Wir leben in einer Welt mit zu viel Wurst

von Sarah Heppekausen

Bochum, 26. Juni 2010. Nur drei Stühle brauchen die einen; ein Sofa, zwei Gitarren und eine Trapezschaukel andere. Einer bringt sich eine Leiter, einen Jutesack und einen Pappkarton mit; einem anderen reichen vier Lichtkegel. Das Bühnenbild wird im Bochumer Schauspielhaus an diesem Wochenende gnadenlos vernachlässigt. Das ist kein ästhetischer Mangel, sondern Konzept. Stücke, die ohne Kulissen und Dekorationen spielbar sind, so lautete die Anforderung an die Autoren des Festivals "Ohne alles".

In 27 Uraufführungen präsentiert das Haus die Ergebnisse. Minidramen mit maximal drei Personen, die Inszenierungen dauern höchstens 25 Minuten. Darunter sind Sozialdramen (wie Lutz Hübners "Shaleen", Claudia Grehns "Deutschland hat kein Geld"), Selbstreferentielles (Marc Beckers "Der Textmann"), ein Monolog aus Leben füllenden Fußballweisheiten im Ruhrpott-Slang (Christoph Nußbaumeders "Die Einsamkeit der Fußballfelder") oder auch ein überstrapaziert konstruiertes Horrorszenarium (Ulf Stengls "Erde.Nass.Gras").

Am Anfang brannte ein Lager mit Kulissen und Requisiten

Es ist mittlerweile die dritte Auflage des Autorenfestivals. Als im September 2006 das Außenlager des Theaters mit Bühnenbildern, Requisiten und Kostümen abbrannte, war der Spielzeitstart in Gefahr. Das Schauspielhaus eröffnete trotzdem pünktlich, mit reichlich Sachspenden der Bochumer Nachbarn und Leihgaben der Theater aus ganz Deutschland.

Intendant Elmar Goerden verdankt dem Feuer aber nicht nur tatkräftige Solidarität von vielen Seiten, sondern auch eine hervorragende Idee. Das Nichts wurde zur Voraussetzung, die leere Bühne zur Arbeitsbedingung. Einige Monate später feierten die Bochumer das Festival "Ohne alles" zum ersten Mal. Es war ein Erfolg, Goerden startete deshalb auch ein Jahr später seinen Aufruf an die Gegenwartsdramatiker. Dass er sich nun nach fünf Jahren Intendanz mit dem "Ohne alles 3"-Festival aus Bochum verabschiedet, ist gut und richtig. Es ist das glückliche Ende einer über weite Strecken unglücklichen Intendanz.

Der Chef verlässt das Schauspielhaus wehmütig. So sagt es zumindest Justine el Corte, die für das Festival und ausdrücklich für den Intendanten das Stück "Am Ende - Ohne alles" schrieb. Goerden selbst steht am Ende des Tages auf der Bühne, gibt den Schauspieler, der den richtigen Abgang probt. Der Text ist der realen Theaterprobe abgeschaut, glänzt weder mit sprachlichen noch mit dramaturgischen Raffinessen.

Stücke im Minutentakt

Goerden gebärdet sich wie ein großer Junge, der sich von seinem Lieblingsspielzeug verabschieden soll, unter der Regie von Marco Massafra probiert er das Seufzen, den entschiedenen und den langen Blick einer Liebeserklärung. Das Publikum dankt es ihm mit Standing Ovations. Wahrscheinlich ist es der Wiedererkennungswert, der wirkt.

An diesem Wochenende gibt es Stücke im Minutentakt, parallel an allen drei Spielorten. Ein Uraufführungsmarathon, der Ensemble und Zuschauer zu Höchstleistungen reizt. Manches Dramolett wirkt aufputschend, anderen täte eine Verschnaufpause gut. Paul Brodowskys "In diesem Moment" zum Beispiel. Der 30-jährige Autor, der für sein Stück "Regen in Neukölln" mehrfach ausgezeichnet wurde, blickt in seinem Kurzdrama aus den Augen einer Frau und zweier Männern auf Alltägliches. Mal nach- mal mit-, mal nebeneinander her erzählen sie von Krankenversicherung, Pornofilmen, Beziehungen und Vatervergehen.

Brodowsky schreibt schöne Sätze wie "Lenk mich nicht ab. Ich versuche in den Tag reinzukommen." Aber seine Figuren haben keine Zeit, sich zu entwickeln, sich zu formen. Da bleiben viele Fragezeichen nach zwanzig Minuten, bleibt vieles Fragment. Dabei hatten Karin Moog, Klaus Lehmann und Sebastian Zumpe gerade angefangen, den Zuschauer sogartig für ihre Figuren zu interessieren.

Puppenbett und Trainingshose

Gut funktioniert das kurzweilige Konsumieren bei Verena Unbehauns absurd-amüsantem Stück "Wand Wurst Telleraugen", das Cornelius Schwalm am "Tag der offenen vierten Wand" als schrägen Selbstfindungs-Monolog präsentiert. "Wir leben in einer Welt mit zuviel Wurst" meint der Typ in Trainingshose, der endlich keine Wurst mehr sein will und deshalb in die Hauptstadt zieht, der im Puppenbett schläft und die Wohnung räumt, weil sein Hund "Mach Platz!" gesagt hat. Ihm bleibt am Ende nur das Entertainment bis zum bitteren Ende. Denn: "Das Bühnenbild ist eben besser als der öffentliche Nahverkehr. Obwohl da mehr Leute gucken, wenn man sich auszieht."

Philipp Löhle, dessen Stücke "Genannt Gospodin" und "Die Unsicherheit der Sachlage" in Bochum uraufgeführt wurden, formuliert in "Kennsedas?" das Dilemma des Nicht-Erkennens. Löhle ist schon Profi im Schreiben von Minidramen. Er ist zum dritten Mal beim "Ohne alles"-Festival. Katrin Lindner inszeniert den Zwanzigminüter leider etwas unsanft als komödiantische Comicszene. Die skurrilen Figuren von Jele Brückner, Michael Lippold und Sebastian Zumpe sind zwar lustig, aber das Episodenstück verliert an Spannung.

Überfordert und glücklich berauscht

Auch Anne Habermehl und Thomas Melle, Lukas Linder und Laura de Weck, Darja Stocker und Moritz Rinke haben für die Bochumer geschrieben. Und dann gibt es noch eine Besonderheit zwischen den vielen Gegenwartsdramatikern. Wolfgang Welt. Der ist Schriftsteller und Nachtpförtner am Schauspielhaus. Aus seinem Roman "Doris hilft" hat der Dramaturg Christopher Hanf die Szene "Ute" für die TuT-Bühne entwickelt.

Sehr erfrischend schrammeln sich Christoph Jöde und Maximilian Strestik durch lässige Gitarrenakkorde und die abgerockte Welt dieses Bochumers, der unbedingt mit Studentin Ute Sex haben will. Aus Tagebuchprosa wird ein Bühnenspiel mit Drive. Maximilian Strestik spielt in verquerer Besetzung auch wunderbar den "Textmann". Marc Becker hat einen Text über das Dasein als Textvollstrecker verfasst. "Die Welt ist Text", heißt es da. Und Strestik verfängt sich immer weiter in diesem Textgefängnis.

Ein wenig fühlt man sich bei diesem Festival auch wie der Textmann, überfordert von der Masse an gelieferten Worten, aber glücklich berauscht vom Theater.

 

Am Ende - Ohne alles
von Justine del Corte
Regie: Elmar Goerden, Marco Massafra
Mit: Elmar Goerden, Marco Massafra.

In diesem Moment
von Paul Brodowsky
Regie: Dietmar Böck
Mit: Karin Moog, Klaus Lehmann, Sebastian Zumpe.

Wand Wurst Telleraugen
von Verena Unbehaun
Einrichtung: Verena Unbehaun
Mit: Cornelius Schwalm.

Kennsedas?
von Philipp Löhle
Regie: Katrin Lindner
Mit: Jele Brückner, Michael Lippold, Sebastian Zumpe.

Ute
von Christoph Hanf nach einem Roman von Wolfgang Welt
Regie: Krystyn Tuschhoff
Mit: Dagny Dewath, Christoph Jöde, Maximilian Strestik.

Der Textmann
von Marc Becker
Regie: Christopher Hanf
Mit: Maximilian Strestik.

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Es war ja längst nicht alles so schlecht, wie manche Kritiker es machten am Schauspielhaus in der Ära Goerden", meint Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (28.6.2010). "Der Nachfolger von Matthias Hartmann hatte immer wieder den Mut zu unkonventionellen Formen wie dem Autorenfestival 'Ohne alles'." Bei der dritten Ausgabe dieses Festivals feiere nun die "Leichtigkeit und Heiterkeit, die man an manchen großen Inszenierungen vermisste, (...) ein Bühnenfest." Einen der Höhepunkte markiere Burkhard Klaußner, der in Jan Neumanns Stück "Knolls Katzen" einen Theaterbesucher spielt, dessen Mobiltelefon klingelt: "Hier erkennt man, wie sehr Goerden eine Repertoirelücke erkannt hat: Neumanns furioses Stück trägt eine knappe halbe Stunde - und wird es praktisch nie auf den Spielplan schaffen, weil es keinen Abend füllt. Aber Miniaturen bieten herrliche Unterhaltung - warum nicht mehr solche Programme?" Längst nicht alles sei dem Intendanten Goerden geglückt: "Sein Abgang aber war richtig stark."

 

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