Lenins Stern

von Tim Schomacker

Hannover, 25. März 2017. Am Ende singt Lenin Udo Jürgens. Dahinter prangt der Name grün und klassisch-kyrillisch an der Fassade des mehrtreppigen Spanholzplattenbaus, den man als Rednertribüne wie Mausoleumsfront nutzen kann. Lenins Name, natürlich, nicht etwa der von Udo Jürgens. Auf dem Vordach hockt eine geisterbahngroße Lenin-Marionette mit analog grellgrünen Augen. "Gebt mir Eure Angst / Ich geb‘ Euch die Hoffnung dafür." Und um einiges an Hoffnung war es ja auch gegangen bis dato. Um Hammer und Sichel, die – mit Žižek und Lenin – "die Hoffnung beschworen, dass die Geschichte endlich auf der Seite derer sein würde, die für brüderliche Gerechtigkeit kämpfen".

Eine historische Hoffnung, gewiss. Darum auch die distanzierende Großform der Revue, in die Tom Kühnel seine Rückschau auf das Titel gebende Revolutionsjahr "1917" anlegt. Eine dreistündige Folge szenischer Sing-Spiel-Bilder, die eine aufwendige Bühnenmaschinerie in Bewegung setzt: vom roten Prospekt, der bühnenfüllend über Lenins Rednerkopf gehievt wird über ein charmantes Blue-Screen-Arrangement, das die Akteure filmisch in die notorische Treppenszene aus Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" hineinversetzt bis zur Zarenpalastanmutung als gigantisch ratternder Dia-Show und einer gezielt geschrumpften Kolchos-Musical-Sequenz inklusive Traktor.

1917 2 560 Karl Bernd Karwasz uReiht euch ein! Chor und auf dem Traktor: Katja Gaudard, Carolin Haupt, Daniel Christensen, Frank Wiegard © Karl-Bernd Karwasz

Kühnel schlägt den großen historischen Bogen in fast durchgängig großen Bildern. Bleibt dabei aber eng, zu eng am sattsam bekannten handelnden Personal. Die letzten Romanovs hier, das zerklüftete Triumvirat aus Lenin, Trotzki, Stalin dort. Von links und rechts oben neben der Bühne grüßen Marx‘ und Engels‘ Konterfeis von Transparenten, papiernelkenrot umkränzt dienen diese als Leinwände für Filmeinspieler. Von hier grüßen Lenin nebst nicht minder revolutionärer Gattin Nadeschda Krupskaja aus den Schweizer Exilbergen. Was schon sehr lustig ist, wenn die Nachricht von der Revolution sie vom Käsefonduetopf wegholt und sie sich dann auf Skiern aufmachen zum Bahnhof. Plombierter Zug nach Osten, Sie wissen schon. Aber ein bisschen albern ist das natürlich auch.

Fehlende Balance

Nun wäre Albernheit nicht das Problem. Auch nicht das dramaturgisch wie theatertechnisch durchaus geschickte Spiel mit Verkleinerungen und Vergrößerungen. Schließlich hat man es – in der zaristischen Logik hier, in der Ikonographie der Revolution dort – ja durchaus mit monumentalen, operettenhaften, irgendwie aus der Form geratenen Präsentations- (und Selbstbestätigungs-) Mustern zu tun. Die sich durch manchen Filter gut neu betrachten ließen. Das Problem mit diesem Jahr "1917" ist, dass Kühnel ebenjene Balance zwischen personalisiertem und strukturellem Angang nicht so überzeugend gelingt wie es bei seiner Parallelarbeit über das Jahr 1789ff der Fall war. Und so dann doch der entscheidenden Frage deutlicher als seinerzeit ausweicht: Was hat das denn mit uns zu tun? Heute? Selbst wenn man hochrechnen kann, dass mit den Jahreszahlen 1989ff und 2008ff schon Epochenmarkierungen bereit stehen für weitere Produktionen.

1917 1 560 Karl Bernd Karwasz uLichtgestalten: Carolin Haupt, Janko Kahle © Karl-Bernd Karwasz

Das Schlüsselwort zum Problem dieses durchaus ansehnlichen wie kurzweiligen Abends liefert Kühnel unmittelbar vor der Pause selbst: Fokus. In einer schön runtergedimmten Sequenz lässt er Philippe Goos durch den Vorhang in den Pausenapplaus treten. Hier ganz auf die unmikrophonierte Stimme gestellt (und nicht singend wie fast alle es in Teil eins getan haben), lässt Goos den kommunistischen amerikanischen Journalisten John Reed das Publikum direkt adressieren. Fragt nach seinem Buch "Zehn Tage, die die Welt erschütterten", spricht von der historischen Gelegenheit für die Internationalisierung der Revolution. Und kommt auch auf Lenins Rolle zu sprechen. Er sei "kein großer Mann" gewesen, wiederholt er in genüsslich halbgekonntem US-Akzent, "kein großer Mann". Und kommt im launigen Dozieren auf: Lenins Fokus. Seine Konzentration auf eine Sache. Die ihn zu einer Art Katalysator habe werden lassen.
Fokus. Und genau den schiebt Kühnel vom Schlag-Jahr weg. Und zu Lenin hin.

Tschechow Turnaround

Konsequent, dass er gegen Ende eine lang Sequenz baut, die Lenins Jahre nach dem Schlaganfall in den Blick nimmt. Sehr schön in den Bühnenhintergrund gebaut und als Live-Schwarzweißfilm auf die Leinwand vorn geholt – aber eben ein bisschen auch als eine Tschechow-Umkehrung. Vom einzigen nicht hinführend zum Allgemeinen (und "nach Moskau") – sondern vom Weltgeschehen in die Vereinzelung. Da hilft auch Frank Wiegards fein heruntergekühlter Stalin-Besuch nicht, der diabolisch seine Machtsache festmacht. Lenins Leiden sind hier irgendwie nicht mehr mit der Sache verbunden. Sein Tod nicht mit der Vision vom neuen Menschen, sein Aufbegehren gegen diesen bis zum letzten Diktat für einen Brief an die Partei nicht mit der Partei. Bisschen privat gerät dies Ende. Dann kommt der Jürgens. Und lässt uns mit dem Eindruck zurück, dass hier ein historisches Jahr grandios verspielt wurde. Mit netten Couplets (Blutsonntag und Romanov-Erbfolge auf U2s Bloody Sunday oder einer tatsächlich ergreifenden Chorfassung von Wienert/Eislers Der heimliche Aufmarsch) aber ohne rechten Dreh in die Gegenwart.

 

1917
Eine Revolutionsrevue
von Tom Kühnel
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Polly Lapkovskaja, Video: Kathrin Krottenthaler, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Daniel Christensen, Katja Gaudard, Philippe Goos, Günther Harder, Caroline Haupt, Janko Kahle, Sophie Krauß, Frank Wiegard.
Musiker: Szilvia Csaranko, Christopher Keding, Polly Lapkovskaja, Daniel Zeitoun.
Chor: Juliana Consbruch, Elke Gärtner, Dagmar Gerberding, Gerlinde Griepenburg-Burow, Irmela Homburg-Krüger, Inna Koch, Elke Kruska, Renate Klocker, Petra Metsch, Veronika Meese, Brigitte Müller-Vollbrecht, Almut Rosebrock, Marion Stapel, Edda Schlichting, Christine Wilke, Marion Zwarg.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause.

www.schauspielhannover.de

 

Kritikenrundschau

"Muss man sich über den Zaren lustig machen? Über die Revolution? Aber warum ist es dann nicht lustig? Und warum hören sie nicht auf zu singen?", fragt sich Roland Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (27.3.2017). In drei sehr langen Stunden glühe oft nastalgisch ein Revoultionspathos, oft klinge es aber auch nach Telenovela. Es werde mit Inbrunst und oft ziemlich schief gesungen. "Die Revue macht sich einerseits ganz klein (Geschichtsunterricht mit Kasperlefiguren), plustert sich andererseits aber auch mächtig auf: großes Theater, viel Technik, viel Nebel, viel Aufwand."

Der Abend beginne heiter und hoffnungsvoll, zerfasere aber in der zweiten Halbzeit, schreibt
Stefan Golisch von der Neuen Presse (27.3.2017). Die erste Halbzeit sei "ein amüsanter Szenen- und Liederreigen für Bildungsbürger". Es folge ein zweiter Teil, der das Ende der Utopie zeichne und bemüht Brücken ins Heute schlage. "Doch das Anliegen des Widerstands zerfällt in Mummenschanz." Die Revolutionäre seien eher durch Kostüm und Maske zu erkennen, als durch Darstellung. Kühnel finde immer wieder tolle Bilder, doch es sei hoffnugnslos: "Man will diese Revue gern lieben. Aber man schafft es einfach nicht."

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