Präzision. Kleists Stück stellt das Recht des Einzelnen gegen seine Unterordnung unter eine höhere (Staats)idee und verwickelt Protagonisten und Zuschauer in die Unauflöslichkeit der Widersprüche dieses Konflikts.

Peymann lässt die Geschichte rund um den märchenhaft schwebenden Protagonisten von bodenständig gedachten Normalos durchexerzieren. Da ist die knarzige Carmen-Maja Antoni als rechtschaffender Obrist Kottwitz, Veit Schubert als einfältiger Feldmarschall Dörfling oder Matthias Mosbach, der als schwärmerischer Homburg-Gefährte Hohenzollern durch den Abend irrlichtert. Roman Kaminskis Kurfürst ist ein donnernder Machtmensch mit Herz und Antonia Bill als Natalie eine recht handfeste Prinzessin von Oranien. Keine subtilen Helden, lauter unscheinbare Leute wie du und ich, die über die Bühne des BE stolpern wie unsereins durchs Leben. Dazwischen ragt Sabin Tambrea fast unwirklich heraus, der die Titelfigur mit der ihm eigenen Mischung aus Kälte und Zerbrechlichkeit ausgestattet hat und den Abend besonders in der zweiten Hälfte finster funkeln lässt.

 

Prinz Friedrich von Homburg
von Heinrich von Kleist
Inszenierung: Claus Peymann, Bühne und Kostüme: Achim Freyer, Dramaturgie: Jutta Ferbers, Sarah Thielen.
Mit: Roman Kaminski, Swetlana Schönfeld, Antonia Bill, Veit Schubert, Sabin Tambrea, Carmen-Maja Antoni, Fabian Stromberger, Carl Bruchhäuser, Matthias Mosbach, Boris Jacoby, Luca Schaub, Anatol Käbisch.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause.

www.berliner-ensemble.de

 

Hier noch mal dokumentiert: der Abschiedskniefall des Claus Peymann am BE © chr

 

Kritikenrundschau

"Dass Claus Pey­mann zum En­de sei­ner Amts­zeit den Prin­zen von Hom­burg in­sze­niert, wirkt wie ei­ne Ein­la­dung, sei­ne Ar­beit an den Sät­zen des Prin­zen zu mes­sen. Wie weit hat den Prin­zen Claus sei­ne ei­ge­ne Rei­se ge­bracht?", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (16.2.2017). Seine Wir­kung als Künst­ler, als in uto­pi­sche Ge­fil­de vor­an­stür­men­de Ra­di­kal­fi­gur ist ge­rin­ger ge­wor­den. Von der Alarm- und Fest­tags­stim­mung, mit der noch in Wien je­de Pey­mann-Pre­mie­re er­war­tet wor­den war, sei in sei­nen Ber­li­ner Jah­ren nicht mehr viel zu spü­ren ge­we­sen. Aber Pey­mann lassen sich Ent­täu­schun­gen nie an­mer­ken. "Dar­in, so könn­te man sa­gen, folgt er dem Prin­zen von Hom­burg." Der sich in der Inszenierung zwi­schen Ei­gen­sinn und Ge­hor­sam, Mut und Un­ter­wür­fig­keit, Lie­be und Ei­gen­lie­be be­fin­de. Um ihn wim­melt ein En­sem­ble grund­ver­nünf­ti­ger Men­schen. "Je­doch: Et­was Tie­fe­res er­kennt und spürt we­der der Fürst noch sein Dar­stel­ler. Den Schre­cken ei­ner Ge­sell­schaft, wel­che nur im Krieg bei sich ist, kann die­ses En­sem­ble nicht zei­gen." Claus Pey­mann hat nicht mehr die groß­ar­ti­gen Schau­spie­ler, die ihm frü­her, in Stutt­gart, Bo­chum, Wien, zur Ver­fü­gung stan­den, sie ka­men ihm auf sei­ner lan­gen Rei­se ab­han­den."

Claus Peymann geht, "und er tut es so, wie man es von ihm erwarten konnte", schreibt Christine Wahl in der Neuen Zürcher Zeitung (14.2.2017). Die spektakuläre Konzentration des Anfangs lasse "leider schnell nach: Fortan wird viel deklamiert, ein bisschen grimassiert und auch mal erdenschwer chargiert, wie man es aus den Berliner Peymann-Jahren gewohnt ist".

Einen Abend, der wie sein Finale mit Cat Stevens' Popsong von "überwältigender Harmlosigkeit" geprägt sei, hat Lothar Müller von der Süddeutschen Zeitung (13.2.2017) erlebt. "Es wäre dem scheidenden Prinzipal zu wünschen, dass es ihm nun gelänge, die Abgründe auszumessen, die Kleists Schauspiel enthält, die Widersprüche sichtbar zu machen, von denen es vorangetrieben wird, und die Bedeutung, die das Stück für die Gegenwart haben könnte", schreibt der Kritiker mit Blick auf den Anfang der Inszenierung. "Aber das geschieht nicht." Die "geringe Spannungsdichte" der Inszenierung resultiere daraus, dass Peymann an der "politischen, aus Kleists Reaktion auf die napoleonischen Kriege hervorgegangenen Dimension des Stückes kaum Interesse zeigt".

"Er will vermisst werden, und er wird vermisst werden, das Verklären und Vergessen der mitunter sensationell schlechten Peymann-Inszenierungen hat jetzt schon angefangen", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (13.2.2017). Den Kleist'schen "Prinz von Homburg" hält der Kritiker für eine ausgesprochene Wahl für eine Abschiedsinszenierung, denn das "Denk-Stück" stecke voller "papiernen Figuren, voller dramaturgischer Hänger, die von der Literaturwissenschaft tapfer als Rätsel schöngeredet werden. Bei Peymann sieht man, dass sie es nicht sind." Die Inszenierung sei insbesondere in der Titelfigur von einer "programmatischen Konturlosigkeit" geprägt, es werde "immerfort mit Papier geraschelt, viel umständlich auf- und abgetreten". Das Beste an dieser Inszenierung sei, "was sie nicht hat: keine Nazi-Mäntel, keine Deutschtümelei, kaum Geschrei".

"In der Demut liegt die wahre Größe." Diese Botschaft hat Eckhard Fuhr von der Welt (13.2.2017) aus diesem Peymann-Abschied un dem Kniefall des Intendanten beim Schlussapplaus mitgenommen. Auch die Inszenierung sei von Demut geprägt, denn Peymann habe nichts anderes getan, als "genau in den Text Kleists hineinzuhören und dieses grandiose Sprachkunstwerk zum Klingen zu bringen. Das bewahrt ihn davor, die im Stück verhandelten und alle Beteiligten überfordernden Konflikte zwischen der Liebe und dem Gesetz des Krieges, zwischen Heldentum und Gehorsam, zwischen der Staatsräson und der Willkür der Gnade herunterzubrechen auf den Gegensatz zwischen Menschlichkeit und Hacken schlagender Kriegswut."

Claus Peymann habe sich für eine "konservative Deutung des Stücks" entschieden, berichtet Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.2.2017). Durch "das ostentativ arglose, geradezu aufreizend unbedeutende Spiel von Sabin Tambrea als Homburg" verschiebe sich das Gewicht dieser Inszenierung auf den Kurfürsten und dessen "ruhige, bedächtige Wesensart". Roman Kaminski spiele den Kurfürsten "als klugen Haudegen, dessen Starrsinn auf Überzeugungen, nicht auf Phantasmagorien beruht". Das bedeutet: "Claus Peymann interessiert sich nicht mehr so sehr für die Verzweiflung der Jugend, sondern vor allem für die Gefasstheit des Alters."

Die Latte lag "sportiv gesagt, krass hoch vor Peymanns drittem Anlauf mit Kleist", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (12.2.2017). "Und immerhin fängt der Abend jetzt im BE ganz zauberhaft an." Zwischen dem starken Anfang und diesem Ende klaffen leider manche Löcher. "In der durchaus plausibel eingestrichenen, damit freilich auch allen Kleist’schen Überschwangs beraubten BE-Fassung gerät dieser 'Homburg' selten in die abgründige Schwebe zwischen Gefühls- und Vernunftdrama." Fazit: "Im Ganzen zu bieder, zu konventionell, es fehlt über weite Strecken die poetische Emphase und der Inszenierung eine Idee."

Peymann verabschiede sich als Chef des Berliner Ensembles mit einer kämpferisch antimilitaristischen Inszenierung, schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (11.2.2017). Den Regisseur interessiere nicht Homburgs Läuterung, "in keiner Sekunde ist sein Prinz bereit, für den Erhalt der Ordnung zu sterben", sondern sei "ein reiner, zur Kampfmaschine dressierter Tor. Ganz bei sich im Moment der maximalen Todesfurcht." Am Ende ist der Schlussapplaus-Kniefall des alten Claus Peymann der dramatische Höhepunkt dieses Theaterabends. "Der Theaterkönig schlägt die Hände vors Gesicht - und mimt einen König Lear, der in maßlosem Schmerz der Welt Adieu sagt. Dann reißt er die Arme in die Luft, winkt ausgelassen und zeigt: War alles nur Spaß, ich komme wieder. Tatsächlich will Peymann als Regisseur weitermachen: In Stuttgart, so hat er angekündigt, inszeniert er im nächsten Jahr kein anderes Stück als 'König Lear'."

"Dass hier tatsächlich eine Schlacht um Befehle und deren Verweigerung, um großes Gefühl versus kleingläubige Prinzipienreiterei geschlagen wird, ist kaum zu spüren. Ein Kleist light zum Ende einer Ära." So berichtet Ute Büsing im Inforadio des rbb (11.2.2017).

Peymann "zeigt seinen Kritikern, dass er sich auf den letzten Metern ganz gewiss nicht mehr verbiegen wird", so André Mumot in dradio Fazit Kultur vom Tage (10.2.2017). Er nehme den Klassiker rigoros beim Wort, "lässt das sperrige Militär- und Gewissensdrama vom Blatt spielen, vertraut ganz auf den Text und wird ihm, leider, nie gerecht". Sabin Tambrea gebe einen schwer neurotischen Prinzen. "Es wird viel geredet, auch geweint und gelacht, aber nur die wenigsten Emotionen schaffen es über die Rampe, von den Gedanken ganz zu schweigen." Trotzdem oder gerade deswegen sei es ein berührender Abschied und ein bemerkenswerter Abend: "Es ist Peymanns Liebeserklärung an seine Idealvorstellung von Theater, und immer wieder hat man im Zuschauerraum das Gefühl, dass all das vermurmelte Hin- und Hergerenne zwischen Schlachtfeldern und Kurfürstengemächern gar nicht fürs Publikum stattfindet, sondern für den Regisseur selbst."

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