Und alle machen Mäh

von Petra Kohse

Berlin, 15. Mai 2007. Es drängte einen nicht zum Jubel nach der Premiere des Hamburger "Tartuffe" im Haus der Berliner Festspiele. Manche buhten sogar, als der Regisseur auf der Bühne erschien. Die Aufführung war durchaus virtuos und zuweilen lustig gewesen. Aber sie war leer.

Der 64-jährige Bulgare Dimiter Gotscheff ist seit Jahren so etwas wie ein Gesamtberliner Hausregisseur mit seinen Inszenierungen im Deutschen Theater und in der Volksbühne. Man kennt seinen Szenen- und Bildaufbau hier, man kennt die Positionen, die er besetzt. Den Tartuffe hätte in Berlin Samuel Finzi gespielt, die Dorine vielleicht Birgit Minichmayr, Orgon wäre Wolfram Koch gewesen und so weiter. Wäre er gut, wäre er besser gewesen, der imaginäre Berliner "Tartuffe"?

Die Tage ihrer Schönheit sind gezählt
An Katrin Brack lag es nicht. Die kann ihre Ein-Einfalls-Bühnenbilder wahrscheinlich an jedem Ort der Erde realisieren, an dem es einen großen, kahlen, schwarzen Bühnenraum gibt. Im "Tartuffe" füllt sie ihn mit Konfetti und Luftschlangen. Nicht gleich natürlich. Sondern erst, wenn die Familie die Bühne betreten und sich rampenparallel in Positur gesetzt hat.

Die Familie ist die des reichen Bürgers Orgon, und sie ist in der Koproduktion des Thalia Theaters und der Salzburger Festspiele von ganz und gar unbürgerlicher, eher feudaler, neu-barocker Dekadenz. Nicht im Kostüm, das – asymmetrischer Goldpaillettenfummel, weißer Anzug, Tennis-Look (Barbara Aigner) – an die Zeit des amerikanischen Wirtschaftswunders erinnert. Aber in der Haltung, die ein einziges Schreiten und sich Spreizen ist.

Die Familie also drapiert sich, und zur barocken Jubelmusik wird von allen Seiten so viel buntes Papier geploppt und geschleudert, bis ihnen die Luftschlangen wie Spinnweben von den Haaren hängen und man weiß, dass die Tage ihrer Schönheit gezählt sind.

So etwas kann Gotscheff. Er ist ein Meister des epischen Tableaus. Und ein Meister des Extemporierenlassens. Zu Beginn hat Judith Rosmair in der Rolle der Zofe Dorine einen hinreißenden Auftritt als bulgarische Putzfrau, voll vulgärer Vitalität, die im aussagekräftigsten Gegensatz zum schwabbelnden, brabbelnden, höchstens noch kreischenden Wohlstandselend der Kinder des Orgon steht, wenn diese erfahren, dass es aus ist mit dem Geldausgeben und Lustigsein – erst, weil der Vater (Peter Jordan) aus Überdruss ein Frömmler geworden ist, dann, weil ihm vom vermeintlichen Glaubensbruder Tartuffe (Norman Hacker) das letzte Hemd ausgezogen wird.

Das Lachen der Lämmer
Den 350 Jahre alten Text von Molière lässt Gotscheff nach der Übersetzung von Benno Besson und Hartmut Lange in eigener Fassung sprechen, zusätzlich angereichert mit Passagen von Heiner Müller und mit abgeändertem Schluss. Keineswegs wird Tartuffe, der habenichtsige Heuchler, am Ende von einem königlichen Haftbefehl ereilt. Sondern er schlitzt Orgons mit Kruzifix bewehrter Mutter (Angelika Thomas) die Kehle auf und sagt: "Da wo ich herkomme, nennt man diesen Schnitt das Lachen der Lämmer" – und alle machen Mäh.

So kanns gehen mit der Festung Erste Welt, wenn im Mauerwerk der Schwamm nistet und genügend draußen sind, die reinwollen. Zehn eingewanderte Zeitarbeiter sind es, die Orgons Haus ausräumen am Ende, und der exaltiert züngelnde Gerichtsvollzieher (Christoph Rinke) hat garantiert keinen Hochschulabschluss. Was auf seine pauschale Weise irgendwie wahr ist und okay wäre – handelte es sich dabei nicht bloß um den Rahmen einer gut zweistündigen Vorstellung, in deren Zentrum Typenkunde der plattesten Sorte breit und grotesk ausgetreten wird.

Wie lächerlich bedürftig Orgon ist, der vom gospelsingenden Tartuffe blitzmissioniert wird und dann in Sandalen und mit Ölzweig in der Hand einherwandelt. Wie erbärmlich handlungsunfähig die schmarotzende Familie: Paula Dombrowski als elegisch-kühle Madame Orgon, Helmut Mooshammer als ihr dandyhafter, immerhin eloquenter Bruder, Andreas Döhler in der Rolle des motorisch deregulierten Sohnes und Anna Blomeier als ein greinendes Törtchen von Tochter. Und wie selbstzufrieden der dauerpredigende Tartuffe, den Norman Hacker mit notorischer Sanftheit ohne Suggestionskraft spielt.

Ein Wohlstandspoblem, so oder so
Das, vielleicht, wäre ein Ansatz gewesen, real existierende Prozesse zu beschreiben: wenn hier tatsächlich ein spirituelles Angebot simuliert worden wäre. Aber Norman Hacker lächelt die Figur nur dröge weg. Es rauscht und raschelt, hippelt und trippelt auf der Papierschnipsel-Bühne. Doch es passiert, sobald die Farbtupfer einmal gesetzt sind, nichts weiter. Klamotte wird gespielt, und zwar so gründlich, dass auch der rahmende Clash der Zivilisationen Klimbim bleibt, eine Chorusline des Prekariats. Gerade so, als ob da im ganzen Ensemble nicht die geringste Korrespondenz für eine Suchbewegung auf schwankendem Boden wäre. Oder sind die Erwartungen an Gotscheff hier in Berlin zu hoch? Offenbar ein Wohlstandsproblem, so oder so.

 

Tartuffe
von Molière
übersetzt von Benno Besson und Hartmut Lange, angereichert mit Heiner Müller
Inszenierung: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Barbara Aigner.
Mit: Paula Dombrowski, Christoph Rinke, Angelika Thomas, Helmut Mooshhammer, Andreas Döhler, Anna Blomeier, Norman Hacker, Peter Jordan, Judith Rosmair.

www.thalia-theater.de

Alles zu Dimiter Gotscheff auf nachtkritik.de im Lexikon.

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