Geschichten von den fremden Eltern

von Klaus Witzeling

Hamburg, 14. August 2009. Erinnern kann mit einem zufällig gefundenen Kleidungsstück beginnen. Liza hält sich die Jeans ihrer Mutter aus den Siebzigerjahren an – und die Hose passt ihr. Eine Motorradfahrt mit den Eltern kommt ihr in den Sinn. Und bei E-Gitarre-Spiel und Ventilator-Wind erlebt sie noch einmal den Kick und das freie Gefühl des damaligen Trips.

Sechs Schauspieler rollen im biografischem Erzähltheater "Mi Vida después" (Mein Leben danach) von Lola Arias verschiedene Kapitel der Geschichte ihrer Kindheit und die Schicksale ihrer Eltern während der Militärdiktatur in den Siebziger Jahren in Argentinien auf. Die europäische Erstaufführung (auf Spanisch mit deutschen Untertiteln) beim Internationalen Sommerfestival Hamburg 2009 in der Kampnagelfabrik eröffnete die Gastspielreise der Koproduktion zu Festivals in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Haut der Väter
Unter den Geschichten ist auch die von Vanina, der Tochter eines Geheimagenten. Sie und ihr Bruder müssen entdecken, dass er als Kind von dem Mann geraubt wurde, den er bisher für seinen Vater hielt. Nun hat Juan einen Prozess gegen ihn eingeleitet und seine wahre Familie wiedergefunden. Trotzdem bleibt Vanina für immer seine Schwester. Marianos Vater, ein Rennfahrer und Redakteur, bei einem Militäreinsatz entführt und verschwunden. Nun hört Mariano mit seinem vierjährigen Söhnchen ein altes Tonband ab, auf dem sein Vater mit ihm spricht, als er, Mariano, ebenso alt war.

Ein anrührender Moment, zu dem die Regisseurin jedoch gleich wieder humorvoll Distanz herstellt – durch die Schildkröte des Vater von Bal, einer anderen Figur des Stücks, der früher einmal Priester war. Deshalb läuft Bal jetzt in einer Soutane herum. Denn die Suche nach den Eltern bedeutet auch immer die Suche nach ihnen in sich selbst. Oder einen Akt der Befreiung. Und so schlüpfen die Spieler in die Kleider ihrer Väter, wie in ihre Haut. Manchmal stellen auch einen Tagesablauf nach.

Gefühle, Geheimnisse, Projektionen
Schon Pablos Großvater gehörten die Tanzstiefel: "Er züchtete Rennpferde, mein Vater war Bankier, ich bin Tänzer." Die drei Generationen verbindet nur eines: Die Liebe zum Volkstanz Malambo und das von Generation zu Generation weitergegebene Paar Tanzstiefel. Neben argentinischer Zeitgeschichte erzählt Arias allgemeingültig auch von der Beziehung oder Nichtbeziehung zwischen Eltern und Kindern an sich. Von Gefühlen, Geheimnissen, Projektionen.

Arias, geboren 1976, arbeitet seit zehn Jahren in Buenos Aires als Autorin, Musikerin, Schauspielerin und Regisseurin. Sie hat mit Stefan Kaegi von Rimini Protokoll Airport Kids inszeniert, eine dokumentarische Collage über die Nomadenkinder in der globalen Gesellschaft. Elemente daraus finden sich abgewandelt auch jetzt in "Mi Vida después" wieder: die Zeitleiste mit den Geburtsjahren oder eine Traumsequenz.

Reise in die Erinnerung
Dass der Zuschauer vielleicht manchmal den Faden der einzelnen Biografien im szenischen Gewebe verliert, fällt weiter nicht ins Gewicht. Denn die verschiedenen Erzählebenen erhalten Aufmerksamkeit und Spannung auf der sachlichen Bühne mit dem Kleiderberg, den darauf verteilten verschiedenen Sesseln und Arbeitstischen.

Ein Bericht wird von szenischem Spiel abgelöst. Die Monologe werden von projizierten Fotos, Erinnerungstücken, ein Familienfilm, Songs, Musik oder Tanz begleitet. In einem ausbrechenden Schlagzeugsolo spielt sich Carla Schmerz und Wut über ihren nie gekannten Vater von der Seele. Er ist vier Monate vor ihrer Geburt erschossen worden. Eine der wenigen großen Momente, in denen sich bei dieser Reise in die Erinnerung ohne viele Worte oder Bilder das Leiden an der Geschichte ebenso erschütternd wie unsentimental mitteilt.


Mi Vida después (Mein Leben danach)
von Lola Arias
Regie: Lola Arias, Bühne: Ariel Vaccaro, Musik: Ulises Conti zusammen mit Liza Casullo und Lola Arias, Choreografie: Luciana Acuna, Kostüm: Jazmin Berakha, Licht: Gonzalo Cordóva, Video: Marcos Medici.
Mit: Blas Arrese Igor, Liza Casullo, Carla Crespo, Vanina Falco, Pablo Lugones, Mariano Speratti, Moreno Speratti de Cunha.

www.laolaarias.com.ar
www.kampnagel.de


Mehr lesen? Mit Stefan Kaegi inszenierte Lola Arias im Sommer 2008 in Lausanne ein Stück über die Träume der Kinder der Globalisierung Airport Kids. Ein Stück der argentinischen Theatermacherin und Dramatikerin war im Mai auch beim Berner Autorenspektakel zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Kampnagel-Festivalleiter Matthias von Hartz habe mit der Einladung des argentinischen Shootingstars Lola Arias und ihrem neusten Stück "Mi Vida después" in jedem Fall "einen Coup gelandet", schreibt Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (17.8.). Um die offenbar "eigenen, wahren Geschichten" ihrer Schauspieler zu erzählen, reichen der Regisseurin "einfachste Mittel", Klamotten-Versatzstücke, "mit denen sich die Schauspieler in ihre eigenen Väter und Mütter verwandeln", dazu Mikrofon und Leinwand. Der Abend bewege sich "sehr sicher auf dem schmalen Grat zwischen Dokumentartheater und Nostalgieshow". Dazu komme eine "sehr geschickte Dramaturgie", bei der jeder immer nur ein Stück seiner Geschichte erzähle und dann den Staffelstab weitergebe, so dass sich erst am Schluss "die zum Teil erschütternden Hintergründe" enträtselten. Außerdem habe Arias die sechs Schauspieler geschickt "so ausgewählt, dass über deren Eltern ein vermutlich ziemlich repräsentatives Bild der damaligen argentinischen Gesellschaft entsteht". Doch das Erstaunliche dieses Abends sei vor allem, dass die "Identifikation auch hierzulande funktioniert", es finden sich "gemeinsame Bezugspunkte", die "unsere Sucht nach dem Persönlichen, Authentischen (...) und durchaus auch dem Banalen" bedienten.

Auch Stefan Grund (Welt, 19.8.) ist angetan: "Das Stück geht in vielen Bildern unter die Haut." Die sechs Biographien der Darsteller sind "nicht direkt erzählerisch verknüpft, sondern nebeneinander gestellt". So entstehe ein komplexes Gesamtbild, und am Schluss "steht die Erkenntnis: Niemand kann etwas für seine Eltern, ob sie nun Täter waren oder Opfer, Widerstandskämpfer oder gar deren Opfer. Die Frage ist nur: Wie gehe ich damit um?" Fazit: Lebendig, kraftvoll, lebensfroh und todtraurig wirke dieses Puzzle von Schicksalen.

 

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