Jamben für die Denunziantin

von Christoph Fellmann

Basel, 23. März 2017. Der Beton, in den diese Geschichte eingelassen ist, zeigt eine Haft-, aber auch eine Pflegeanstalt. Es gibt vier kleine Zellen mit Wandtelefonen, eine Art von Rezeption und durchaus auch eine Fensterfront, die allerdings durch einen schweren, ebenfalls grauen Vorhang abgedeckt ist, der aussieht, als müsse er nicht Blicke, sondern Röntgenstrahlen abfangen. Im Grunde aber, so erfahren wir bald, befinden wir uns mit diesem Theatertext von Ewald Palmetshofer in der Anstalt der Geschichte.

Gefangen bzw. nach der Streifung eines Schlags eingeliefert ist hier "die Alte" (Marlen Diekhoff). Die Neunzigjährige hockt auf einem Sessel, der ihrer eigenen Hinfälligkeit in nichts nachsteht, und damit nachgerade auf ihrer eigenen Vergangenheit. Denn in den Unterboden dieses Sessels eingelassen ist nicht nur ihr Strickzeug, sondern auch ein Heft, in dem sie ihre Erinnerungen abgelegt hat. Dazu surrt bereits einer dieser typischen elektronischen Stadttheatersoundtracks – Sie kennen das! – und flackert bedeutungsvoll das Neonlicht. Es kann losgehen.

Erinnyen der Erinnerung

Seit letzter Saison ist Ewald Palmetshofer als Dramaturg am Theater Basel engagiert. Mit "die unverheiratete" zeigt er nun erstmals in der Schweiz den 2014 in Wien uraufgeführten Text, mit dem er im Jahr drauf den Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen hat. Darüber kann man sich vor allem in der ersten Stunde dieses Abends leise wundern, wenn die wie immer bei diesem Autor minutiös rhythmisierten Schlangensätze einen sehr langen Anlauf nehmen, um schließlich auf die Begebenheit zu sprechen zu kommen, um die es im Grunde genommen ja eigentlich geht: Im April 1945, wenige Tage vor Ende des Krieges, erzählte auf dem Postamt in einem österreichischen Dorf ein Soldat am Telefon, er überlege sich zu desertieren, da der Krieg ohnehin verloren sei. Die Alte, die damals jung war, hörte das Gespräch mit und meldete es. Der Soldat wurde standrechtlich erschossen. Die Denunziantin wiederum, sie wurde nach dem Krieg zu zwölf Jahren im Gefängnis verurteilt.

dieunverheiratete 560a Simon Hallstroem uIn der Pflegeanstalt der Geschichte: Marlen Diekhoff, Pia Händler, Katja Jung
als Die Alte, Die Junge und Die Mittlere © Simon Hallström

Das Stück setzt in der Gegenwart ein: Die Alte wird wieder eingeliefert, diesmal in die Pflegeanstalt. Ihre Tochter ("Die Mittlere", Katja Jung) und ihre Enkelin ("Die Junge", Pia Händler) haben sie hergebracht. Auf der Station sind es dann vier "Schwestern", welche die Erinnerung in Gang setzen, die schließlich die Geschichte aufbrechen lässt. Natürlich sind diese Schwestern auch Erinnyen, sie konfrontieren die Alte, die Mittlere und die Junge mit jener Episode, die unausgesprochen, unerinnert und doch unausweichlich über den drei Frauenleben steht.

Pathos und Selbstkarikatur

Es ist tatsächlich wie in der "Orestie" – die Geschichte jagt die Generationen. Diese Überlagerung von Zeiten und Schuldigkeiten hat Palmetshofer ungemein genau und überzeugend konstruiert. Das Verdrängte schreibt sich als Leerstelle in die Familie ein – bis es die Enkelin genauer wissen will. Und als die Mittlere sich "Elektra" nennt und "meine Abstammung" verflucht, "meinen Stamm den Mutterstamm / dessen Spross ich bin aus dem ich gesprossen / ich faule Frucht Frucht des üblen Baums / des Gewächses der Fäulnis das Mutter heißt": Da ist nicht klar, ob ihr Rasen tatsächlich ihrer schuldig gewordenen Alten gilt – oder nicht doch der Jungen, die das angeblich Vergessene in die Erinnerung zerrt.

dieunverheiratete 560 Simon Hallstroem uDie Alte (Marlen Diekhoff, vorne rechts) und die Erinnyen © Simon Hallström

Was aber auch daran liegen könnte, dass Katja Jung die Szene erbarmungslos überspielt (und damit an der Premiere für einen unfreiwilligen Lacher sorgt). Überhaupt, das Pathos. Dass Palmetshofer die historische Fußnote in Jamben in die Gegenwart holt, das mag noch, wie im Programmheft dargelegt, der damaligen Gerichtspraxis geschuldet sein, den Prozess in indirekter Rede zu überliefern. Das umständliche, protokollarische Sprechen schafft nun jedenfalls auch auf der Bühne eine große Distanz zu den Figuren und ihrer Verstrickung. Und der hohe, bramarbasierende Ton, den der Autor dabei anschlägt und durchhält, geht das eine oder andere Mal haarscharf an der Selbstkarikatur vorbei ("Zur Leuchtschrift des Weckers fiel mein Blick"). Zwar stehen dem auch immer wieder brillant getaktete Passagen entgegen, in denen Palmetshofer einigen Punch entwickelt. Das Problem aber, dass seine Kunstsprache das Erzählte dominiert, das wird darum nicht kleiner. Umso mehr, als die Regisseurin Felicitas Brucker drauf- und das Ensemble zu leidlich dramatischem Deklamieren und Illustrieren anhält.

Die unerreichbare Geschichte

Das ist dann insgesamt zu viel Kunst, die zu wenig erklären kann, warum es sie gibt; warum nämlich eine historische Fußnote aufgebracht werden musste, um dann doch wieder die big shots der griechischen Klassik zu referieren. Die wuchtige Bühne, die raunende Musik, die gestrengen Erinnyen, der hohe Duktus – und auch, ach ja, die Kritik an den biegsamen Narrativen der Postmoderne, die ebenfalls noch angebracht sein wollte: Dies alles lastet schwer auf den Schultern dreier Frauen, die mit ihrer Verwandtschaft, ihren Erinnerungen und Verdrängungsleistungen an so einem Theaterabend doch schon redlich ausgelastet wären. Am Ende bleibt die Geschichte unerreichbar. Für die Junge, die in die Anstalt gekommen ist, um ein unvollständiges Heft vorzufinden. Aber auch für das Theater, das sich an diesem Abend vor allem für sich selbst interessiert hat.

 

die unverheiratete
von Ewald Palmetshofer
Schweizer Erstaufführung
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Viva Schudt, Kostüme: Esther Bialas, Licht: Cornelius Hunziker, Musik: Patric Catani, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Pia Händler, Katja Jung, Marlen Diekhoff, Carina Braunschmidt, Cathrin Störmer, Barbara Horvath, Franziska Hackl.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Das Dreigestirn Oma, Mutter und Enkelin – "überzeugend gespielt von Marlen Diekhoff, Katja Jung und Pia Händler" – erscheine in einem psychologisch äusserst spannungsreichen und komplexen Beziehungsgeflecht, so Anja Wernicke in der Aargauer Zeitung (25.3.2017). Felicitas Bruckers Inszenierung sei kraftvoll, das Bühnenbild von Viva Schudt kühl-betoniert.

"Felicitas Bruckers gut 100-minütige Inszenierung ist klug choreografiert. Mal umdrängt der Chor die alte Frau, mal drangsaliert er die Mitgefangene, mal kommentiert er von der Galerie das Urteil. Und sie zieht aus dem Gerichtsfall viel Spannung", schreibt Annette Hoffmann in der Badischen Zeitung (25.3.2017) "So weit ist sie fesselnd." Doch der Text sei so durchkomponiert, dass er im schlechtesten Fall zum Korsett werde. "Vor allem die Überformung durch die Orestie lässt die Inszenierung ächzen."

"Palmetshofers Stück ist sprachlich hochkomplex, reich an fein gehäkelten Mythen und Metaphern, aber vielleicht doch nur Kunststickerei auf Papier", schreibt Martin Halter in der FAZ (25.3.2017). "Brucker findet starke Bilder für das Schweigen und Aneinandervorbeireden im Dreimädelhaus der Geschichte, aber so richtig nah kommen uns seine Bewohnerinnen nicht." Der alten Geschichte von Schuld und durch Verdrängung erneuerter Schuld füge dieser Abend jedenfalls wenig Neues hinzu.

Palmetshofer erzähle mit einer hoch artifiziellen Sprache (die zuweilen etwas an die seltsame Ausdrucksweise von Meister Yoda aus 'Star Wars' erinnere) eine Geschichte von Schuld, aber nicht Sühne, von Verzweiflung, Rache und Verderben aber keiner Erlösung. "Ohne gewollte Ironie und gerade durch die Künstlichkeit der Sprache mit einer beunruhigenden Direktheit", so Dominique Spirgi in der Tageswoche (24.3.2017). Regisseurin Felicitas Bruckner gehe wie der elektrisierend-pathetische Text auch bei der Inszenierung voll aufs Ganze. "Nicht szenisch, hier lässt sie die Protagonistinnen mit einer klugen und präzisen Zurückhaltung agieren, sondern atmosphärisch: Vom ersten Moment an wird die Spannung ganz nach oben gepusht, wo sie sich über die ganze Dauer des Stückes hält. Ein Showdown von 100 Minuten Länge."

Kommentare  
die unverheiratete, Basel: Staatstheaterfach
Die Kritik trifft leider einen ganz wunden Punkt. Dieser Text hätte niemals in Mülheim gewinnen dürfen. Palmetshofer hat sich hier völlig verstiegen und - wie ganz richtig bemerkt - nur noch l'art pour l'art betrieben. Der Abstieg ins Staatstheaterfach, der ja auch folgerichtig an der Burg in der Beeindruckungsmaschinerie von Robert Borgmann bestens aufgehoben war. Selten beim Theatertreffen einen derartig gestrigen Abend erlebt. Dass nun Frau Brucker auf den gleichen Leim kriechen muß, weil der Autor am Theater Verantwortung trägt... eine Farce. Man kann Ewald Palmetshofer nur wünschen, dass er sich wieder mal in die Niederungen der Alltagssprache begibt - die hatte er nämlich mal sehr kunstvoll, plastisch und mit einem drängenden Anliegen in seinen früheren Stücken verarbeitet. Jetzt ist da keine Reibung oder Verarbeitung mehr zu erkennen sondern Bedeutendes in bedeutendster Form. Man möchte sagen Deutsch mit deutschem Untertitel.
die unverheiratete, basel: grundlos boshaft
ach herr "herrmann" ... "hätte niemals in mülheim gewinnen dürfen"; was für eine alberne anmassung. hat aber gewonnen! mit gutem grund und und ohne dass es sich irgendjemand leicht gemacht hätte. "abstieg ins staatstheaterfach" - was für eine in beiden richtungen ambitiöse, grundlos boshafte unterstellung: wird dem autor nun vorgeworfen, dass erst das burgtheater, dann neulich kassel und jetzt basel ihn aufführen? heilige einfalt. frau brucker muss sicher auch auf gar keinen "leim kriechen", WEIL der autor jetzt für eine weile dramaturg in basel ist. das war er auch schon in mannheim; er ist halt offenkundig interessiert daran, den prozess des umgangs mit den eigenen texten auch praktisch zu verfolgen ... was nicht schaden kann. an "alltagssprache" schließlich kann ich mich bei palmetshofer kaum erinnern; sie war doch immer ähnlich künstlerisch überformt wie sie es jetzt ist. jedes stadt- und staatstheater, dass diesen text wo und wie auch immer aufführen möchte, tut unbedingt gut daran.
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