Geliebtes, leidgeprüftes Land

von Dorothea Marcus

Bonn, 16. Juni 2008. Dass in Deutschland rund 2,5 Millionen Türken leben, merkt man vor allem dann, wenn die Türkei unerwartet im Viertelfinale ist. In deutschen Stadttheatern hingegen ist davon noch nie groß etwas davon zu spüren gewesen. Die größte Einwanderungsgruppe im Land nimmt am deutschen Kulturangebot schlichtweg nicht teil. Meist wird es damit erklärt, dass damals eben keine weltmännischen Istanbuler nach Deutschland gekommen sind, sondern bäuerliche Ostanatolier, die es allenfalls zum Taxifahrer und Gemüsehändler gebracht haben.

Das ist vielleicht wahr, aber auch ein Vorurteil. Denn es verschleiert natürlich, welchen Anteil die deutsche Gesellschaft selbst an schlechter Integration, Unbildung und fehlenden Kulturinteressen von Migranten hat.

Umso schöner, wenn die Biennale Bonn, die in diesem Jahr dem Schwerpunkt Bosporus gewidmet ist, es wie nebenbei konterkariert: während draußen Türken hupend vor Freude über den Sieg der türkischen Nationalmanschaft über Tschechien um die Häuser rasen, ist der Zuschauerraum der Werkstattbühne an der Oper Bonn mindestens zur Hälfte ebenfalls mit gut gekleideten Türken gefüllt, und bei der Podiumsdiskussion werden die meisten kritischen Fragen nach dem Zustand des Theaters in der Türkei kenntnisreich von türkischer Seite gestellt.

Unfähigkeit zur Selbsthinterfragung

Rund 20 Tanz- und Theaterstücke, Vorträge und Kunstausstellungen drehen sich auf der Bonner Biennale um das Thema "Bosporus", passend zur Frankfurter Buchmesse, deren Gastland die Türkei im Oktober sein wird. "Die Türkei reagiert auf Kritik an ihrem Staat reizbarer als andere Länder – jede Kritik wird als Angriff auf die Nation gewertet", erzählt der Schriftsteller und UNESCO-Botschafter, Sänger und Komponist Zülfü Livaneli beim Eröffnungsvortrag über sein "geliebtes und leidgeprüftes Land" zwischen Islam und Demokratie und vergleicht es mit Passagieren, die nach Westen laufen auf einem Schiff, das nach Osten fahre.

Livaneli leitet diese Unfähigkeit zur Selbsthinterfragung von der Jugend der Nation ab, die sich bei ihrer Gründung 1924 erst vom ehemaligen osmanischen Reich abgrenzen und ihr Nationalgefühl gewaltsam definieren musste. Nach diesem Satz muss man abends im Theater staunen. "In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit", ruft ein Professor aus, der bei einer Talkshow eingeladen ist, die die Klammer von "Seelenfeld" (Can Tarlasi) bildet.

Das Stück besteht aus elf grotesken und bitteren Szenen, kurz und knapp wie Stammtisch-Witze, deren Komik schaurig im Hals stecken bleibt. Eine Schriftstellerin ist im Gefängnis und diskutiert mit ihren Aufsehern über Religion und Staat, man wirft ihr vor, dass sie ihr Land nicht liebt – da trifft sie der Schuss. "Was hast du getan? Wir haben uns doch so schön unterhalten!", schimpft der eine Wärter den anderen aus. "Hör auf zu weinen, sonst kann ich nicht abdrücken", weint da ein Bruder, bevor er seine vergewaltigte Schwester erschießt.

Schnappschüsse des Schreckens

"Mach nie Scherze mit dem Tod", sagt ein Selbstmörder, bevor er sich von der Brücke wirft. Im Hintergrund der Szenen glüht ein projizierter Revolver blutrot an der Wand, manchmal wird eine Szene von den Schauspielern im Schnelldurchlauf "zurückgespult" – wie um daran zu erinnern, wie winzig die Geste ist, die die Szene so tragisch unwiderruflich machte. Mehrere Jahre lang hat Autor und Regisseur Kemal Kocatürk die "furchtbar langweiligen" Gewaltmeldungen der türkischen Panoramaseiten gesammelt und zu einem Stück montiert, in dem sich Ehrenmorde, goldene Heroinschüsse, Akte der Selbstjustiz und Eifersuchtsdramen abwechseln.

Als er die Meldungen sammelte, war "es in der Türkei lebensgefährlich, auf die Straße zu gehen" – denn Lynchjustiz war an der Tagesordnung. Zum Schluss münden die Schnappschüsse des Schreckens in der erwähnten "Charisma-Show", die das Vorangegangene zum Film erklärt und die Absurdität der Medienwelt auf die Spitze treibt. Zu Gast sind Karikaturen von türkischen Stars, ein Regisseur erzählt eitel von seinem neuen Film, der Schreckensmeldungen verfilmt, eine Schauspielerin streckt ihre Brust heraus, rollt mit den Augen und haucht "ja".

"In diesem Land vergeht keine Minute ohne ein Verbrechen", sagt der Moderator launig und reißerisch. Eine beeindruckende Satire darüber, wie Gewalt zum Modethema und im Fernsehen seichtanalysiert wird, inszeniert wie eine rasante Boulevardkomödie, von den Schauspielern souverän, situationskomisch und bodenständig gespielt.

Fünfhundert Jahre Differenz

"Ich lebe in einem Land, in dem es besonders sinnvoll ist, Theater zu machen", sagt Kocatürk bei der Podiumsdiskussion. Erst vor einem Jahr hat er sein Istanbuler Volkstheater (Istanbul Halk Tiyatrosu) gegründet, das ohne staatliche Hilfe auskommt und von einem reichen Freund finanziert wird. "Seelenfeld" ist ihr erstes Gastspiel im Ausland. Kocatürks vier Schauspieler waren vorher fest am Stadttheater engagiert oder sind, wie etwa Levent Üzümcü, bekannte Serienstars, denn die rund 900 Euro, die ein Schauspieler im Ensemble verdient, reichen nicht zum Leben.

Ohnehin hätten sie "Seelenfeld" im Stadttheater wohl nicht spielen können: "Wir benutzen die Sprache der Straße, das wäre zu hart für das Stadttheater, man würde sagen, dass es den Schülern schaden könnte", erzählen sie. "Es gibt kein anderes Land auf der Welt, in dem Menschen leben, die gleichzeitig 500 Jahre voneinander entfernt sind", sagt Üzümcü und beklagt, dass die Türkei in den letzten fünf Jahren einen konservativen Roll-Back erlebt.

Umso erstaunlicher ist das andere Eröffnungsstück der Biennale, in der eine Frau, ein Mann und eine Art Transvestit in einer unseligen Ménage à trois aneinander gefesselt sind, in einem verlorenen Plexiglas-Kubus der Zukunft, der spektakulär seine Farbe wechseln kann. "Feuergebet" läuft seit vier Jahren im Staatstheater Istanbul (Istanbul Devlet Tiyatrosu) und hätte alles, was konservative Türken möglicherweise provozieren könnte: eine geradezu avantgardistisch-absurde Form, eine drastisch sexuelle Sprache, die Thematisierung von Geschlechtsüberschreitung.

Türkisches Lebensgefühl

Denn eigentlich sind die in Istanbul allgegenwärtigen Transvestiten ein türkisches Tabuthema, sie können dort jederzeit inhaftiert und misshandelt werden. "Feuergebet" ist eine Art philosophischer Versuchsanordnung zwischen Traum und Realität und ein Hörexperiment zugleich. Immer wieder geht das Licht aus und wir hören nur tropfendes Wasser, ein brennendes Streichholz oder Rascheln.

Sie sitzen im Rollstuhl und ihre Haare stehen zu Berge, weil die Schwerkraft nicht funktioniert, und verwickeln sich in müde Streitereien und Beschimpfungen, während sie auf einen Untergang warten, der nie kommen wird – jeder Versuch zu sterben ist aussichtslos, eine schöne Metapher für ein türkisches Lebensgefühl.

Auch wenn die Türkei Kritik nicht vertragen kann – man kann dort doch erstaunlich kritisches Theater machen.

Bosporus Biennale Bonn
14.-22. Juni 2008
Künstlerische Leitung: Klaus Weise und Steffen Kopetzky

www.biennale-bonn.de

Mehr lesen? Hier geht es zu Steffen Kopetzkys Bericht seiner Recherchereise durch die Türkei.