Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war - Wolfgang Behrens über unwahrscheinliche Gründe, Kunst zu machen
Die große Verarsche
von Wolfgang Behrens
14. März 2017. Langsam, da die Macht des Faktischen obsiegt, beruhigen sich die Gemüter wieder – der Streit, der sich um die Neubesetzung der Intendanz an der Berliner Volksbühne entsponnen hat, tritt nun in seine präfinale Phase. Und vielleicht ist das ein guter Moment, um noch einmal eine Gruppe in den Blick zu nehmen, die während dieses epischen Kampfes komplett in Vergessenheit geraten ist. Denn es gibt ja nicht nur diejenigen, die auch fürderhin in der Volksbühne mit Frank Castorf ihrer provinziellen Anarcho-Sentimentalität frönen wollen, und diejenigen, die meinen, dass Castorfs Zeit jetzt einfach mal vorbei sei. Es gibt auch noch die, die glauben, dass Castorfs Zeit eigentlich nie hätte sein dürfen.
"Sie müssen das schreiben!"
Man möge bitte nicht denken, dass es sich hier um eine kleine Gruppe handelt. Wer sich – wie ich – auch schon einmal in Kreisen bewegt, die sich zum Beispiel freiwillig eine Brahms-Sinfonie antun, der kann dort seit nunmehr fast 25 Jahren in Variationen Sätze wie diese hören: "In die Volksbühne kann man ja nicht mehr gehen!" Warum nicht? "Weil man da verarscht wird." Inwiefern? "Weil da nur mit Kartoffelsalat auf der Bühne rumgematscht wird." Äh, ja, ach so ...
Insofern war es vor vier Jahren schon eine krasse Ansage, Frank Castorf gezielt in die Trutzburg ebenjener kulturkonservativen Kreise einzuschleusen – ins Bayreuther Festspielhaus. Ich erinnere mich, dass ich am späten Abend, bevor ich mich an meine Kritik zu Castorfs "Götterdämmerung" setzte, im Hotel von einem erzürnten Premierengast lange bearbeitet wurde: "Sie müssen schreiben, dass Castorf das Publikum verarscht hat. Sie müssen das schreiben. Sie sind sogar dazu verpflichtet, denn Sie müssen den Leuten da draußen die Wahrheit sagen."
Als ich auf mein Zimmer ging, überlegte ich, ob der Mann Recht hatte. Ich stellte mir vor, wie sich Castorf im Vorfeld der Inszenierung mit seinem Team trifft und gleich zu Beginn die Frage aufwirft: "Also, Leute, wie können wir diese Wagnerianer-Blödmänner hier maximal verarschen?" (Notabene: Der politisch inkorrekte Castorf spricht nicht von Blödfrauen!) "Ich hab's", ruft einer, "bei Siegfried und Brünnhilde bringen wir – hahaha! – ein Krokodil auf die Bühne. Ha – haha! Das ist sooo absolut sinnfrei! Haha!" "Jenau", schreit Castorf, "und dann geben wir's diesen Mäusehirnen im Publikum so richtig, und Erda bläst Wotan einen, okay?" Johlen! "Und wisst ihr, was das Beste ist", jubelt der Dramaturg. "Es wird Kritiker geben, die noch nicht einmal merken, dass sie verarscht werden. DIE FINDEN DAS NOCH GUT! HAHAHA!" Das gesamte Team wälzt sich feixend am Boden.
Als Dagmar Berghoff erschrak
Ich bin, als ich damals auf mein Zimmer ging, zu dem Schluss gekommen, dass ich es für psychologisch äußerst unwahrscheinlich halte, auf diese Art und Weise Kunst zu betreiben. Es wollte mir einfach nicht einleuchten, weshalb jemand solch einen Riesenaufwand betreiben sollte, nur um das Publikum zu verarschen – das kann man auch einfacher haben. Weswegen ich der festen Überzeugung bin, dass jene gar nicht kleine Gruppe, die glaubt, Castorf verarsche uns an der Volksbühne seit 25 Jahren, schlicht auf dem Holzweg ist.
Obwohl! Als ich noch ein Fernsehzuschauer war – also etwa zur Zeit der Punischen Kriege – sah ich manchmal die Sendung "Verstehen Sie Spaß?" mit Kurt Felix. Für den mit Abstand dämlichsten Sketch, der dort je produziert wurde, hatte man sich die Nachrichtensprecherin Dagmar Berghoff als Opfer gewählt. Ein Glaskünstler, der sie offenbar sehr verehrte, war auf die glorreiche Idee gekommen, eine große Glaskunst-Ausstellung aufzubauen, die Dagmar Berghoff als Schirmherrin eröffnen sollte. Während ihrer kleinen Rede fielen nun plötzlich durch einen Schubser des Glaskünstlers sämtliche Glaskunstobjekte dominosteinartig um und zerbrachen (einen Mini-Ausschnitt aus dem Sketch habe ich hier gefunden). Der Effekt war recht voraussehbar: Dagmar Berghoff erschrak! Dieser kurze Moment des Erschreckens war es dem Glaskünstler wert gewesen, eine erkleckliche Kunstsimulation zu inszenieren. Und dann kam Kurt Felix um die Ecke und sagte: "Hahaha, verstehen Sie Spaß?"
Und jetzt frage ich Sie: Wäre es nicht toll, wenn am letzten Tag der Castorf'schen Volksbühne plötzlich Kurt Felix auf die Bühne träte, nein – Guido Cantz wäre das mittlerweile –, um auszurufen: "Haha, das war nur ein Scherz. Die letzten 25 Jahre waren eine Verarschung. Frank Castorf war nur der Lockvogel, versteht ihr? Na klar, ihr versteht doch Spaß!" Einen kurzen Moment lang würde das ganze Publikum vor Schreck erstarren. Frank Castorf würde zufrieden lächeln, denn auf diesen Moment hätte er ein Vierteljahrhundert hingearbeitet. Und ein paar Brahms-Sinfonie-Hörer würden befriedigt nicken: "Wir haben es immer gewusst!"
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.
Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens in seiner Kolumne über Kritikernullformeln.
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Vielleicht aber ist es ja auch so, daß er ein großer Künstler ist, der nur nicht immer große Kunst macht, und dann, wenn es ihm nicht gelingt, nach dem Motto 'if you can't make it, fake it' agiert. Eine andere Option wäre, daß er uns (sein Publikum) zwar verarscht, das aber unwissentlich tut, weil er es gar nicht anders weiß? Daß er einfach macht, was er für Kunst hält, was aber bei näherer Betrachtung Verarsche ist?
Aus der Perspektive eines Brahms-Sinfonie-Hörers, der vermutlich unterschreiben würde, daß Kunst Beschränkung braucht, der das Schöne im Subtilen sucht (ich verallgemeinere völlig, just for the argument's sake), liegt angesichts der Maßlosigkeit, des Wirren, die Frage 'ist das Kunst oder kann das weg' auf der Hand.
Mir gefällt übrigens Ihre Figur des Künstlers, der aus Versehen und aus künstlerischem Unwissen heraus sein Publikum verarscht, außerordentlich gut. Man sollte unbedingt E.T.A. Hoffmann beauftragen, eine Novellenzyklus über einen solchen Künstler zu schreiben: "Lebensansichten des Katers Castorf".
bauen sie sich doch einmal zu Hause ihr eigenes kleines Castorf Bastelset und schauen sie ein wenig hinter die Kulissen einer Machart, einer Masche, die nicht schwer zu durchschauen ist. Sie greifen drei, vier Bücher aus ihrem Regal, die entfernt miteinander in Zusammenhang stehen, dekontextualisieren ihre wesentlichen Teile, indem sie Versatzstücke untereinander verbinden. Achten sie darauf, dass die Schnittstellen der verschiedenen Teile theoretisch erklärbar sind. Wählen sie die Bücher aus den Bereichen Bühnenliteratur, politisches Essay, Roman. Wichtig ist, dass mindestens eines der Bücher Kultstatus hat und ein traditioneller Publikumsmagnet ist. Nun suchen sie sich in ihrer Wohnung leere kleine Pappschachteln zusammen und ordnen die verschiedenen Versatzstücke einzelnen Schachteln zu. Stapeln sie die Schachteln auf einander zu einer Art Gebäude. Bekleben sie die Schachteln außen mit Bildmaterial aus den Themenkreisen, die sie wählten. Nun setzen sie dies Gebäude in Gedanken auf eine Drehbühne. Installieren sie in jedem Karton eine Kamera und jagen in ihrer Vorstellung die verschiedenen Figuren und Themenblöcke durch die einzelnen Räume. Fangen sie an die Räume untereinander zu mischen. So entstehen Assoziationsräume, die sie mehrfach deuten können. Achten sie darauf, dass ihre Kameras ihre Darsteller beobachten und diese Aufnahmen gut sichtbar auf Leinwände, die sie ebenfalls außen an den Pappschachteln anbringen, projizieren. Denken sie jetzt darüber nach, welche Gesangs- und Tanznummern ihre Darstellen noch erlernen könnten oder aber schon beherrschen. Bauen sie diese Nummern an den verschiedenen Schnittstellen so ein, dass sie dramaturgisch im weitesten Sinne erklärbar sind. Für die Nummern ist es von Vorteil, wenn ihre Darsteller die (Video) Räume verlassen dürfen und an der Rampe agieren. Nun spielen sie wild mit ihren Versatzstücken herum. Eine gute Flasche Wein oder aber auch andere Drogen können hierbei hilfreich sein. Bringen sie ihre Versatzstücke in eine möglichst wilde Reihenfolge und setzen sie all das später auf die Volksbühne um. Sie dürfen nun davon ausgehen, dass sie gegenüber dem Publikum einen gewissen Vorsprung haben, auch Wissensvorsprung genannt, denn niemand kann erahnen, was sie sich da wie zusammengesetzt haben, aber alle gehen davon aus, dass sie eventuell etwas mit Faust oder Hamlet zu sehen bekommen. Dieser Wissensvorsprung sichert ihnen eine gewisse Position innerhalb des Kommunikationsmodell, die man als temporär überlegen beschreiben könnte. Nun können sie sich also gelassen über ihr Publikum erheben. Lehnen sie sich zurück und genießen sie ihre Überlegenheit. Aber achten sie darauf, dass sie nach einigen Jahren nicht anfangen ihr Publikum zu verachten, weil es so scheinbar hilflos in ihren Baukästen herum geistert. Wichtig ist dabei, dass sie die Dinge so arg verrätseln, dass auch kein Kritiker sie schon während der Premiere entschlüsseln kann. Wir wünschen ihnen viel Spaß mit ihrem neuen Volksbühnen-Bastelset.
Eine Botschaft - auch eine ästhetische bewertbare - besteht immer aus ihrer Botschaft im Sinne von Informationsgehalt und der Form, in der dieser abgefasst wurde UND der Art und Weise, wie sie überbracht wird. Gleichzeitig.
Das hört sich kompliziert an, ist aber kommunikationstheoretisch relativ einfach zu beschreiben. Und funktioniert außerhalb von Kunst praktisch auch ohne jede (Vor)Überlegung beinahe automatisch so. Bei allen Lebewesen. Den Pflanzen, den Menschen und auch den anderen Tieren. Vermutlich sogar bei den Steinen! - Die ganze Biologie funktioniert so, gewiss auch die Chemie...
Das hat sich dann wieder geändert, weil ich das Gefühl hatte, dass sich dort nichts ändert. Dass immer dieselben Rezepte runtergenudelt werden und sich wirklich nur noch Nostalgiker dort versammeln. Klar, als Kind ist es toll, in jede sich bietende Pfütze zu hüpfen! Und klar, viele Menschen haben Sehnsucht nach dieser Zeit. Aber in den alternden Gesichtern an der Volksbühne sah ich irgendwann nicht mehr diese kindliche Freude, sondern Gewohnheit und Masche. (Aber immer wieder auch das sympathische Augenzwinkern dabei.)
Also: "Verarschung" würde ich das nicht nennen. Eher anfängliche Infantilität und spätere Müdigkeit. "Verstehen Sie Spaß?" ist eine gute Frage. Wie viele Jahrzehnte ist man gewillt über die selben Witze und Matsch- oder "Spaghetti"-Sauerein zu lachen? Die Sendung "Verstehen Sie Spaß?" gibt es seit 1980. Mit den immergleichen Witzen und Rezepten im Fernsehen verglichen ist die Castorf-Ära eigentlich noch ziemlich kurz ... man müsste sie weitere 25 Jahre durchziehen, damit Castorf irgendwann in einem (röchelnden) Atemzug mit Peymann, Wagner und Brahms genannt werden wird.