Die Geburt der Brutalität aus den Untiefen des Nicht-Charakters

von Regine Müller

Epidauros, 6. August 2010. Es ist ein Ort von überwältigender Aura: Das antike Theater von Epidauros in der griechischen Peloponnes. Seit dem 4. Jahrhundert vor Christus wird auf dieser monumentalen Freilichtbühne Theater gespielt. Würden gerade nicht Teile saniert, könnten die steil ansteigenden 55 Sitzreihen 14.000 Menschen fassen. Derzeit sind 10.000 Zuschauer zugelassen, ausverkauft ist es allerdings meist nur dann, wenn im Rahmen des Hellenic Festivals sich internationale Hollywood-Stars blicken lassen - wie z.B. Helen Mirren im vergangenen Jahr – oder sehr populäre griechische Regisseure gastieren.

Doch es ist nicht allein die schiere Größe, die überwältigend ist. Die abgeschiedene Lage in den Bergen, der Blick in die Weite, die Anfahrt hinauf, die spüren lässt, dass man sich einem Kraftzentrum nähert, und die selbstverständliche Ruhe, mit der sich dann das riesige Halbrund in die Landschaft öffnet, lassen unwillkürlich ein Gefühl von Erhabenheit entstehen. Einschüchternd. Denn die zwingende Aura des Orts scheint nichts Kleines zuzulassen. Keine Halbheiten. Die Fallhöhe ist hier sozusagen immanent. Diesem Ort kann man sich eigentlich nur ergeben.

Einen Fremdkörper implantieren
Das wusste Thomas Ostermeier natürlich, als er zusagte, erstmalig in Epidauros zu inszenieren. Ostemeier war in den vergangenen Jahren mit seinem Ensemble der Berliner Schaubühne schon mehrfach beim Hellenic Festival zu Gast, aber noch nie in Epidauros. Und Shakespeares "Othello" steht der Wucht der griechischen Tragödien kaum nach. Doch Ostermeier gab vorab zu Protokoll, dass er gedenke, mit dem Ort auf widerständige Weise umzugehen. Einen Fremdkörper wolle er dort implantieren und einen Kontrapunkt setzen.

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© Evie Fylaktou

Die Weite des Blicks hat Jan Pappelbaum mit einer Rückwand verstellt. Ein Vorhang aus flatternden Bändchen ermöglicht Auf- und Abtritte, zwei Schiebewände mit Leuchtstoffröhren sorgen für sparsame Verwandlungen. Auf der Bühne, der alten Orchestra, steht mehr als knöcheltief brackiges Wasser. Mal schimmert es violett, dann schwarz, dann dunkelrot, zwischendurch wird es fast zur Gänze abgelassen, später läuft das Becken wieder ganz voll. An den Rändern stehen Stühle im Wasser, die Protagonisten bleiben während des ganzen, fast dreistündigen Abends fast ununterbrochen präsent, in der Mitte steht anfangs ein großes Bett, das rasch hinaus geschoben wird und erst zu Desdemonas Röcheltod wieder zu Ehren kommt.

Normalo ohne Dämonie
Der Abend beginnt mit einem langen Trompetensolo von Nils Ostendorf, eine kleine Band mit Keyboard, Schlagzeug und Saxophon assistiert und die Schauspieler betätigen sich als klopfende Rhythmusgruppe. Das dauert. Dann endlich geht es los, der kahlköpfige, weiße Othello (Sebastian Nakajew) zieht sich aus und bemalt sich hier und da mit schwarzer Farbe, Desdemona (Eva Meckbach) lässt das Höschen an, man schmust angeregt, dann wird das Paar ins Bett gestopft und hinaus geschoben.

Das Drama beginnt zunächst als beiläufiges Konversationsstück. Alle eigentlich ziemlich normal hier. Jago (Stefan Stern) ist ein aufgekratzter Karrieretyp, nervös, geschäftig und mit schnoddrigem Witz begabt, Othello ein bisschen verspannt, Desdemona verhalten schüchtern, aber bodenständig. Marius von Mayenburg hat für Epidauros – und für Berlin, denn im Oktober kommt die Inszenierung an der Schaubühne heraus – eine neue Textfassung geschrieben, die Shakespeares Dramaturgie zugunsten Jagos verschiebt.

Er ist das umtriebige Zentrum des Abends, ein alerter, nicht einmal uncharmanter Netzwerker-Typ, der ständig seine Fäden zieht, sich zwischendurch als Show-Conferencier im weißen Sakko mit Glitzer-Revers verdingt und das ein oder andere Tänzchen wagt. Stefan Stern gibt ihn konsequent als Normalo ohne jede Dämonie, dessen Brutalität in den geheimnislosen Untiefen eines Nicht-Charakters wurzelt.

Crescendo der Selbstzerstörung
Ganz anders Sebastian Nakajews Othello, der sich vom unsicheren Kraftpaket schnaubend und zitternd zur Kampfmaschine aufpumpt und sich in (viel zu langen) epileptischen Krämpfen windet. Überhaupt hätte man Nakajews schwitzendem Furor Einhalt gebieten sollen, denn zusehens rutscht sein Crescendo der Selbstzerstörung ins Überdeutliche, Groteske ab, das den finalen Szenen etwas Hilfloses gibt. Was wohl insgesamt eine Frage des Timings ist, das Ostermeier – auch der kurzen Probezeit geschuldet – noch nicht im Griff hat.

Zu oft hängt die Spannung trotz flotten Grundtempos durch, zu oft knirschen die Übergänge noch, zu stark versickert die anfangs sehr dominante Musik von Nils Ostendorf im Verlauf. Leider hat man legendären Akustik der antiken Architektur lieber doch nicht vertraut, weshalb Mikroports zum Einsatz kommen. Das hat wie immer eine leicht verfremdende, abkühlende Wirkung

Ostermeier erzählt linear, fast konventionell und führt sein Personal bis auf die Schwächen im Timing souverän und locker. Ein klares Konzept indes will sich nicht recht herausschälen und in der Summe lässt der Abend eigenartig kühl. Trotz mediterraner Hitze.


Othello
von William Shakespeare
Deutsch von Marius von Mayenburg
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Nina Wetzel, Musik und Musikalische Leitung: Nils Ostendorf, Video: Sebastian Dupouey, Dramaturgie: Marius von Mayenburg, Licht: Erich Schneider
Mit: Thomas Bading, Niels Bormann, Ulrich Hoppe, Erhard Marggraf, Eva Meckbach, Sebastian Nakajew, Stefan Stern, Tilman Strauß, Laura Tratnik, Luise Wolfram.

www.greekfestival.gr
www.schaubuehne.de


Offenlegung: Für die Unterbringung in Epidauros sorgte das Festival.


Mehr lesen? Auch Thomas Ostermeiers vielgereister und -gerühmter Hamlet mit Lars Eidinger kam ebenfalls beim Hellenic Festival (allerdings in Athen) heraus. Sebastian Nakajew und Eva Meckbach waren als Liebespaar mit tödlichem Beziehungsende auch in Volker Löschs Schaubühnenversion von Berlin Alexanderplatz zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Das Wasserbecken, das Jan Pappelbaum auf die griechische Othello-Bühne gesetzt habe, möge "metaphorisch 'Mittelmeer' bedeuten oder, etwas diffuser: 'Überschwemmung der Herzen'", schreibt Reinhard Wengierek in der Welt (9.8.2010): Jedenfalls führe "es zu statischem, buchstäblich stehendem Spiel und unfreiwillig komisch watenden Auftritten und Abgängen." Othello (Sebastian Nakajew) plumpse "schwerfällig als tumber Tor durchs intrigante Geschehen, das Stefan Sterns Jago unentwegt wie eine geschwätzige Hexe beschwört." Der Rest des tragischen Personals mutiere "leider unversehens zum gänzlich untragischen Deppenchor. Fader Tragödchenbrei, auf Sparflamme gekocht wie das heurige 'Hellenic Festival'. Keinerlei Fallhöhe vom Erhabenen ins Elende, vom Süßen ins Säuische, vom Reinen ins Dreckige. Hingegen viel gespreiztes Gerede und läppischer Jargon in Marius von Mayenburgs Übersetzung."

Christine Dössel beschwört in der Süddeutschen Zeitung (10.8.2010) die magische Aura des antiken Theaters von Epidaurus. "Diese also wirken lassend, beginnt Ostermeiers Inszenierung durchaus vielversprechend mit einer langen musikalischen Session." Wie aber schon die Unterzeile ihres Texts, Aufmacher des Feuilletons, verrät, geht Thomas Ostermeier mit diesem "Othello" aus ihrer Sicht ziemlich baden. Nach der Anfangsszene sei der Zauber weg, und "man mag kaum glauben", schreibt Dössel, "aber es herrscht streckenweise eine so nachthimmelschreiende Unbeholfenheit und statische Kneipperei, dass man denen da vorne am liebsten das Wasser ablassen und ihnen damit den Kopf waschen würde. Hallo Leute, seid ihr Schaubühne, oder was?" An Stefan Stern liege das nicht. "Der ist als Jago der Mittelpunkt, der Entertainer, der zynische, überhitzte, permanent sich verausgabende Spielmacher des Abends." Othello sei bei Sebastian Nakajew allerdings kein Schwarzer - diese Rassismus-Geschichte interessiere Ostermeier nicht -, "sondern ein zwar körperlich imposanter, insgesamt aber doch etwas schwerfälliger, um nicht zu sagen: begriffsstutziger Aufsteiger aus der Unterschicht, der seine niedere soziale Herkunft durch umso angepassteres Gebaren im Stile eines konventionellen Aufsagetheaters auszugleichen sucht." Das quadratische Wasserbecken wisse zwar mit den Spiegelungen, Videos und Lichtreflexen unter dem nachtschwarzen Sternenhimmel zu beeindrucken, aber neu sei es nicht: "Auch Karin Neuhäuser hatte sich 2007 für ihre vom Schauspiel Frankfurt importierte 'Orestie' einen Pool in das Bühnenrund bauen lassen."

Die einzigartige Atmosphäre des Ortes bleibe erhalten, aber zugleich schaffe Jan Pappelbaums Bühnenbild Intimität im offenen Raum, so Hartmut Krug in DLF Kultur heute (8.8.2010). Die neue Prosa-Übersetzung von Marius von Mayenburg gebe mit ihrem nüchtern coolen Ton Jago viel Raum und Wirkungsmöglichkeiten, und sein Darsteller Oliver Stern nutze dies kräftig. "Allerdings treibt Stern seinen Jago, während dieser sich und dem Publikum seine Intrige gegen Othello erklärt, in eine allzu zappelige gestisch-mimische Überdeutlichkeit." Dagegen wirke Sebastian Nakajews kahlköpfig massiger Othello unbeweglich, wenn er nicht gerade ausführlich durch einen epileptischen Anfall rase. Die verdruckste Körperhaltung dieses Aufsteigers, kein Schwarzer, sondern ein Weißer, signalisiere die Unsicherheit eines Mannes, der seinem Glück nicht traut. Fazit: "Ostermeiers pausenloser, zweieinhalbstündiger 'Othello' beginnt mit Schwung und Witz, fällt jedoch in immer tiefere Spannungslöcher und wirkt inszenatorisch noch unfertig. Da nicht viel Probenzeit zur Verfügung stand, wird an ihm sicher vor der Berliner Premiere am 9. Oktober noch gearbeitet werden."

Aus Epidauros reist die Inszenierung im Oktober 2010 an die Berliner Schaubühne, aber auch hier wird ihr der Lorbeer von der Kritik versagt:

Der bombastische Beginn der Inszenierung lasse "noch in Berlin spüren, dass er in Epidaurus vor allem einen Zweck hatte: der Wucht des Ortes etwas irgendwie modern Wuchtiges entgegenzusetzen", schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (11.10.2010). Anschließend aber bemühe die Inszenierung zwar viele Mittel, von allem aber nur "ein bisschen". Es werde "stringent und zügig heruntererzählt. Innere Dramatik will aber nicht recht aufkommen", wenn "die Handlung mehr vorgespielt denn gespielt" werde. "Und die Schauspieler sind schlicht überfordert." Mit einer Ausnahme: "Stefan Stern zeigt die Banalität des bösen Rumpelstilzchen, flüstert hier, nuschelt und schleimt dort und gibt Jago als Streber, den die Enttäuschung zum großäugigen Giftzwerg gemacht hat."

 

Kommentare  
Ostermeiers Othello: jedes Zeichen impliziert Wiederholung
Mir würden noch "Aars!" (2001) von Luk Perceval oder "Prometheus, gefesselt" (2009) von Jossi Wieler einfallen, wo ein ähnliches Wasserbassin die Bühne bestimmte. Ist der Vergleich hier also wesentlich? Schließlich impliziert jedes Zeichen die Wiederholung seines früheren Gebrauchs.
Ostermeiers Othello: zu kurz?
Finden Sie dreieinhalb Monate Proben wirklich kurz?
Ostermeiers Othello: in Epidaurus selbst
@ ich: Hat mich auch gewundert, aber Regine Müller bezieht sich hier wohl auf die kurze Probenzeit in Epidaurus selbst, was natürlich "geschummelt" ist. Und ausserdem kann sich doch sowieso jeder denken, dass Ostermeier länger geprobt haben muss.
Ostermeiers Othello: Konditionalseufzer
...wenn´s geholfen hat...
Ostermeiers Othello: laaaaaaaangweilig
Man, war das laaaaaaaangweilig. Wenn man diesen kühlen, kontrollierten, humorlosen und niemals aufflammnden Othello mit dem von Perceval 2005 vergleicht, dann reicht das höchtens für die Oberliga.
Ostermeiers Othello: epische Form als Kritik
Entweder hat mich meine Wahrnehmung getäuscht oder. Aber ich möchte hier gern mal ein paar Verständnisfragen loswerden:
Kann es nicht sein, dass die Inszenierung von der epischen Anlage her auf die Form des Theaters als oberflächlichen und inszenierten Schein verweist (wovon Stefan Stern als Jago auch zu Beginn spricht), welcher dennoch als "wahr" angenommen wird? Geht nicht auch Othello am Ende genau daran zugrunde, nicht mehr zwischen Täuschung/Verrat/Intrige und "Wahrheit" unterscheiden zu können? Ist die epische Form nicht auch eine Kritik am Inhalt? Wird nicht erst dadurch bewusst, dass wir eben gerade nicht frei, sondern immer in bestimmte gesellschaftliche Machtstrukturen (von gender, race, class) eingebunden sind bzw. durch innere Triebe bestimmt werden, was beides nicht vollends durch das einzelne und als autonom angenommene Individuum kontrolliert werden kann? Muss die epische Form die Einfühlung ausschließen? Ich war jedenfalls irgendwann trotzdem "voll drin". Erinnert das Bühnenbild nicht auch an Pappelbaums "Woyzeck"-Tümpel bzw. das "Hamlet"-Bühnenbild (der Vorhang bzw. hier die sich verschiebenden Wände als Video-Projektionsflächen)? Erinnert die Band auf der Bühne nicht auch an die Band des "Sommernachtstraums"? Erinnert das Bett nicht auch an das Bett in "Zerbombt"? Was macht Ostermeier hier? Zitiert er sich selbst? Im Sinne von: Es gibt kein Original, es gibt immer bloß Kopien?
Ostermeiers Othello: pulsierender Ska
Warum ist eigentlich keinem der Kritiker aufgefallen, dass die Musik von Nils Ostendorf der Ska ist, dessen ursprüngliche, jamaikanische Welle Anfang der 1960er Jahre entstand? Das vibriert und pulsiert in den Sinnen und Nerven von Darstellern und Zuschauern, es treibt zu Beginn in die Erotik und am Ende in die Zerrüttung.
Othello an der Schaubühne: das Theater selbst
Am Anfang ist hier nicht das Wort, sondern die Musik. Thomas Ostermeier stellt, oder genauer setzt, vier Musiker um seinen musikalischen Leiter Nils Ostendorf auf die Bühne und überlässt der Musik die Einstimmung. Dazu wird ein nackter Othello zunächst von Desdemona mit schwarzer Farbe bemalt, anschließend wird er per Videprojektion mit verrauschten Bildern angestrahlt. Anschließend landet er mit Desdemona auf dem Bett und unter der Decke, die dabei ebenfalls als Leinwand dient. Bett und Paar werden herausgeschoben und damit gleichsam entsorgt. Die Show gehört anderen.


Das ist zweifellos schön anzuschauen, eindrucksvolle Bilder gibt es wie so oft bei Ostermeier zur Genüge. Und auch die Botschaft ist klar: Othello, der Schwarze in einer weißen Gesellschaft, als Projektionsfläche, als Außenseiter, weil die Gesellschaft ihn als "anders" bestimmt und markiert. Das ist so einleuchtend wie wenig originell wie harmlos. Denn hier werden nur oberflächliche Bilder auf Basis plumper Metaphern erschaffen, eine aschlüssige Interpretation ergibt sich daraus nicht. Denn der Othello, den wir danach sehen, ist sehr wohl Teil dieser Gesellschaft, er grenzt sich vielmehr selbst aus. Was bei Shakespeare durchaus gesellschaftlichen Zündstoff besitzt, hier wird es zu bloßen Eifersuchtsdrama.


Das ist auch nicht überraschen, denn Ostermeiers Interesse gilt nicht Othello, den braucht er nur als Anlass und Opfer. Er ist beileibe nicht der erste, der Othello als Jagos Stück interpretiert, das Desinteresse, das er allen anderen und allem, was nicht Jago ist, entgegenbringt, ist aber doch erstaunlich und tut der Aufführung nicht gut. Und das liegt sicher nicht an Stefan Stern, der einen jugendlichen, kontrollbesessenen, wachen, unter Strom stehenden, manipulativen, vor allem aber spielwütigen und spielfreudigen Jago gibt. Stern sorgt für die wenigen Höhepunkte und hält den Abend, so weit es geht, zusammen.



Ostermeier, das wird in Jagos ersten Worten schon klar, thematisiert hier das Theater selbst. Jago ist Regisseur und Schauspieler, Alleinunterhalter und Conférencier. Die Bühne ist eine Bühne - und eine Spielwiese, verkleidet als Planschbecken, denn ja, es wird mal wieder im Wasser gespielt - Jossi Wieler und andreas Kriegenburg haben es in der letzten Spielzeit vorgemacht. Im Hintergrund vertikale Neonröhren, natürlich verschiebbar, dahinter wie es scheint, der semitransparente Vorhang aus Ostermeiers Hamlet. Und wem das noch zu subtil ist, der bekommt Mikros vorgesetzt und Videosequenzen von Las Vegas. Hier geht es um Entertainment, klar?


Und doch, auch das zieht Ostermeier nicht durch. Denn wenn sich dann das Drama dann endlich entfaltet, ist von einem interpretatorischen Ansatz herzlich wenig zu spüren. Da wird müde vor sich hingespielt, da wird deklamiert und werden Gefühle inszeniert, als wäre man bei Peter Stein. Plötzlich hat Ostermeier keine Einfälle mehr, die darüber hinaus gehen, dass Othello Jago droht, in dem er seinen Kopf unter Wasser drückt. Das eigentliche Spiel ist dann fast regiefrei und gemahnt doch sehr an die üblichen Provinzbühnenklischees.


Für die Schaubühne ist das zu wenig und für Ostermeier eigentlich auch. Ein paar hübsche Einfälle machen eben keine gute Inszenierung, wenn man sie zum einen nicht durchzieht und zum zweiten kein erkennbarer interpretatorischer Ansatz zu sehen ist, der länger als ein oder zwei Szenen anhält. Warum Ostermeier den Othello aufführen wollte, verrät seine Inszenierung nicht.

http://stage-and-screen.blogspot.com/
Othello an der Schaubühne: vier Gestalten im Mittelpunkt
Verwunderlich, dass es dem omnipräsenten, von exzessiver Kommentierlust angetriebenen Extremposter Stefan bei „Othello“ die Sprache verschlagen hat.
Im Anfang war das Wasser. Und Ostermeier sah, dass das gut war. Dann legte er eine rhythmische Klangfläche darüber. Um sich nicht selbst zu zitieren, fehlte der Drive von „Sommernachtstraum“, der hier durch viel Perkussion ersetzt wird und ein Gefühl globaler Weite erzeugt.
Rund um das Wasser sind die Akteure platziert, auf gesäßfeindlichen Stühlen, die normalerweise fürs Auditorium von Vorträgen vorgesehen sind. Wenn Herr Schäfer im „Tagesspiegel“ von „modernen Bürostühlen“ spricht, zeigt er hierbei anachronistische Anwandlungen, als habe er seit 20 Jahren kein Büro mehr betreten.
Ohne Zweifel, bei der Vorbereitung des Stückes muss Ostermeier von einem Hauch des Gigantismus angeweht worden sein. Die Bühne ist angefüllt mit einer stattlichen Anzahl von Schauspielern, die kaum in die Handlung eingreifen und eher als Dekor oder Raumfüller fungieren. Bianca (Luise Wolfram) darf etwa vier Sätze sagen, während der viel Bein zeigenden Emilia (Laura Tratnik) geschätzte zehn Sätze zugestanden werden. Trotz seiner weitgehenden Funktionslosigkeit darf Rodrigo (Niels Bormann) wesentlich mehr sagen, obwohl seine Äußerungen kaum Einfluss auf die Handlung nehmen. Was tut er eigentlich? Am Anfang will er sich umbringen, was ihm von Iago ausgeredet wird, dann lässt er sich in der Mitte für fünf Minuten eine Hundeleine umhängen und am Ende klagt er, dass er abgestochen sei. Bading als Vater von Desdemona hätte man genauso gut weglassen können, aber Ostermeier hatte nun einmal den Drang, die Bühne zuzustopfen, um dem Stück einen Zug ins Große zu verleihen.
Im Mittelpunkt stehen vier Gestalten: Othello, Desdemona, Iago und Cassio. Dass Iago in den Brennpunkt des Geschehens rückt, liegt zum Teil an Sterns Temperament und Egotismus – Züge, denen Ostermeier wohl schon während der Proben in einem Anflug vorgezogener Altersmilde nachgegeben hat. Othello wirkt wie ein durch Kraftfutter aufgepeppter Heino Ferch, dessen Robustheit die Leichtigkeit und Eleganz unterminiert. Letztlich löst sich die vermeintliche Kraft in Orientierungslosigkeit auf, Othello wird Opfer einer Intrige und aus dem Stück wird tatsächlich ein Eifersuchtsdrama, dem man eine Straffung und Komprimierung gewünscht hätte. Aber offensichtlich hatte Ostermeier nicht den Mut zu Streichungen, weil er den Blick aufs Kolossale richtete und mehr arrangierte, als inszenierte.
Zurück bleibt ein entnervter Othello, der nicht mehr weiß, was Wahrheit und Lüge ist und die Existenz seiner Geliebten durch eine Mischung aus Strangulieren und Ersticken löscht. Eva Meckbach gelingen einige wirklich hervorragende gestische Leistungen, ansonsten bleibt ihre Rolle zu statisch und festgefahren und sie damit unter ihren Möglichkeiten.
Weiter oben wurde gesagt, Ostermeier thematisiere das Theater selbst. Von derartigen Anwandlungen und Selbstverweisen habe ich in der Aufführung nicht viel gemerkt. Wenn jemand in Othello geht, um eine noch nie da gewesene Variante zu erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Erwartungen enttäuscht werden. Prosperos Gier nach einem neuen interpretatorischen Ansatz brachte es vielleicht mit sich, dass die gelungenen Passagen spurlos an ihm vorübergezogen sind. Goutierbar war das Stück allemal. Leider ist Ostermeier nicht so etwas Großes wie „Nora“ oder „Hamlet“ gelungen.
Othello an der Schaubühne: diese Desdemona bleibt ein Rätsel
Wenn Prospero sich beklagt, er wisse nicht was dieser Othello eigentlich soll, dann gibt Flohbär mit seiner geschlechtsspezifischen Analyse der Satzverteilung einen möglichen Hinweis. Vielleicht wirkte Desdemona deshalb auch irgendwie hilflos.
Also, langweilig war es nicht, aber etwas fehlte. Und die Frau im Mittelpunkt bleibt weiterhin ein Rätsel.
Othello an der Schaubühne: so klischeehaft, so wahr
Auch bei mir bleibt die folgende Frage offen im Raum stehen: Wie ist die Figur der Desdemona bzw. wie sind die weiblichen Figuren hier angelegt? Wenn ich das mit den anderen Frauenfiguren, welche Ostermeier bisher inszeniert hat (beispielsweise Nora, Hedda Gabler, Maria Braun), vergleiche, dann kann ich das devote Verhalten der Desdemona hier (immer wieder spricht sie von "mein Herr") nur als Kritik an der Weitergabe hierarischer Abhängigkeitsverhältnisse lesen.
Anderenfalls wäre es die bloße Fixierung eines über das Stück konstruierten Sexismus ("woman is the nigger of the world"). Es wird für mich nicht deutlich genug, ob dieser Sexismus hier durch die formale Rahmung als episches Theater (der Stuhlkreis) aufgebrochen werden soll oder nicht.
Othello ist da meines Erachtens klarer angelegt. Ostermeiers Lesart nach geht es hier nicht um das Thema des Schwarzen in einer weissen Gesellschaft. Sondern er liest den schwarzen Othello als Projektionsfläche des weissen Mannes, welcher diesem die Potenz neidet und zugleich an seiner eigenen Potenz zweifelt. So klischeehaft, so wahr. Und so tragisch. In diesem Kontext wird auch die Las Vegas-Leuchtreklame offensichtlich, sie steht hier sinnbildlich für das ungehemmte Vergnügen ("enjoy"), welches Othellos Selbstbild und - angeheizt durch Jagos Intrige - sein Vertrauen in Desdemona unterminiert.
Othello an der Schaubühne: Liebe ist keine Antwort
Vier Personen stehen im Mittelpunkt, aber einer, Iago, ist der Brennpunkt. Die Konzentration auf Iago muss ja unweigerlich dazu führen, dass die drei anderen anfangen zu verschwimmen. Ich denke, genau das war mit der epischen Distanz beabsichtigt.
Nur wenn ich dann als Zuschauerin meinen Blick wieder auf Desdemona richte und sie in diesem zerstörerischen Netz von Männern sehe, kann ich nicht glauben, dass Liebe die Antwort auf alles sein soll.
Othello an der Schaubühne: Ein Stern ist aufgegangen – überm platten Rest
Sehen Sie, lieber Flohbär, ich weiß wann ich einer Sache nicht mehr viel hinzu fügen kann. Meine halbfertige Othello-Besprechung liegt seit ca. 1 Woche in der Schublade und die klemmt. Ich will sie auch gar nicht mehr aufkriegen, da schon alles gesagt ist. Im Großen und Ganzen kann ich da nur zustimmen. Viel Zitat und die übliche Verlegung in die heutige Zeit, wahrscheinlich Büroetage mit Swimmingpool. Was Ostermaier aber nicht bedacht hat, Shakespeare kommt ihm hier in die Quere und er wird ihn einfach nicht los. Und nun wundern sich auch noch die Damen, das Desdemona so devot sei, das ist sie ja auch bei Shakespeare, ein reines Mittel zum Zweck. Das Eigentum einer Männerkaste, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlt. Ostermaier macht aus allen Protagonisten Typen und besetzt sie auch so. Thomas Bading ist der ningelige Papa, Eva Meckbach das naive Blümchen, Tilmann Strauß der eitle Pfau und Niels Bormann gibt was er am besten kann, sich selbst. Und dann last bad not least noch ein vierschrötiger Othello, Nakajew hat ja schon mal den Proleten gespielt. Als Franz Biberkopf war er noch glaubhaft, hier ist er Karikatur, die Hauptfigur verraten für einen kleinen Kunstgriff. Dafür ist ein Stern aufgegangen an der Schaubühne, dafür gilt Ostermaier Dank, der Rest ist platte Show.
Und nun noch zu unserem Freund Prospero. Da haben Sie nun in der letzten Reihe gesessen, über zwei Stunden ausgeharrt, fleißig mitgeschrieben und was ist rausgekommen? Erst beschreiben Sie ewig die Eingangsszene, die schon Grund genug gewesen wäre den Saal vorzeitig zu verlassen und dann erzählen Sie nur noch was Ostermaier nicht macht. Eine Woche habe ich auf diese Erkenntnisse gewartet und nun das, da fehlt mir einfach die Wertung. Sicher hat Ostermaier auch eine Idee gehabt, nämlich die des Neiders der sich von einem Emporkömmling übergangen sieht und der nun zum ganz subtilen Intriganten wird. Heute nennt man das Mobbing. Bei Shakespeare spielte vor allem der Hass auf das Fremdartige des Mohren von Venedig eine Rolle, der Rassismus ist auch heute noch und nun wieder verstärkt vorhanden. Indem Ostermaier diese Ebene total ausblendet, nur der Vater Desdemonas lässt das noch anklingen, wird die Inszenierung ziemlich eindimensional und bekommt Schieflage, da kein Mensch sich prügelnde Bürohengste vorstellen kann. Auch die Verlegung ins Showgeschäft wäre ja denkbar, aber Othello bleibt eben was er ist, ein Mann, der sich um seine erste Nacht betrogen fühlt und das ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Eine schöne Rezeption übrigens im Programmheft, die aber leider auch nichts mit der Inszenierung von Ostermaier zu tun hat.
Verstehen sie mich bitte nicht falsch, vielleicht irre ich mich ja auch und Sie waren es gar nicht, sondern ein beflissener Regiehospitant. Was Ostermaier aber auf jeden Fall nicht hätte machen sollen, ist wieder Shakespeare zu inszenieren. Wenn man nur einen wirklichen Star in der Inszenierung hat, fällt der Rest halt unweigerlich ins Wasser. Jago hat den Othello im wahrsten Sinne des Wortes nass gemacht.
Othello an der Schaubühne: unerträgliches patriarchales System
@ Thekla: Ob Liebe die Antwort auf alles sein soll? Geht es in Shakepeares "Othello" denn überhaupt um dieses Thema? Ich würde das verneinen. Es geht doch vielmehr um das Thema der Eifersucht als Sucht, mit Eifer danach zu suchen bzw. darauf anzuspringen, was Leiden schafft. Und dass Desdemona Othello liebt, das schafft ja erst die tragische Fallhöhe, nach welcher das Weibliche im männlichen Konkurrenzkampf zwangsläufig unter die Räder geraten muss. Dieses ganze patriarchale System - unerträglich.
Othello an der Schaubühne: kurz blitzt die Liebe auf
@ Stefan: Was genau war denn an der Eingangsszene Grund genug, den Saal vorzeitig zu verlassen? So hätte es sein können. Da blitzt kurz die Liebe auf. Berührung. Aber schon beginnen die Projektionen. Und das führt zum Verhängnis. Jago spielt Schicksal. Denn (auch) er ist es, welcher "den Schwarzen hasst", den vermeintlich überpotenten Mann.
Othello an der Schaubühne: die Motive der Desdemona
@El-friede
Natürlich geht es in Othello nicht um Liebe, sondern um Eifersucht, da haben Sie Recht. Liebe ist aber soweit ich das verstanden habe, die treibende Kraft hinter Desdemonas Handeln. Jetzt frage ich mich aber, ob das Handeln von Desdemona wirklich nur mit Liebe zu erklären ist. Vielleicht lassen sich bei ihr auch andere Motive finden.
Othello an der Schaubühne: Männer essen Frauen
@ Thekla: Na, dann erläutern Sie doch mal. Ich lese aus der Figur der Desdemona tatsächlich nur die aufrichtige Liebe heraus. Allein ihre unterwürfige Haltung gegenüber Vater und Othello irritiert mich hier. Möglicherweise geht es darum, dass sie sich selbst in die Hände der Abhängigkeit von Männern spielt. Und eben daran zugrunde geht. Bianca - als Mätresse Cassios - ist da viel souveräner. Sie entzieht sich der Intrige, indem sie das Taschentuch zurückgibt. Und sie spricht aus, was Desdemona als Spielball der Männer nur erträgt: Männer essen Frauen und kotzen sie am Ende wieder aus.
Othello an der Schaubühne: sehr dunkel das Ganze
@ 15, El-friede (warum eigentlich mit Bindestrich?)
Das ist natürlich eine schöne Vorstellung. Würde auch erklären warum sie beide ins Bett gehen. Aber mich störte eher diese schöne Ethno-Jazz-Mucke, obwohl das Thema exotischer Wilder gar keine Rolle spielt, das wofür Desdemona Othello so liebt bei Shakespeare, dieses anders sein, das eher uneitle neben den schönen Geschichten, was sie fasziniert. Sie fühlt sich geborgen, er fühlt sich ernst genommen. Jago zerstört das sehr bewusst und weiß auf welche Tasten er drücken muss. Übrigens seift Jago oder war es Cassio in der Anfangsszene Othello mit ein, das hat Prospero gar nicht gemerkt, war ja auch sehr dunkel das Ganze, wie der Rest des Abends und ein wenig zu lang und reißerisch ausgemalt. Da verspricht Ostermaier Sachen, die er nachher wahrscheinlich auch gewollt wieder zerstört.
Othello an der Schaubühne: Aufbegehren statt Unterwerfen
@El-friede
Desdemona ist ihrem Vater nicht unterwürfig. Ihr Vater schien mir jedenfalls nicht sehr begeistert von der Idee, dass seine Tochter mit Othello abziehen möchte. Und trotzdem hat sie es getan. Auch wenn die Hautfarbe Othellos in dieser Inszenierung keine Rolle spielte, ist er doch ein gänzlich anderer Mann als die Männer aus Desdemonas Umgebung. Und sich diesen gewohnten Männern zu entziehen, sehe ich eher als ein Aufbegehren, nicht als ein Unterwerfen.
Othello an der Schaubühne: hat Ostermeier die Männlichkeit entdeckt?
Alle drei Frauen sind im Stück nur Anhängsel der Männer, schmückendes Beiwerk. Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein, als habe Ostermeier nach langem Lavieren endlich die herbe Männlichkeit, die übersteigerte Virilität entdeckt. Dagegen spricht allerdings, dass Othello als eine Art eifersüchtiger Kasper dargestellt wird, der sich von einem keineswegs rhetorisch begabten Fähnrich beschwatzen lässt. Ohnehin haftet diesem männlichen Machtgezerre etwas Kindisches an.
Da Ostermeier ja auch Regietheater betreibt, hätte er die Rollen der Frauen aufwerten und ihnen mehr Selbständigkeit zugestehen können. Wollte er vielleicht indirekt das ungerechte Geschlechterverhältnis bloßstellen? Und warum hat er nicht diesen altmodischen Quatsch mit dem Taschentuch rausgeworfen? Wenn etwas in diesem Stück nervte, war es dieser unsägliche Stofffetzen mit dem aufgestickten Motiv.
Gefallen hat mir Desdemona als aufrichtig Liebende in diesem auf Machtstreben fixierten Männerhaufen. Desdemona ist absolut authentisch, leider hat die Meckbach ihre Rolle mit gestischem Minimalismus gespielt, oszillierend zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Betroffenheit. Sie war immerhin noch eine Aufwertung des Dramas: trotz einiger schwacher Sequenzen, die ein Schlafbedürfnis in mir aufsteigen ließen, ist mir das Stück dennoch nahegegangen.
Stefan, bislang dachte ich, Prospero sei eine Art Assistent von Ihnen.
Othello, Schaubühne: zu nah an Shakespeare?
@ Flohbär
Das Sie eine Schwäche für schön anzusehende Frauen haben, ist mir bereits des öfteren aufgefallen. Hier muss ich aber widersprechen. Desdemona ist hier einen Zacken zu devot, kein Reiz. Wie Othello überhaupt darauf kommt, von ihr betrogen zu werden, ist mir unklar. Da war die Desdemona der Julia Jentsch in Percevals Münchner Inszenierung aufwühlender in ihrer Gegenwehr, auch wenn sie sich dem Othello des Thomas Thieme ebenfalls an den Hals gehängt hat und dann dieser radikal zercrashte Text von Zaimoglu. Wahrscheinlich wollte sich deswegen Alan Posener mal rächen, als er jetzt den Hamlet von Perceval zerpflückt hat. Das Problem der Inszenierung von Ostermaier ist, das sie sich nicht wirklich von Shakespeare lösen kann, Taschentuch hin oder her, es gehört eben einfach dazu, es hat ja diese übersinnlichen Fähigkeiten, an die Othello glaubt und ohne die Jagos Intrige nicht funktionieren würde. Übrigens ist das sich selbst zitieren nicht nur bei Ostermaier angesagt, auch bei Perceval, der Mann am Klavier war auch schon bei Othello dabei.
Bei Prospero muss ich mich jetzt wohl entschuldigen, ich wollte ihn nicht brüskieren. Nein, einen Assistenten brauche ich nicht, eher einen Bruder im Geiste, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist.
Othello, Schaubühne: Markierung beginnt im Kopf
@ Stefan: Warum schreiben Sie Ostermeier eigentlich mit "ai" in der Mitte?
Ich würde sagen, dass Desdemona Othello eben gerade nicht aufgrund seiner - wie Sie schreiben - "exotischen Wildheit" liebt, sondern um seiner selbst Willen, um seiner Erzählungen über sein Leben bzw. um seiner Abenteuer Willen. All das kann aber auch ein weisser Mann verkörpern, welcher irgendwie aus dem Rahmen der stereotyp männlichen bzw. heterosexuellen Norm fällt.
Das heisst, vielleicht könnte man sich hier auch die Frage stellen, ob es nicht gerade rassistisch ist, wenn man die Markierung durch die Kategorie "race" allein über den übergestülpten symbolischen Mythos des schwarzen Körpers thematisiert, nämlich über das Klischee der primitiven, animalischen Sexualität. Desdemona liebt Othello in meiner Wahrnehmung aufgrund seiner Persönlichkeit, wohingegen ihre Umgebung wieder nur die eigenen Klischees und Vorurteile "des schwarzen Körpers" auf Othello projiziert.
Dass Jago und/oder Cassio Othello zu Beginn mit "einseifen" (Warum Seife? War es nicht vielmehr schwarze Farbe?), habe ich nicht gesehen. Die "Markierung" beginnt übrigens am Kopf.
@ Thekla: Wenn ich mich nicht verhört habe, bittet Desdemona zu Beginn darum, Sie aus der Hand ihres Vaters in die Hand von Othello zu entlassen, sie aus der Autorität des Vaters frei zu geben. Ob das nun schon bereits als "Aufbegehren" bezeichnet werden kann, möchte ich bezweifeln. Ich würde es eher allgemein im Sinne einer freien Entscheidung der Partnerwahl betrachten.
Othello, Schaubühne: Taschentuchforschung
Warum dieses Taschentuch immer? Würde mich auch mal interessieren. Ich bin jetzt keine Taschentuchforscherin, aber so weit ich weiss, benutzte man diese "früher" in Venedig, um den Blick auf die Hände zu lenken.
Othello, Schaubühne: Bürointrige ohne Taschentuch
@ El-friede
Da hab ich wohl an den Albert gedacht, kann ja mal passieren.
Es ist übrigens überhaupt nicht klar, ob Othello farbig ist bei Shakespeare. Die Übersetzung könnte auch Maure heißen. Fremdartig und exotisch ist das für die damalige Zeit auf jeden Fall. Es geht schon auch um Rassismus. Ostermeier ignoriert das und setzt nur auf die Neiderschiene und stellt Jago zusätzlich noch als einen Showmaster dar, der im Hintergrund die Fäden zieht und seine ganz persönliche Bürointrige spinnt. Das passt dann irgendwann nicht mehr zusammen, da er trotzdem noch körperlich sein muss, um seine Mitwisser zu entsorgen. Das Taschentuch ist fester Bestandteil des Othellostoffes, wenn man es weg läßt, muss man eine andere gute Idee haben. Die hat Ostermeier aber nicht.
Othello, Schaubühne: Werktreue & Taschentuch
@Stefan & Thekla:
Vielleicht mag Desdemona zu devot agieren, aber das ist wohl kaum die Entscheidung von Eva Meckbach. Ostermeier ist der Regisseur, und der sagt bestimmt nicht: „Leute, ihr kennt euren Text, nun spielt mal schön...“ Die Frauen sind deshalb so willfährig, weil Ostermeier es so wollte, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht durchläuft er momentan eine Phase, die von einem übersteigerten Männlichkeitsgefühl geprägt ist – und diese Atmosphäre des Kraftvollen wollte er auch auf die Bühne übertragen, möglicherweise, um das Publikum mit seinem aktuellen, im Umbruch befindlichen Lebensgefühl zu befruchten.
Eine Werktreue geradezu Steinscher Provenienz legt er beim Motiv des Taschentuchs an den Tag. Ostermeier ist in der Schaubühne gewissermaßen ein Nachlassverwalter, auch von Stein, der die Öffentlichkeit mit seinem Nachlass zu Lebzeiten überrascht und diesen als Vorlass präsentiert, um noch ein paar schmucke Preise abzugreifen.
Das Taschentuch ist tatsächlich ein Othello-Motiv, ohne das der Eifersuchtsanfall gar nicht möglich wäre. Was mich stört, ist die Überbetonung dieses Leitmotivs, die Überbeanspruchung eines Beweismittels, das letztlich gar keins ist, sondern nur ein Intrigenmittel. Diesen Wirbel um das Taschentuch halte ich für lächerlich, insbesondere aus heutiger Sicht. Wenn das ein Grund für einen Würgemord sein soll, zeigt das doch nur, was für ein Popanz Othello ist. Ostermeier beweist Werktreue an der falschen Stelle – er hätte sich wahrlich etwas Besseres ausdenken können.
Othello, Schaubühne: vibriert da nichts?
@ Stefan: Ach so. "Fremdartig und exotisch ist das für die damalige Zeit auf jeden Fall. Es geht schon auch um Rassismus." Ja. Genau. Diese Art, latent rassistisch zu denken und die Vorurteile damit nur weiter zu perpetuieren, das ist nicht Ostermeiers Thema. Und meines Erachtens zu Recht. Die Tatsache, dass die westliche Kultur ihr Selbstverständnis über die Ausschließung des Anderen und Fremden markiert, wird durch Ostermeiers Lesart irritiert und kritisch hinterfragt bzw. herausgefordert. Die auf "das Fremde und Exotische" projizierte pulsierende Triebhaftigkeit steckt vielleicht auch in Ihnen. Oder vibriert da nichts in Ihrem eigenen Fleisch, wenn Sie die Musik von Nils Ostendorf hören?
Othello, Schaubühne: nichts pulste
Nein, El-friede, da pulste nichts, es nervte mit der Zeit. Außerdem schreibe ich schon die ganze Zeit, das Ostermeier nicht auf die Exotik setzt. Für mich spielt die auch nicht die vordergründige Rolle. Trotzdem muss für Ostermeier wohl wenigsten noch die Musik auf das Problem hinweisen und die müde Story am laufen halten. Wenn die Erklärung in unserer angeblich projizierten pulsierenden Triebhaftigkeit nur in dieser Eingangsszene steckt, ist es einfach für umsonst. Das wird nie wieder thematisiert in der Inszenierung, da wird im Wasser geplanscht und verzweifelt Shakespeare und Golf gespielt.
Othello, Schaubühne: Umbenennungsvorschlag
Warum heust der Abend nicht das Bett und die Pfütze mit Musik?
Othello, Schaubühne: schwache Seele bekämpft
Och, schade. Aber vielleicht war es ja auch Absicht, dass es nervte. Othello wird ja auch zunehmend nervlich zerrüttet. Die projizierte (sexuelle) zerstörerische Triebkraft Othellos zeigt sich für mich auch im weiteren Verlauf der Inszenierung. Beispielsweise wären der epileptische Anfall, die aggressive Golfschlägerei (konzentriertes Golfspiel sieht anders aus), das "Waterboarding" Jagos (Othello wird hier zum Spiegel seiner Unterdrücker) oder das Würgen Desdemonas am Ende zu nennen.

Zudem ist vielleicht gerade die auf Hierarchie und autoritärem Führungsstil aufgebaute Männergesellschaft hier das Thema. Wo die reine Selbstliebe vorherrscht (Jago) und "echte Männer" möglicherweise vorhandene homosexuelle Neigungen verleugnen müssen, wird die eigene weiblich codierte schwache Seite auf die Frau projiziert und in dieser bekämpft. Der Kuss zwischen Othello und Jago könnte auf dieses Dilemma verweisen.
Othello, Schaubühne: Herr im Ring
@ El-friede
Ach was denn nun noch alles, versteckte Homosexualität in Männerbünden, interpretieren Sie da nicht ein wenig viel in den Othello von Ostermeier? Das hat hier in einer Rezension ja schon mal einer versucht heraus zu lesen. Ich denke dieser Kuss wird überbewertet, er ist nur ein Zeichen des Einverständnisses, Othello hat sich in diesem Moment mit Jago gleichgeschaltet. Die Verschworenheit der Männer ist damit besiegelt. Als Männlichkeitsritual gibt es dann noch ein wenig Waterboarding. Othello will damit nur demonstrieren, das er immer noch der Herr im Ring ist, die perfide Intrige Jagos einfach ignorierend. Da hat die Liebe der Desdemona keine Chance mehr.
Othello, Schaubühne: Hatte Shakespeare Schnupfen?
@El-friede

Und ich bleibe dabei, dass Desdemona aufbegehrt. Wie eine "freie Partnerwahl" zur Entstehungszeit des Stückes aussah, kann ich mir gerade nicht vorstellen. Aber ich würde ich jetzt behaupten, dass Frauen zu dieser Zeit bei der Männersuche wohl eher gesellschaftliche Erwartungen erfüllten und weniger auf Ihre Instinkte hörten. Ich interpretiere diese Unterwürfigkeit einfach nur als Mittel zum Zweck.

@Flohbär

Schön, dass Ostermeier gerade seine Männlichkeit entdeckt. Das ist zugegebenermaßen viel sympathischer als all die anderen Männer, die immer nur das Mädchen in sich finden. Dieser Prozess ist auch als Frau interessant zu beobachten.
Es ist keinesfalls übertrieben, dass Taschentuch zu betonen. Zunächst ist dies ein zentrales Motiv und Shakespeare wird sich wohl hoffentlich etwas dabei gedacht haben, als er alle Männer des Stückes um das heilige Taschentuch tanzen ließ. (Eine andere Erklärung wäre natürlich auch, Shakespeare hatte Schnupfen als er Othello schrieb...).
Denn wie das so ist mit Männern und ihren Taschentüchern, ging es in der damals hippen Metropole Venedig nicht um das Stück Stoff, sondern um die Betonung der Hände. Zur damaligen Zeit konnte man den Stand eines Mannes (und auch einer Frau) an der Farbe der Hände ablesen. Also auch wenn die venezianische Republik sich gern so weltoffen gab, es war diese kleine Geste, die den Mauren niemals Teil der Gesellschaft werden ließ. Und da würde ich an Othellos Stelle auch ausrasten. Aber ich bin eine Frau...und würde jetzt gern wissen, wie ein Mann das sieht.
Othello, Schaubühne: Strahlemann
El-friede schreibt in Kommentar Nr. 11: " Sondern er (Ostermeier) liest den schwarzen Othello als Projektionsfläche des weissen Mannes, welcher diesem die Potenz neidet und zugleich an seiner eigenen Potenz zweifelt. "
Hier stock' ich schon. Sind farbige Männer wirklich potenter als weisse?
???
Also ich fand: Die Andern waren einfach nur neidisch, dass Othello und Desdemona eine geglückte Beziehung hingekriegt haben. Zwischen Jago und Emilia klappt's ja nicht mehr so richtig, mit Cassio und Bianca auch nicht und mit Rodrigo auch nicht.
Der Sebastian Nakajew war doch so ein Strahlemann. Da kann man ja neidisch werden, wenn einer Glück hat, auch ohne über seine Potenz zu spekulieren, oder?
Außerdem hat mir gut gefallen, dass die immer von "dem Schwarzen" gesprochen haben, wo er doch - wie alle sehen - weiss war. Das fand ich ein sehr schönes Bild für Vorurteile: Sie sind eine gesellschaftliche Konvention. Alle sagen: der ist schwarz. Dabei sehen alle: der ist weiss.
Othello
Othello, Schaubühne: das gab's schon
Liebe El-friede, (was für ein schöner arabischer Name),
ich lese gerade Ihren Kommentar Nr. 29.
Es gab mal eine sehr schöne Interpretation (Tabori, glaub ich), da hat der Jago den Othello zerstören wollen, weil er ihn geliebt und nicht bekommen hat. Das Problem war, dass Desdemona zwischen beiden stand und ziemlich gegen diese Beziehung gearbeitet hat. Das Stück war dann eine sehr romantische, etwas rauhbeinige Männerkomödie, denn nachdem Jago seinen Geliebten endlich trickreich so weit bringen konnte, dass er seine Frau beseitigt, fielen sich diejenigen, die Gott für einander bestimmt hatte, selig in die Arme. Happy End. Mendelssohns Hochzeitsmarsch.
Herzlichst
Othello
Othello, Schaubühne: Probleme mit dem Outing
@ Stefan: Natürlich liegt das nahe. Schließlich spielt Othello sowohl bei Shakespeare als auch in Ostermeiers Lesart im thematischen Kontext des Militärs/der Marine. Auch heute noch gibt es da Probleme mit dem Outing homosexueller Soldaten.
@ Thekla: Es ist doch nur die unterschiedliche Begriffswahl. Ich nannte es freie Entscheidung, Sie nennen es Aufbegehren. Zur Zeit Shakespeares mag ein solches Verhältnis tatsächlich noch problematischer gewesen sein als heute, wo das dualistische Denken der britischen Kolonialzeit (weisser Kolonialherr vs. schwarzer Sklave) eigentlich überwunden sein sollte.
@ Othello: Das haben Sie missverstanden. Es ging mir darum aufzuzeigen, dass weisse Männer auf das KLISCHEE anspringen, dass "der Schwarze" angeblich potenter sei als "der Weisse". Was natürlich völlig undifferenzierter Quatsch ist. Und zudem gibt es diese kindische Potenzkonkurrenz natürlich auch zwischen weissen Männern, richtig. Und schließlich ist dieses Gerede über die Potenzkompetenz vielleicht auch nur ein stereotypes Vorurteil, welches vorgeschoben wird, weil Mann an die Liebe nicht glauben mag. Liebe ist eben nicht nur Sex.
Othello, Schaubühne: Venezianer
@El-friede
Othello ist Venezianer, kein Brite.
Othello, Schaubühne: das Tuch ist nicht allein zum Schnäuzen da
@ Thekla:
Mit Sicherheit hatte Shakespeare keinen Schnupfen. Während der Entstehungszeit von „Othello“ wurden Taschentücher nicht zum Schnäuzen verwendet: sie galten als reine Statussymbole von Adligen und Wohlhabenden. Die Prestigeobjekte wurden auch als Liebesbeweise weitergegeben. Aber es ist nicht unbedingt anzunehmen, dass bei gesellschaftlichen Anlässen permanent verzierte, mit Goldfäden durchsetzte Taschentücher gezückt wurden, um den Umstehenden zu beweisen, zu welchem Stand man gehörte.
Beim Ziehen des Taschentuchs fällt natürlich der Blick automatisch auf die Hände, ein Verfahren, das vielleicht die Funktion eines erotischen Selektionsprinzips übernahm. Entsprachen die Hände nicht den eigenen sinnlichen Vorstellungen, sei es, weil die Adern die Ausmaße von Kabeln hatten und die Greifwerkzeuge Schaufeln glichen, wurde die betreffende Person aussortiert. Die Hautfarbe spielte sicherlich auch eine Rolle – alles andere fällt in den Bereich von Vermutungen.
Beim Motiv des Taschentuchs konnte Ostermeier einem anachronistischen Bedürfnis nicht widerstehen – keine Kamarilla, kein Beraterstab und keine Kreativwerkstatt vermochten ihn davon abzuhalten.
Othello, Schaubühne: na und?
@ Thekla: Na und? Es gab auch venezianische Kolonien.
Othello, Schaubühne: gesellschaftliche Vorstellungen
@Flohbär
Adern mit Ausmaßen von Kabeln und Greifwerkzeuge wie Schaufeln? Das sie genau jene aussortieren sind jetzt aber doch gesellschaftliche Vorstellungen. Die ein oder andere Frau findet das bestimmt sinnlich.

@El-friede
Gab es wirklich venezianische Kolonien? Und selbst wenn, dann aber ohne britischen Kolonialismus.
Othello, Schaubühne: es geht um Zypern
@ Thekla: Shakespeare-Text. Es geht um Zypern als ehemals venezianische Kolonie. Nicht zugehört?
Othello, Schaubühne: müsste doch möglich sein
leider mocht ich den Abend nicht. Weil Othello nicht vor kam. Und Jago ohne Othello ist nicht toll. Fällt dem ja alles so leicht. Da gehts um gar nix, nur um so eine blasse Vorstellung von einer Show. Wenn wenigstens Gotschalk der Jago gewesen wäre, der seine Gäste sich umbringen läßt, das hätte was gehabt, aber so, war es doch viel zu bieder. Schade. Einfach noch mal versuchen - alles umarbeiten, müsste doch auch mal möglich sein.
Othello, Schaubühne: das haut nicht hin
@El-friede
Trotzdem hauen ihre britischen Kolonialismus-Theorien hier nicht hin.
Othello, Schaubühne: an Vorurteilen nicht vorbei
@ Thekla: Und inwiefern? Insofern als dass Shakespeares Othello nicht Sklave, sondern Herr und hier zudem noch weiss ist? Kommt er vielleicht trotzdem nicht vorbei an den Vorurteilen, dass er immer nur als Sklave gesehen wird und sich möglicherweise auch selbst so sieht? Ist er deswegen so labil und empfänglich für Jagos Intrige? Weil er sich trotz seines militärischen Ranges weiterhin nicht zugehörig fühlt?
Othello, Schaubühne: und?
@ Othello, 33.: Ja, klingt interessant. Und weiter?
Othello, Schaubühne: Suche nach Interpretation
Da ist man mal 4 Tage offline und schon entspinnt sich eine schöne Diskussion. Ich antworte mal in aller Kürze den geschätzten Mitforisten, die sich auf meine "Rezension" bezogen.

@Flohbär
Was sie als meine "Gier nach einem interpretatorischen" Ansatz bezeichnen, ist eher der Wunsch nach irgendeinem interpretatorischen Einsatz, irgendeiner irgendwie gearteten, halbwegs stringenten Perspektive. Ostermeier lässt das Stück einfach runterspielen, wirft ein paar nette Einfälle herein, die er dann nicht weiterverfolgt - aber warum er Othello inszeniert, erschließt sich nicht. Zumindest mir nicht.

@Stefan
Ich will ihre Kritik an meiner Einschätzung nicht detailliert thematisieren. Nur zu Ihrem Kernpunkt, ich würde vor allem darüber reden, was Ostermeier nicht macht. Das ist sicher richtig und trifft meiner Ansicht nach das Hauptproblem der Inszenierung. In ihrer Mitte ist nämlich m.E. eine gewaltige Leerstelle. Und das liegt daran, dass - zumindest ist das mein Eindruck - Ostermeier nichts mit dem Stück anzufangen weiß. Das ist vielleicht weniger eine Inszenierung als eine Abfolge gescheiterter Inszenierungsversuche, an deren Ende dann die Kapitulation eines schülertheaterhaften Herunterrasselns steht.

Ich finde es ja löblich, dass hier ausgebig versucht wird, Interpretationsansätze zu finden. die sich der Inszenierung überstülpen lassen. Wirklich schlüssig ist das alles nicht.
Othello, Schaubühne: das Taschentuch von Jagos neuem Freund
@ El-friede, 43.
Liebe El-friede, jetzt werden Sie aber ein bißchen ich weiß nicht wie.
Bekanntlich wird nach dem Happy-End gewöhnlich abgeblendt.
Aber wenn Sie unbedingt wissen wollen, wie es weiter geht, kann ich "Unter der Treppe" empfehlen. Oder "Cage aux folles", wenn Sie's lustiger haben wollen. Wahrscheinlich findet Othello das Taschentuch von Jagos neuem Freund, der aus einer venezianischen Kolonie stammt, und bringt ihn um. (Ich überlasse es Ihnen, ob Jago oder den neuen Freund.)
Bitte fordern Sie nicht noch einen Faust III von mir.
Ihr Othello
Othello, Schaubühne: nekrophiler Lustmörder
Kann mir einer sagen, ob die Übersetzung von Marius von Mayenburg wirklich auf dem Original-Shakespeare-Othello beruht? Ich zweifle daran nämlich ein wenig. Beispiel: Bevor Desdemona von Othello umgebracht wird, schreit sie "noch eine halbe Stunde!". Warum wird die tragische Katharsis hier so stark ins Lächerliche gezogen? Ist das nur lustig oder schon frauenverachtend? Ausserdem erscheint Othello durch sein Stöhnen während des Würgens von Desdemona und der anschließenden Schändung ihrer Leiche eher wie ein nekrophiler Lustmörder. Aussage verfehlt?
Othello, Berlin: Jago, der stressresistente Prototyp unserer Zeit
Othello
Schaubühne, Regie: Thomas Ostermeier, gesehen am 27.01.2011
Shakespeares Othello ist zweifellos große Kunst. Große Kunst ist immer auch vexierbildhaft, interpretationsoffen, in der Moderne sogar weitgehend deutungsoffen. Ein relativ junger künstlerischer Stil ist die Übermalung. Die Übermalung eines Kunstwerks setzt – meist skizzenhaft – neue interpretatorische Akzente. Die Übermalung muss dynamisch, wenn sie gelingt, genialisch sein. Der Übermalung haftet jedoch auch Fragmentarisches an, sie akzentuiert, aber sie schafft kein neues künstlerisches Panorama.
Zeitgenössische Regisseure wie Ostermeier sind „Übermaler“ von Theaterstoffen. Das Genialische an seiner Othello-Inszenierung ist die Akzentuierung Jagos. Die Inszenierung ist eine Jago-Studie. Dabei zeichnet Ostermeier Jago als gegenwärtigen Helden, als einen Prototyp unserer Zeit. Das herausgearbeitete Grundmerkmal ist die enorme Flexibilität, gepaart mit einer ebenso enormen Stressresistenz. Jago hat überlieferte Kategorien des Handelns, gerade auch des militärischen Handelns, wie Treue und Gehorsam, überwunden, weil diese Handlungsmaximen seinen Zielen im Wege stehen. Er hat das gesamte konventionelle philosophisch-ethische Gefüge mit seiner Unterteilung in Wahr und Unwahr, Gut und Böse, Schön und Häßlich überwunden. Überwunden bedeutet dabei jedoch nicht, dass das überlieferte Material für Jago bedeutungslos ist. Jago betrachtet das Gefüge der überlieferten Werte und Kategorien als Steinbruch. Er ignoriert den Determinismus der Konvention. Jago bedient sich des Materials nach eigenem Gutdünken. Für Jago gibt es nur die Unterscheidung in Erfolg und Misserfolg. Für ihn ist allein wichtig, dass er seine Absichten durchsetzen, seine Ziele verwirklichen kann. Das Jago-Projekt ist der Aufstieg mit allen Mitteln, nachdem ihm der rechtmäßige Aufstieg versagt wurde und ein Anderer, Cassio, in die begehrte Position berufen wurde. Jago will nach oben, in die Position Cassios, auch wenn er damit den Obersten, Othello, hintergehen muss:
„We cannot all be masters, nor all masters
Cannot be truly follow'd.”
Jago ist der ideale Spieler, nicht nur wenn fremde Schicksale verwürfelt werden, sondern auch dann, wenn es um seinen Kopf und Kragen geht. Jago ist das Ideal einer nicht mehr obrigkeitsstaatlich organisierten, global triumphierenden Marktwirtschaft. Jago ist der Einser-MBA und Top-Fondmanager, der künftige Unternehmens- oder Staatenlenker. Jago ist der säkulare Held, der Jagoismus, die „Theologie der Hölle“ („Divinity of hell“) in der klassischen Übersetzung, ist die eigentlich dominierende Philosophie unserer Zeit.
Im Programmheft zur Schaubühnen-Aufführung führt Harold Bloom aus, dass es außer Frage steht, das Jago die Hauptfigur des Stücks ist, weil das ganze Stück seine Welt sei: „Keine Person des Stücks besitzt die Ironie und den Witz, die allein Jago in Schach halten könnten.“
Jenseits von Jago fällt die Ostermeier-Inszenierung ab. Der Othello von Sebastian Nakajew ist die Antithese zu Jago. Er ist unbeweglich, vor allem mental unflexibel, ein Feldherr von gestern, ein „Kalter Krieger“, mit ehernen Feindbildern und wehe, wenn ein Freund allmählich als Verräter wahrgenommen wird. Als Jago versucht, ihn bezüglich der Vertrauenswürdigkeit Desdemonas umzupolen, kommt es bei Othello zunächst zu Fehlentladungen, zu epileptischen Krämpfen. Nach gelungener Umpolung folgt Othello der neuen Orientierung unbeirrbar und bis zur letzten Konsequenz.
Jenseits von Othello fällt die Inszenierung noch weiter ab, insbesondere bei den Frauenfiguren.
Othello, Berlin: abfallende Frauenfiguren
Othello Teil 2:
Jenseits von Othello fällt die Inszenierung noch weiter ab, insbesondere bei den Frauenfiguren. Sicher ist dies schon beim Text Shakespeares so angelegt, der (gemäß der Perspektive seiner Zeit?) den Frauen im Umfeld eines Heeres nur Weniges und noch weniger Rühmliches zutraute. Der Prototyp ist Bianca, die Shakespeare mit den Worten charakterisiert: „a housewife … selling her desires”. Und auch mit Desdemona ist es bei Shakespeare nicht weit her, zumal ihr Verhältnis zu Othello eine sehr merkwürdige Basis hat, wie jener im 1. Akt bezeugt:
„She loved me for the dangers I had pass'd,
And I loved her that she did pity them.“
Was soll man von einer unerfahrenen, jungen Frau halten, die die Schilderungen der Schrecken des Krieges, und seien sie euphemistisch, zur Quelle ihrer Liebe macht? Und die den sehnlichen Wunsch hat, solcher Schrecken teilhaftig zu werden, wie sie im 1. Akt eröffnet:
“That I did love the Moor to live with him,

So that, dear lords, if I be left behind,
A moth of peace, and he go to the war,
The rites for which I love him are bereft me,
And I a heavy interim shall support
By his dear absence. Let me go with him.”
Voll gutem Willen, aber unerfahren, mischt Desdemona sich später auf Zypern in die Amtsgeschäfte Othellos, um Cassio zu rehabilitieren. Eva Meckbach gibt die Desdemona als naive Unschuld.
Anders wichtet Shakespeare Emilia, Jagos Frau. Sie bietet Othello nach dessen Mord an Desdemona die Stirn:
„O gull! O dolt!
As ignorant as dirt! thou hast done a deed.”
Emilia deckt schließlich Jagos Intrigen auf und muss dafür mit Ihrem Leben büßen. Im 4. Akt lässt Shakespeare Emilia Einsichten verkünden, die sie als einzige ernsthafte Gegenkraft Jagos erkennen lassen (was Harold Bloom ignoriert). Emilia will Jago mit den eigenen Waffen schlagen:
„The ills we do, their ills instruct us so.“
Aber anders als Jago will Emilia nicht in der Negativität, im Nihilismus verharren. Wenn es um Alles geht, würde auch Emilia nicht vor der bösen Tat oder dem Missbrauch zurückschrecken, um jedoch im Erfolgsfalle zum „richtigen“ Leben zurückzukehren:
“Why the wrong is but a wrong i' the world: and
having the world for your labour, tis a wrong in your
own world, and you might quickly make it right.
Aber auch Emilia kommt bei Ostermeier nicht gut weg.
Der einleitende Rahmen der Aufführung, als die halbnackte Desdemona den nackten Othello mit Erde schwärzt, kann dahingehend gelesen werden, dass in der Kriegswelt die Liebe zu Desdemona Othello stigmatisiert, ihn „zum Neger“ macht, zur Angriffsscheibe. Im das Stück abschließenden Rahmen dominiert der von der Liebe verlassene Krieger Othello, der nunmehr – in der unausweichlichen Routine des Krieges - sein Opfer Desdemona massakriert und missbraucht. Als Marionette Jagos.
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