Pollesch in den (Kulturhaupt)städten

von Regine Müller

Istanbul, 12. Mai 2010. Taugt original deutsches Text- und Diskurstheater zum internationalen Export? Funktioniert Polleschs Globalisierungs- und Kapitalismuskritik auch noch an der Schwelle zum Orient? Oder ist schon die Sprachbarriere ein unüberwindliches Hindernis? Und muss nicht René Polleschs sehr spezifische Theaterästhetik anderswo in der Welt eigentlich doch zwangsläufig auf Befremden, Unverständnis, oder schlimmer noch, Desinteresse stoßen? Oder beruhen solcherart Fragen am Ende auf Vorurteilen?

All das war zu überprüfen, als im Rahmen des Austauschs der beiden diesjährigen Europäischen Kulturhauptstädte Essen/RUHR2010 und Istanbul 2010 nun der zweite Teil der Ruhrtrilogie "Cinecittà aperta" während des 17. Internationalen Theater Festivals in Istanbul Premiere hatte. Das kleine Haldun Taner Sahnesi Theater, ein ehemaliges Kino auf der asiatischen Seite der 15-Millionen-Metropole war voll, das Publikum hellwach und spürbar amüsiert, der Applaus kurz und heftig und die anschließende ausführliche Diskussionsveranstaltung gut besucht.

Mülheimer Open-Air-Action aus der Konserve
Die Mülheimer Uraufführungsversion vom letzten Jahr ist auf die völlig veränderten Aufführungsbedingungen des Gastspiels am Bosporus eigens angepasst und natürlich türkisch übertitelt worden. In Mülheim spielte "Cinecittà aperta" open air auf einer riesigen Brache, das Publikum saß unter einem an den Seiten offenen wackeligen Zelt auf weißen Plastikstühlen, die Bühne war das öde Gelände, auf dem sich weit verstreut ein paar Caravane, eine kleine Bühne und in der Ferne ein paar angedeutete Filmkulissen verteilten.

Direkt vor der Nase hatten weiland die Zuschauer eine Leinwand, auf der mal schwarzweiß, mal farbig per Video übertragen wurde, was sich in den Wohnwagen oder in weiter Entfernung abspielte. Die Schauspieler hatten enorme Entfernungen zu überwinden und wilde Autofahrten würzten das chaotische Geschehen.

In Istanbul nun gibt es nur eine karge kleine Bühne, einen geblümten Vorhang, Projektionsflächen und sonst nichts. Aus der Konserve kommt nun per Video das, was in Mülheim an open air-Action aufgezeichnet wurde, dazu die übliche Live-Kamera, die den Schauspielern backstage und zu einigen hinreißenden Episoden im wimmelnden Umfeld des Theaters direkt an einer Anlegestelle nach draußen folgt.

Fontana di Trevi in Istanbul verzweifelt gesucht
Wie es Brauch ist bei Pollesch, gab es bereits in Mülheim keine Handlung im traditionellen Sinne. Die Textmassen verteilen sich auf drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler, die zwar im Programmheft unter Rollennamen geführt werden, tatsächlich aber die Rollen, Identitäten und Geschlechter laufend wechseln. In Istanbul kann durch die zusätzliche Verfremdungsebene der eingespielten Mülheim-Sequenzen noch viel weniger von einer Handlung die Rede sein.

Nach wie vor aber ist pausenlos die Rede davon, dass angeblich ein Film gedreht werden soll, aber man weiß nicht genau, ob überhaupt und wenn ja, was für ein Film. Catrin Striebeck als "Pauline Boetzke" sucht auch in Istanbul verzweifelt nach dem berühmten Trevi-Brunnen, aber offensichtlich wird noch immer nicht "La dolce Vita" gedreht und stattdessen ist von "Rote Erde" die Rede, einer Bergarbeiter-Fernseh-Saga aus den Achtzigern.

Am Bosporus auf den Punkt gebracht
Ansonsten spielt sich die Istanbuler Version von René Polleschs postdramatischem Hochgeschwindigkeits-Theater in nochmals beschleunigter Drehzahl vorwiegend auf der kleinen Theaterbühne ab, wo die Schauspieler des Öfteren bloß herumstehen und im hämmernden Stakkato ihre Diskursgirlanden aus sich herausstossen. Das bisweilen Statuarische dieses Istanbuler Abends ist jedoch kein Nachteil, es scheint vielmehr Polleschs Theater sogar auf den Punkt zu bringen.

Denn die Überforderung durch die Textmassen in ihren ständig wechselnden Kontexten wird durch die sich teils selbst überholenden Schauspieler, die mit enormer Verve arbeiten, gleichsam verkörpert. So mäandert es denn fröhlich analysierend, ironisierend und hysterisierend um Darwin und Marx, Foucault und Agamben, Helmut Kohl und Marcel Reich-Ranicki. Und die Istanbuler vergnügen sich bestens. Polleschs Kapitalismuskritik und die Klage über die totale Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse müssen offenbar in einen anderen kulturellen Kontext nicht übersetzt werden. Denn diese Globalisierungskritik ist offenbar selbst global.


Cinecittá Aperta
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Kamera: Ute Schall, Andreas Deinert, Dramaturgie: Aenne Quiñones.
Mit: Inga Busch, Christine Gross, Martin Laberenz, Trystan Pütter, Catrin Striebeck

www.iksv.org
www.ringlokschuppen.de

 

Offenlegung: Regine Müller ist auf Einladung des Festival RUHR.2010 und dem Mülheimer Kulturhauptstadtbüro nach Istanbul gereist.

Bei der Mülheimer Uraufführung im Juni 2009 war Sarah Heppekausen. Teil eins der Ruhrtrilogie Das Tal der Fliegenden Messer, hat Regine Müller gesehen. Teil drei kommt am 18. Juni 2010 in Mülheim heraus.

 

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