Handshake mit Satan

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 24. März 2017. Die großen Kreuze brennen nicht, aber sie wirken dennoch bedrohlich: Weil jene, die sie tragen, weiß vermummt sind wie der Ku-Klux-Klan. "Mors et vita duello, conflixere mirando", singen sie mehrstimmig, "Tod und Leben rangen in wundersamem Zweikampf". Die Gesichtslosen erscheinen, als Faust den tödlichen Gifttrank nehmen will. Ihr Vorsänger ist Mephistos Gegenspieler: Gott. Und gespielt wird er von einer Frau (Alexandra Marisa Wilcke).

Auch der Himmel kommt nicht gut weg in Ryan McBrydes Inszenierung von Goethes "Faust. Der Tragödie erste Teil", die jetzt im Alten Schauspielhaus, der Residenz der privaten "Schauspielbühnen in Stuttgart", Premiere hatte. In der Wette zwischen Gott und Mephisto um Fausts Verführbarkeit geht's nicht um Moral, das Gute oder Böse, den rechten oder schlechten Weg: Sie verkommt zum bloßen Kräftemessen, egal auf wessen Kosten.

Faust1 560 SabineHaymann uFaust und sein Mephisto: Tilmar Kuhn, Christoph Bangerter © Sabine Haymann

Auch Mephistos Helfer sind vermummt, schwarz natürlich. Und sie sorgen für den reibungslosen Umbau der Bühne. Die ist kahl, und ihre Wände werden immer wieder in farbenfrohe, poppige Videoprojektionen getaucht: Fausts Arbeitszimmer in allerlei mathematische und chemische Formeln; Faust und Gretchen knutschen vor Aquariumskulisse; und während Gretchen auf dem Klo hockt und ihren Schwangerschaftstest beweint ("Ach neige, Du Schmerzenreiche"), sieht man riesig vergrößert und in Zeitraffer die Zellteilung der befruchteten Eizelle und wie sich daraus langsam ein Embryo formt. Sehr effektvoll und gleichzeitig ein bisschen Biologieunterricht. Denn das ist ja stets die große Frage: Für wen inszeniert man eigentlich den "Faust"? Dessen Stoff so derart populär ist, dass so mancher den Text im Schlafe mitsprechen könnte und der die größte Fundgrube deutscher Redensarten darstellt.

Die Ästhetik, auf die der Brite Ryan McBryde setzt, verrät's: Es ist ein Abend für die kommende Generation, für die Mittel- und Oberstufler*innen. Und hier funktioniert die Inszenierung ganz vorzüglich: Denn sie geht mit dem Stoff leicht und spielerisch um. Sie ist schnell getaktet, leise und fließend verwandelt sich die minimalistische Bühne, untermalt von atmosphärisch groovenden Beats oder schlichtem Ambient. Gelegentlich überrascht man mit witzigen bühnentechnischen Tricks. Gekürzt wurde der "Faust", ja, aber man bleibt nah am Text und gut verständlich.

Faust2 560 SabineHaymann uRandale in Auerbachs Keller © SabineHaymann

Natürlich spielt dieser "Faust" im Heute. Der müde, alte Professor spricht seinen "Habe nun, ach"-Monolog in die Webcam. Da trägt Tilmar Kuhn noch eine Nerdbrille, lange strähnige Haare und Vollbart. Nach der Verjüngung im futuristischen Operationssaal ist er ein smarter junger Kerl mit hipper Kurzhaarfrisur im bordeauxroten, gut geschnittenen Zweiteiler. Christoph Bangerter gibt Mephisto als sportlichen Anzugträger. Die Studenten in Auerbachs Keller ziehen sich auf dem Billardtisch ihre Lines, und  Mephisto und Faust erleben ihren Hexensabbat als LSD-Trip. Gretchen wohnt gemeinsam mit ihrer Unterschichts-Kleinfamilie – ohne Vater und mit bigotter Mutter im Rollstuhl – in einem heruntergekommenen Wohnsilo.

Katharina Paul spielt Gretchen ungemein natürlich und authentisch – vom zarten Schwärmen für den Älteren bis zur finalen Verzweiflung. Alles nimmt man ihr eins zu eins ab. Auch weil Goethes Knittelverse ihr frei von allen Verkünstelungen gelingen und dennoch wunderbar gesprochen sind – woran ihre Kollegen auf der Bühne noch ein bisschen arbeiten könnten. Auch Lukas Benjamin Engel als Bundeswehrsoldat und Gretchens Bruder Valentin, der von Mephisto erstochen wird. Witziger Blitz-Bühnentrick in Sachen Leichenentsorgung: Vier Sargträger schreiten feierlich ein, stellen den Kasten überm Gemeuchelten ab. Sargträger ab, Valentin weg.

Gretchen in der Psychiatrie

Ryan McBryde, der 2015 für eine Inszenierung am selben Haus, Orwells "1984", für den Theaterpreis Faust nominiert wurde, hat für das Ende sogar noch eine Überraschung in petto. Gretchen endet nach der Tötung ihrer Leibesfrucht nicht im Knast, sondern ganz modern in der Psychiatrie; Fausts Versuch, sie dort herauszuholen, mündet in eine Katastrophe: Gretchen bringt sich um, Faust wird fixiert und von den Pflegern abtransportiert. Keine Erlösung für Gretchen, keine Flucht für Faust. Dann kommt der Clou: Gott und der Teufel geben sich die Hand, gleichermaßen zufrieden mit dem Patt – Eiserner Vorhang runter – Punktlandung geglückt.

 

Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Ryan McBryde, Ausstattung: Sarah Beaton, Lichtdesign: Ben Cracknell, Projektionen: Rebecca ter Braak, Dramaturgie: Martina Kullmann.
Mit: Tilmar Kuhn, Christoph Bangerter, Katharina Paul, Alexandra Marisa Wilcke, Peter Kempkes, Nicole Lohfink, Lukas Benjamin Engel, Stefanie Stroebele.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielbuehnen.de

 

Kritikenrundschau

McBryde inszeniere seinen 'Faust I' als waghalsiges Pop-Art-Theater. "In seiner cleveren Andersartigkeit ist das Stück dabei – trotz seiner Texttreue und dem fast konservativ chronologischen Handlungsverlauf – weit mehr als eine stilisierte Goethe-Hommage: Es ist die mitleidslose Abrechnung mit einer pervertierten Genussgesellschaft", so Sabine Fischer in der Stuttgarter Zeitung (26.3.2017). Der berühmte Pakt zwischen Faust und Mephisto werde auf der Bühne zum brutalen Triumphzug von Oberflächlichkeit und Rausch. "Das Plakative stellt so eine auf allen Ebenen oberflächliche Welt bloß."

McBryde habe "eine erfrischend unkonventionelle und hoch aktuelle Lesart dieses deutschen bildungskanonischen
Schwergewichts vorgelegt", schreibt Thomas Krazeisen in der Esslinger Zeitung (28.3.2017). "Gut zweieinhalb Stunden spannt der Regisseur bei seiner jüngsten Arbeit an den Stuttgarter Schauspielbühnen seinen im Technorhythmus pulsierenden Bilderbogen, präzise getimt und intelligent choreografiert – und schält dabei so locker, so leicht des Pudels Kern aus Goethes Paradeparabel auf den rast- und ruhelosen Erkenntnis- und Lustsucher, dass man meinen könnte, alles sei Boulevard. Und das ist es hier auch."

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