Freie Radikale

von Eva Maria Klinger

Salzburg, 15. August 2008. Die Kenntnis des Stückes ist zu empfehlen, ehe man sich der dreistündigen Neufassung von Nicolas Stemann hingibt. Das ungleiche Brüderpaar Karl und Franz Moor ist hier nicht nur eine Person mit zwei Seiten, diese Person ist außerdem noch auf vier Schauspieler aufgeteilt. Schönste Verwirrung! Die vier "FranzKarls" Philipp Hochmair, Daniel Hoevels, Felix Knopp und Alexander Simon sind tolle Kerle in Hemd und Wollpollunder.

Sie sprechen, skandieren Schillers Text mal vierstimmig im Chor, mal als Kanon oder satzweise aufgeteilt. Das macht Schillers ausufernde Suada spritzig und abwechslungsreich, amüsant sogar, die radikale Textkürzung unterstützt zusätzlich die publikumsfreundliche Verdaubarkeit. Freilich, nicht alle szenischen Lösungen gelingen in diesem Modell so überzeugend wie etwa die monologischen Selbstbefragungen, die sich zur mehrstimmigen konspirativen Reflexion verdichten.

Das Drama als Vexierspiel der Identitäten

Dieser Zugang erspart dem Regisseur jedenfalls eine peinliche, heutige Kostümierung der Räuber, etwa als Selbstmordattentäter. Schiller hat "Die Räuber" als 18jähriger Schüler im Internat der Karlsschule als Aufschrei eines Gefangenen geschrieben. Die Dramaturgie ist noch holprig, manche Figuren hölzern, noch nicht so psychologisch charakterisiert wie in den späteren Dramen. Daher ist ein solch radikaler Zugriff, wie Stemann ihn unternimmt, auch ein Rettungsanker. Denn "Die Räuber" wie's im Buche steht aufzuführen, wäre Harakiri.

Regisseur Nicolas Stemann entschloss sich, Schillers Text als Basis für ein intelligentes Sprachspiel zu benützen, das auch zum Vexierspiel werden kann, wenn die Rollen verschwimmen. Rollen? Das Programmheft gibt einfach sechs männliche und zwei weibliche Schauspielernamen an, als Interpreten eines Wortkonzertes. Wessen Rolle da gerade gesprochen wird, ist Nebensache. Eindeutig und einstimmig ist Christoph Bantzer der Alte Moor, Katharina Matz und Peter Maertens sind Figuren aus dem Schillerfundus. Maren Eggert ist eine selbstbewusste Amalie, ihr Tod ist auch die Schlusspointe – und nicht Karl Moors "Dem Manne kann geholfen werden".

Ausweitung der Coolness-Zone

Das Konzept zertrümmert das Stück nicht, es verleiht dem emphatischen Freiheitsdrama Rhythmus, Musikalität und eine interessante Sicht. Indem der zurückgesetzte, vom Vater ungeliebte Franz so sein möchte wie Karl, so geliebt, anerkannt und tatkräftig, ist es denkbar, die beiden zu verschmelzen. Franz will alles haben, was Karl hat: Amalie, den Besitz, die Anerkennung.

Dass dies nur mit einer miesen Intrige gegen Vater und Bruder, der lancierten Falschmeldung von Karls Tod gelingt, wäre die eigentliche dramatische Zuspitzung in Schillers Drama, die Stemann nicht so wichtig nimmt.

Wichtiger ist ihm die Frage nach der Identitätsfindung. Franz nimmt Karls Identität an und Karl verliert die seine, weil ihm alles genommen wird. Diese kluge Interpretation schafft Coolness, wenig Dramatik. Nicolas Stemann setzt dramatische Akzente anderer Art.

Vibrierende Magengrube

Wenn das Quartett, diesmal als Räuberbande in schwarzer Gesichtsmaske, mit Raub- und Vergewaltigungszügen durch das Cäcilienkloster prahlt, fährt eine Punk-Rockband herein, stampft und dröhnt, dass die Magengrube vibriert. Überhaupt wird die ganze theatralische Palette zur Ausweitung der Kampfzone herangezogen. Vorgefertigte Videos flimmern, eine Kamera projiziert live Aufnahmen einer brennenden Lego-Modellstadt auf die Leinwand.

Licht, Geräusche sind präzise eingesetzt, und im zweiten Teil treten die vier Herren auch noch in Rüschenhemden und Brokatrock auf, ein würdiges Schiller-Zitat. Um die Freunde der Schillergesellschaft zu versöhnen, reicht es wohl nicht. Aber diese waren nicht anwesend, denn das Publikum spendete dem Ensemble und dem Regisseur einhelligen Beifall.

 

Die Räuber
nach Friedrich Schiller
Inszenierung: Nicolas Stemann, Bühne: Stefan Mayer, Köstüme: Esther Biallas, Video: Claudia Lehmann, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel.
Mit: Christoph Bantzer, Maren Eggert, Philipp Hochmair, Daniel Hoevels, Felix Knopp, Katharina Matz, Peter Maertens, Alexander Simon.

www.salzburgerfestspiele.at


Nicolas Stemanns Auseinandersetzung mit der Dialektik von Erinnern und Verdrängen hat auch Simone Kaempf beschäftigt. In einem Artikel von Dirk Pilz zur Frage, wie das deutschsprachige Theater das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart behandelt hat, spielt Stemann auch eine größere Rolle. Weitere Kritiken zu Inszenierungen von Stemann lesen Sie hier: zu Iphigenie am Hamburger Thalia Theater, zu Don Karlos und Elfriede Jelineks Über Tiere am Deutschen Theater Berlin und zu seiner Jelinek-Inszenierung Ulrike Maria Stuart wiederum Thalia Theater Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Beim jungen Schiller stünden meist "lauter halb ausgegorene Ideen auf der Bühne herum", meint Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen (18.8.), die nun auch in Nicolas Stemanns "Räuber"-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen "ihre Körper" nicht fänden." Die Aufführung sei eine "szenische Lesung ... mit großem Aufwand." Getragen von "vier Jungmimen", die den Text entweder unisono oder "aufgeteilt wie Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track" sprechen, schrumpfe der Abend aber "nach einem packenden Beginn ... zum Vehikel dieser einen Regieidee, nicht nur zu doppeln, sondern zu vervierfachen. Was für die Einzelpersonen Franz und Karl Moor ein geeigneter Einfall zu sein schien, um Tiefen in den doch recht flachen Figuren Schillers auszuloten, wird angesichts der Gruppenstruktur der Räuber witzlos."

Für Ronald Pohl vom Standard (18.8.) sind Stemanns "Räuber" eine "unverbindliche Deklamationsgruppenübung". Die "vier Herren" illustrierten, "ohne jemals besondere Wortdeutlichkeit zu erzielen, wie man sich eines komplizierten Textes auf summarische Weise plappernd und möglichst wegwerfend entledigt." Es herrsche "lediglich der Triumph 'chorischer' Unbedarftheit": "Nichts darf hier brennen, nur ein bisschen Dekoration. Keine mühsam gewonnene Einsicht braucht zu schmerzen." Der "Chor dieser freundlichen Wohlstandskinder" erzähle "von der schleichenden Ermüdung der Antriebe. Keine Kanaille in der Clique. Man entfaltet bloß den Charme einer autonomen Jugendgruppe."

Eine "Rock-Oper" hat Barbara Petsch von der Wiener Presse (18.8.) in Stemanns "Räubern" gesehen und eine "klare These" darin gefunden: "Franz, die Kanaille, und Karl, der gute Sohn, sind eins. Die beiden Brüder wenden sich ab von der Welt ihrer Väter, wollen sich ein neues, anderes Leben bauen. Sie scheitern bzw. werden zu Borderlinern." "Konsequent und sprachlich perfekt erzählt", sei die Aufführung "als Übersetzung eines schwierigen Klassikers ... sehr gut gelungen, eine Fusion von Popkultur und literarischem Erbe." Und das sei "wohl die Zukunft. Manche Klassiker werden bearbeitet sein – oder sie werden nicht mehr sein." Vom "Regietheater, das Klassiker-Figuren als unsere Zeitgenossen präsentiert", sage sich Stemann los: "Die Epoche des Post-Regietheaters ist angebrochen."

Ja, Stemann gelinge in seinem "Wortkonzert" die "Erzählung der Handlung durch deren nahezu ausschließlich sprachliche Vermittlung". Die Aufführung "macht sich und ist zweifellos interessant." Doch Peter Iden bringt in der Frankfurter Rundschau (18.8.) einen fundamentalen Einwand vor: "Der Regie-Ansatz Stemanns ... verweigere den Schauspielern, was eigentlich ihre Aufgabe, ihr Metier und das Wesentliche ihrer Kunst ist: die Schilderung von Menschen, die Entwicklung von Haltungen durch Erfahrungen, die sie als einzelne machen, die Verwandlung als Konsequenz von Vorgängen, durch die sie abgebracht werden von sich oder zu sich finden. Das chorische Experiment mit den 'Räubern' entdeckt zwar das Theatralische an der Sprache Schillers – es geht aber zu Lasten des Theaters, einem Medium, das sehr viel komplexer und reicher ist in seinen Möglichkeiten als der verengende Einfall, aus dem diese Inszenierung sich herleitet."

In der Süddeutschen Zeitung (18.8.) schreibt Christopher Schmidt: "Als Gedankenexperiment über den Extremismus bildet der Stoff die logische Fortsetzung des Gewaltdiskurses, dem der Regisseur Nicolas Stemann bereits in Elfriede Jelineks RAF-Stück 'Ulrike Maria Stuart' mit grimmiger Melancholie nachgegangen war." Wie "vier Performer beim Poetry Slam" präsentiere sich das Solistenquartett: "Es ist ein männerbündischer Sängerkrieg in der Schiller-Fankurve, was sie entfesseln, und durch das chorische Moment wird die Gewaltsamkeit von der ersten Sekunde an körperlich spürbar. ... Indem die Schauspieler hier nicht überlebensgroße Figuren beglaubigen müssen, sondern einen Text, gewinnen sie eine neue Unmittelbarkeit und können sich frei der heißesten Emphase hingeben, die sprachlich sublimierte Gewalt ausmusizieren."

"Seltsam genug", wundert sich Ulrich Weinzierl in der Welt (18.8.): "Nicolas Stemanns Konzept, die Personen in ihre Sprache aufzulösen", funktioniere tadellos. "Genauer betrachtet freilich kein Wunder, denn sie ist das Unvergängliche an Schillers Debüt als Dramatiker: ein vom philosophischen Freiheitsfuror überhitztes Wort-, Gedanken- und Seelenkonzert, hier präsentiert mit untrüglichem Gefühl für Melodie, Tempo und Rhythmus. Das durchaus modern wirkende Ergebnis ist Texttreue sondergleichen, zumal da sich Stemann szenisch platter Aktualisierungen enthält." Außerdem ermögliche "die Stemannsche Personenaufsplitterung Einblicke in die Vielschichtigkeit der Charaktere: Im selben Moment nämlich werden die oft einander widerstrebenden Motive innerhalb eines einzigen Ichs erkennbar: die Geburt der Psychologie aus dem Geist der Musik." Leider habe der fünfte Akt noch "den Charme des Unvollendeten", weswegen Weinzierl in diesem "lohnenden Ausnahmefall ... zur weiteren Feinarbeit ermuntert."

Durch Stemanns "gemischten Chor aus Brüdern und Räubern, Vätern und Verrätern" würden – so meint Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung (18.8.) – "Die Räuber" "für einige Momente zum lebenden Textkörper, einem Ganzen, das seine vielen Glieder ausstreckt – in einer Hand das Herz und in einer anderen schon das Messer". Man könne "sich den furiosen Ideen von Stemanns Inszenierung nicht entziehen", und doch werde "leider bald klar: Es ist mit ihnen eine Form gefunden, aber noch kein Weg durchs Stück. Nicolas Stemanns 'Räuber' sind ein Experiment, das stark beginnt und dann auf halbem Weg steckenbleibt." Jandl bedauert, "dass sich Nicolas Stemann nicht entschliessen konnte, der Inszenierung irgendeinen interpretatorischen Drall zu geben. Wie Spielsteine werden die Sätze verschoben." Alles verhalle hier "ganz harmlos. Diese 'Räuber' sind letztlich nur Behauptung."

 

Kommentare  
Stemanns Räuber: Verstaubter Klassiker toll inszeniert!
Richtig, man sollte das Stück kennen oder zumindest die Inhaltsangabe gelesen haben, bevor man sich diese Aufführung anschaut. Ein verstaubter Klassiker toll inszeniert, die Texte originalgetreu, die Schauspieler grandios. Eine super Aufführung - allerdings nicht für das typisch deutsche Festspielpublikum jenseits der 50, die einen Klassiker als Klassiker aufgeführt wissen wollen, auch wenn wir uns im 21 Jahrhundert befinden. Ein toller Abend, allen jenen zu empfehlen, die sich in ihrer "Aufnahmekapazität" umstellen können.
Stemanns Räuber: Jugendstück? Altenbeschimpfung!
Vorsicht, bitte keine Altenbeschimpfung. Ich bin 58 und fands großartig!


Sie sind auch nicht gemeint, sondern Schiller, der "Die Räuber" im Alter von ca 18 Jahren schrieb. Die Red.
Stemanns Räuber: Holzhammer statt Schiller
Eine katastrophale Inszenierung, die sich durch unsynchron plappernde, Mikrofon (!) benutzende Schauspieler kennzeichnete, die nicht in der Lage waren dem Publikum den tieferen Inhalt des Dramas, den Schrecken der Verbrechen "der Räuber" näher zu bringen, so dass das Publikum nach ausführlichen Vergewaltigungsszenen und Akkustikterror, gut gelaunt in die Pause gehen konnte. Holzhammer statt Schiller.
Daher war es schon rein eine Frage des guten Geschmacks, das Stück vor seinem Ende zu verlassen. Mit Schiller hat das Stück nicht das Geringste zu tun.
Ein absoluter Tiefpunkt der Salzburger Festspiele.
Stemanns Räuber: Ohne Mikros????
was ist an mikrofonen ungewöhnlich bzw. verwerflich? eine stemann-inszenierung ohne mikro ist doch gar nicht denkbar.
Stemanns Räuber: Guido Knopp?
Stemann ist doch immer der bürgerliche Showmaster, der Sperriges (Jelinek, Schiller)auf lustiges Spaßtheater runter dimmt. Der Guido Knopp des Theaters sozusagen.
Stemanns Räuber: von Schiller nichts übrig
Bei Kafkas "Prozess" (Premiere am 25.09.08) war die Vielfachbesetzung des K ein Geniestreich, bei den Räubern (Premiere am 11.10.08 "honi soit qui mal y pense") war es geradezu eine Katastrophe und führte dazu, dass das Ergebnis nur grottenschlecht genannt werden kann. Von Schiller ist nichts übrig geblieben.

Stemanns Räuber: wie man Schiller heute lesen kann
"Geniestreich" vs. "grottenschlecht" und "Katastrophe", das sind begriffliche Hohlräume. Schöner wäre es, wenn Sie, Nomos, Ihr Urteil argumentativ begründen würden. Ja sapperlot, Sie kannten tatsächlich den alten Friedrich? Ich leider nicht, und deshalb frage ich Sie, ob es denn wirklich nur eine einzige Lesart klassischer Stücke geben kann. Meines Erachtens hat Stemann gerade das sehr schlüssig aufgezeigt, dass es eben nicht eindeutig ist, wie man Schiller heute lesen und darstellen soll. Vielmehr steht jeder Regisseur erneut vor der Frage, ob und was ein geronnener Text eigentlich noch über den aktuellen gesellschaftlichen Kontext aussagen könnte. Und Stemanns Inszenierung hat hier im wahrsten Sinne des Wortes bzw. (komischen und zugleich tragischen) Bildes Archäologie betrieben. Gegen Ende taucht der in seiner Identität in viele innere Stimmen zerrissene und orientierungslose Karl in das Grab seines vermeintlich toten Vaters ein - ein gleichsam existenzialistisches Stage Diving. Beide Söhne wollen sich von Tradition und Herkunft abschneiden, Franz aus einer brüderlichen Eifersucht heraus, Karl gezwungen durch die daraus resultierende Intrige seines Bruders. Doch was bleibt dann eigentlich noch? Nichts ausser dem reinen Terror des Ereignisses, dem Furor eines revolutionären Freiheitsdrangs, welcher ohne die ordnende Kraft der Vernunft in Chaos und anarchischer Zerstörungslust endet. Wo zu Beginn der verheißungsvolle Wechsel raus aus den Alltagsklamotten in die Kluft radikaler Terroristen stand, erfolgt nach der Pause der Auftritt als "Schillerlocke". Die Schauspieler erspielen sich ihre Rollen, indem sie verschiedene Sprechweisen, gestische Haltungen und Kostüme erproben. Denn nach Schiller ist der Mensch nur da ganz Mensch, wo er spielt. Und nur über dieses Spielen erfolgt - möglicherweise - eine Veränderung, nach Schiller "ästhetische Erziehung" genannt.
Stemanns Räuber: zugekleistert, zugebrüllt
Natürlich kannte der Autor den guten Friedrich genauso wenig persönlich wie Sie. Natürlich gibt es nicht nur eine Lesart klassischer Stücke, eine einzige schon gar nicht. Das wäre doch wohl ziemlich langweilig und der Tod des Theaters. Soweit D’accord. Gleichwohl sollte man sich in seiner Inszenierung für eine Lesart entscheiden und diese dann mit einer gewissen Konsequenz und Stringenz durchhalten. Beides lässt Herr Stemann aber vermissen. Und Archäologie betreibt man – hier ist sicherlich das Prinzip gemeint - meines Wissen anders, akribischer. Die Konflikte Vater/Sohn, Franz/Karl, Karl/Libertiner/Räuber, Karls innere Zerrissenheit wären freizulegen. Hier werden sie wohl eher – dazu auch noch häufig unverständlich, oder haben Sie immer alles akustisch verstanden - zugebrüllt. Schillers Geist sollte doch mindestens noch mitschweben. Die Sprechchören sind nur ansatzweise mit den im Stück angelegten Rodomontaden vergleichbar.
„Existenzialistisches Stage Diving“ das klinkt ja ganz interessant und Ihrer Interpretation will der Autor gar nicht widersprechen, aber ob dass Stemanns Inszenierung hergibt - politisch verhält er sich doch eher indifferent - wagt der Autor doch zu bezweifeln. Mit den historischen Kostümen konnten Sie offensichtlich ebenso wenig anfangen, wie der Autor.
Mit Verlaub, dass die Schauspieler ihre Rollen „erspielen“ ...“indem sie verschiedene Sprechweisen, gestische Haltungen und Kostüme erproben“, dürfte doch den „begrifflichen Hohlräumen“, die Sie - nicht ganz ohne Grund - zu entdecken glaubten, ähnlich sein.
Das Gegenteil, Stemann verweigert dem Schauspieler sein ureigenes Metier und drängt ihn in die Rolle des Proklamators. In einem Sprechchor können sie wohl kaum den Charakter einer Person in seinen Nuancen, Tiefen und Konflikten ausloten.

Noch dieses, dem Autor ging es mit seiner provokanten Bewertung darum, die beiden Inszenierungen „Der Prozess“ und „Die Räuber“ gegeneinander zu stellen, bedienen sie sich doch beide des dramaturgischen Mittels der Mehrfachbesetzung der Personen des Stückes. Bei den „Räubern“ ist es sogar das zentrale Mittel aus dem Stemann seine Inszenierung herleitet.
Da wo es im „Prozess“ zur atmosphärischen Verdichtung der einzelnen Szenen und zur Steigerung des Spannungsbogens führt, führt es „Die Räuber“ in die dramaturgische Beliebigkeit. Da wo im „Prozess“, die Mehrfachbesetzung den Gehalt des Stückes „archäologisch“ - um in Ihrer Terminologie zu bleiben - freilegt, werden die Konflikte in den „Räubern“ durch die Mehrfachbesetzung zugekleistert oder besser zugebrüllt. Abgesehen davon, dass Stemann das Prinzip nicht einmal durchhält und rasch an seine Grenzen kommt. Plötzlich ist da der Hausknecht/Diener Daniel und dazu noch in Begleitung seines Weibes, wo kommt diese Dame eigentlich her. Bei Friedrich steht davon nichts. Also Stemanns Requisitenkammer, aber warum? Bühnenstaffage, weil’s schön anzuschauen ist?

Während im „Prozess“ diese Mehrfachbesetzung als geniale Entsprechung des Inhaltes, gesehen werden kann und wäre sie nicht schon bei anderen Inszenierungen ( „Gertrud“ TT 08) ähnlich genial angewandt, hätte man es erfinden müssen, so zwingend erscheint hier dieses Mittel.
Bei den „Räubern“ hätte man besser darauf verzichten oder anders damit umgehen sollen, es zerschlägt den Inhalt des Stückes.
Deshalb „Geniestreich“, deshalb „grottenschlecht“.
Stemanns Räuber: vereindeutigendes Systemdenken
@ Nomos: Sehr interessant, was hier gerade passiert. Sprechen "wir" nicht allzu häufig in Floskeln, ohne tatsächlich noch wahr-zu-nehmen, was "wir" da eigentlich sagen? Sie sprechen zum Beispiel von "Konsequenz und Stringenz". Was heisst das denn eigentlich? Kann man Texte nicht auch "von innen her" lesen und interpretieren, wie es meines Erachtens auch und gerade bei Kafka praktiziert werden muss? Mich stört es jedenfalls immer, wenn ich merke, dass ein Regisseur anhand eines Stücktexts nur eine einzige Idee vermitteln möchte. Ist das Leben denn so einfach? Mir persönlich liegt ein solch abschließendes und vereindeutigendes Systemdenken nicht. Sowohl bei Kriegenburg als auch bei Stemann erkenne ich dagegen eine dekonstruktivistische Lesart, welche den Texten eben nicht eine "äussere Interpretation" überstülpt, sondern über die Bilder, welche beim Lesen entstehen, eine fragmentarische und den Sinn dadurch immer wieder aufschiebende Ästhetik entwickelt.

Stemann löst die Ineinssetzung von Figur und psychologischem Charakter auf. Dagegen demonstriert er die alterierenden inneren Stimmen und Diskurse innerhalb einer Person (Karl, Franz, Vater). Im Gegensatz dazu wird Amalie nur durch eine Schauspielerin (Maren Eggert) dargestellt, welche nicht skandiert, sondern vor allem auch immer wieder singt. Das habe ich als starken weiblichen Gegensatz zur zerrissenen und fragmentierten männlichen Identität Karls und Franz' gesehen. Die Aufführung von Stemann ist für mich letztlich ein Text, dessen Bedeutung erst im Prozess des Wahr-Nehmens durch den Zuschauer generiert wird. Mit dem Kostümwechsel war für mich übrigens die Aussage verbunden, dass Rebellion nur dann funktioniert, wenn sie sich zugleich über den ordnenden Verstand (gleichsam "klassisch repräsentiert" durch das ältere Paar) mit dem auseinandersetzt, was sie zu bekämpfen sucht. Zerstörung als Selbstzweck ist sinnlos, weder das Gefühl (die Zerstörungslust Karls) noch die Ratio (das mechanische Weltbild Franz') darf Überhand nehmen, beides muss in eine Balance gebracht werden. Das Politische an dieser Aufführung ist schließlich, dass Stemann diesen Prozess der Bedeutungsverschiebung über das Ästhetische vollzieht. Weder der tabula rasa-Terrorismus noch die reine Vernunft ist die Lösung. Dagegen muss ich als Zuschauer (auch im Alltag) immer wieder neu entscheiden, was einer Situation angemessen ist. Es gibt kein Universalrezept für den Sinn des Lebens, die Sinngebung bleibt offen. Und das ist gut so. Und was meinen Sie mit dem Geist Schillers, der mitschwebt? Also bitte, tot ist tot. Jetzt schillert Stemann.
Stemanns Räuber: der Genuss neuer Sichten
Das war ein großartiger Abend, der viele Sturm- und- Drang- Zeiten vereinnahmte, von Schiller bis heute. Das war ein Spiel, das war großartiges modernes Theater. Viele Fragen wurden dann in der folgenden Diskussion geklärt.
Man muss sich schon mit den Ideen auseinandersetzen. Zum Glück haben auf dieser Seite Zuschauer Meinungen geäußert, die über das bloße Beschimpfen jedes ungewohnte Sehens hinausgehen. In der Diskussion gestern sprach eine Dame an, dass ihr das Stück gefallen habe, sie seit langem wieder einmal Bravo gerufen habe. Nur die Musik sei zu laut gewesen. (Das teile ich nicht, die gehört dazu, aber ich mag es der Frau zugestehen, das so empfunden zu haben). Eine andere sprach von einer Aufführung von 1968. Da war ich 6 und ging noch nicht ins Theater. Ich sammle aber auch alte Inszenierungen, finde manches interessant, aber alles hat auch seine Zeit. Und ich finde es wichtig, dass junge Menschen das Theater mit ihren Sichtweisen bereichern. Ich bin nun auch in die Jahre gekommen, werde mir die Freude, die Überraschung und den Genuss neuer Sichten nicht nehmen lassen. Dieses Theatertreffen war wirklich ein Fest beachtlicher Inszenierungen. Und ich hoffe, dass all die guten interessanten Theatermacher nicht aufgeben, zum Theatertreffen zu kommen. Denn das Publikum ist nicht einfach, denn wer bekommt diese Karte? Nur die wenigsten, die Interesse haben. Die meisten sitzen zur Schau, ich bin dabei und die Karten sind mir in den Schoß gefallen. Vielleicht sollte man alle Karten in den Vorverkauf des Internets geben und alle müssen die Preise bezahlen. Dann vielleicht dann kommen die wirklich Theaterinteressierten.
Dutzende "Bravos" für Stemann, die Boygroup und die wunderschöne Amalia!
Stemanns Räuber: was hat das zu bedeuten?
der letzte satz in dem buch...?
was hat dieser satz für eine bedeutung?

liebe grüße :-)
Stemanns Räuber: männliche Hahnenkämpfe
@11.: Darf ich Ihnen vielleicht weiterhelfen? In dem Schlusssatz "Dem Mann kann geholfen werden" offenbart sich für mich leider wieder nur dieses Männerbündlerische, wodurch das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben bis heute in hohem Maße geprägt und durchsetzt ist. Männer bekämpfen oder befördern sich immer noch hauptsächlich untereinander, und so werden Frauen nicht selten zum Kollateralschaden dieser männlichen Hahnenkämpfe. Insofern kann ich die Entscheidung, Amalie hier als selbstbewusste Frau zu zeigen und ihren Tod als Schlusspunkt zu setzen, nur unterschreiben. Denn damit wird für mich hervorgehoben, dass der Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung nichts als Zerstörung hinterlässt, wenn nicht auch das gemeinschaftliche, solidarische und liebende Prinzip in diesen Kampf miteingeschlossen wird. Gute Nacht.
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