Neues von Mutter Erde

von Andreas Schnell

Bremen, 28. Oktober 2010. Dass Theater nicht nur Fragen aufwerfen, sondern auch Antworten geben könne - nicht weniger will Frank-Patrick Steckel mit "Rein theoretisch" aufzeigen, das er mit dem Ensemble des Bremer Theaterlabors erarbeitet hat. "Klima", "Finanzen", "Energie", "Bedingungsloses Grundeinkommen", "Agrarpolitik", "Millenniumsprojekt", "Arbeit", "Ungleichheit" und "Medien" sind die Themen, die behandelt werden. Sie sollen auf "aktuelle Lösungsanstrengungen" hinweisen, heißt es in der Ankündigung des Theaterlabors, das sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit politischen Stoffen befasst hat, wie etwa dem "Plutos" des Aristophanes, den Frank-Patrick Steckel hier im letzten Jahr auf die Bühne brachte.

Dass "Rein theoretisch" ein kein normaler Theaterabend ist, wird schnell klar. Im Foyer begrüßt ein Zitat des Ökonomen John Maynard Keynes das Publikum, dem zufolge der Kapitalismus auf der "sonderbaren Überzeugung" beruhe, "daß abstoßende Menschen mit abstoßenden Motiven sich irgendwann um das Wohl der Allgemeinheit kümmern werden".

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© Manfred Nicolai

Drinnen dann: die Zuschauerreihen dort, wo sonst gespielt wird. Wo sonst das Publikum sitzt: Schreibtische mit Computern. An den Wänden hängen Transparente: "Sich fügen heißt lügen", "Die Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden!", "Kapitalismus ist Scheiße", an der Seitenwand steht ein Tisch mit viel Papier, sortiert nach den oben bereits erwähnten Themen. Schriften zum Mitnehmen, vom Ensemble recherchiert und verfasst.

Eine bessere Welt ist möglich

Noch sitzen längst nicht alle, da erzählt eine Schauspielerin die Geschichte einer Migration, davon, wie polemisch die Rede von Wohlstandsflüchtlingen ist. "Der Mensch hat nur ein Leben, und das möchte er so gut wie möglich geben." Ein hübsches kleines Stück Ideologiekritik.

Eine Stimme beginnt zornig zu pöbeln, gegen die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, in der 20 Prozent der Bürger über 80 Prozent des Reichtums verfügen. Eine weitere Stimme, diesmal von der Seite, erzählt von Ausbeutung, Angst, Burnout. "Rein theoretisch", heißt es, sei eine bessere Welt möglich, könnten Regierungen gestürzt werden, wolle niemand Krieg.

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© Manfred Nicolai

Rein theoretisch. Rein theoretisch sei nicht praktisch. Rein theoretisch könnten die Männer den Müll genauso gut runterbringen wie die Frauen. Rein theoretisch gehe in der Demokratie die Staatsgewalt vom Volke aus. Und so weiter. Es folgt: Die Rezitation der "Allgemeinen Erklärung der Rechte unserer Mutter Erde". Na? Ist Ihnen auch schon ein bisschen schwindelig?

Dabei sind wir erst am Anfang des Abends, der im Folgenden zwar keine Handlung, dafür aber wahre Unmengen an Text anbietet. Antworten eben. Und ob man die nun für richtig hält oder nicht: Derartige Mengen an Information lassen sich in 90 Minuten wohl nicht zu einer dramatischen Konstellation bündeln, sondern eher, wie hier, vorlesen. Dieses, mal chorisch, mal solistisch, gelegentlich durch sparsame Choreographie strukturiert, die allmählich von der Bestandsaufnahme über Kritik zur Forderung leitet, ist im Grunde alles, was im Weiteren geschieht.

Wage es, den eigenen Verstand ...

Und im Grunde endet hier die Theaterkritik als Theaterkritik. Dieser Inszenierung geht es nur am Rande um die theatrale Durchdringung des Verhältnisses von Form und Inhalt wie zum Beispiel bei Brecht, der schließlich auch nicht nur Fragen aufwerfen wollte. "Rein theoretisch" ist eben das: Theorie, nicht über das Theater, sondern über "die Welt".

Politisch gesehen ist "Rein theoretisch" allerdings eine nicht gänzlich unproblematische Angelegenheit. Wer sich beispielweise "die Rechte unserer Mutter Erde" zu einem Ausgangspunkt macht, gerät nicht nur in Gefahr, in die Esoterik-Ecke gerückt zu werden, sondern verkennt auch, dass Rechte immer von einer höheren Gewalt verliehen und gegebenfalls einkassiert werden, die es in diesem Fall schlichtweg nicht gibt.

Und wer ausgerechnet von Politikern fordert, höhere Steuern auf hohe Einkommen zu erheben, ignoriert deren Gründe, Spitzensteuersätze zu senken, und billigt den politischen Akteuren unausgesprochen noble Absichten zu, die sie vielleicht gar nicht haben. Mal ganz davon abgesehen, dass auch polittheoretisch versiertere Menschen für eine ähnlich umfassende Tour de force durch die trostlosen Zustände auf dieser Welt mehr Zeit bräuchten als 90 Minuten. Indes: "Selber denken macht klug", wie es gut aufklärerisch auch in diesem Stück heißt. Und dafür bietet es immerhin nicht wenig Stoff.

 

Rein theoretisch oder Wenn wir jetzt nicht handeln, lebt die Welt ohne Ziele (UA)
von Frank-Patrick Steckel und dem Ensemble des Theaterlabors Bremen

Regie: Frank-Patrick Steckel; Bühnenbild: Sonia Vilbonnet; Ausstattung: Klaus Ebeling; Kostümbild: Angela Straube; Dramaturgie: Götz Holstein, Schirin Nowrousian, Patricia Röttjer.
Mit: Andrej Bahro, Daniela Dinnes, Simone Görtz, Kathy Graumann, Romina Jugel, Clara Kerschbaumer, Martina Kock, Anna Katharina Kugel, Joana Landsberg, Marit Lehmann, Patricia Materne, Matthias Meyendriesch, Lara-Sophie Milagro, Katharina Noppeney, Jennifer Paulus, Petra Pauzenberger, Milena Pieper, Ronen A. Temerson, Axel Wagener, Katharina Walther, Katrin Wünschel.

www.theaterlab.de

 

Mehr zu Frank-Patrick Steckel: der frühere Intendant des Bochumer Schauspielhauses inszenierte im Februar 2009 am Theaterlabor Bremen Plutos. Im Oktober 2009 im Theater Bremen Macbeth, und im Februar 2008 ebenda Die Heilige Johanna der Schlachthöfe von Bertolt Brecht.

 

Kritikenrundschau

Im Weser-Kurier (30.10.2010) schreibt Sven Garbade, ein Verdienst der Aufführung bestehe darin, die politische Debatte "kraftvoll ins Theater zu holen" und "Denkanstöße" zu liefern. Steckel habe eine ebenso "radikale wie analytische Kapitalismuskritik" auf die Bühne gewuchtet. Ohne "ästhetische Mätzchen", dafür "jede Menge Texte" die "Verbesserungsbedarf in einer kapitalistischen Welt anmelden". Weil "Aufklärung" Not tue, sei der Raum "hell". Systemkritische, emotionale Parolen an den Wänden, "Wut schlägt entgegen". Es werde ein Abend "wie ein Ausrufezeichen" werden. Eine "Art Lesung", die eine "bessere Welt nicht erträumen, sondern herbeiargumentieren" wolle. "Das ehrt - und rührt zugleich ...". Trotz des "gewaltigen Themen-Konvoluts" mangele es nicht an Differenzierungen. Nur die "Konklusionen seien oft "plakativ". Die "Generation Praktikum" werde hier "explizit ungemütlich", der Kampf "gegen das System" werde ausgerufen. Eine der "zentralen Fragen an diesem Abend" sei, wie sich die entsolidarisierte Gesellschaft entwickeln solle. In einem "Fallbeispiel" würde der "erstaunliche Zusammenhang" benannt, dass reiche Menschen über "weniger solidarische Impulse" verfügten als Arme. Als Fazit schreibt Garbade: Steckel habe "Vorschläge gemacht".

Kommentare  
Rein theoretisch, Bremen: wertvoller Versuch
Ja so ist es. Rein Theoretisch und sicherlich nötig das Theater antwortet. In 90 Minuten? Eher 120 Minuten. Sicherlich eine angemessen am Leben nötige Warnung und Mahnung. Etwas was man in 12 Stücken "zur Nachhaltigkeit" sicherlich noch besser machen kann. Aber den Versuch war´s unbedingt wert.
Rein theoretisch, Bremen: Nachtrag von F.-P. Steckel
Nur zur Klarstellung: Der Text der "Erklärung der Rechte der Mutter Erde" wurde auf der von Evo Morales (nach dem Scheitern des Kopenhagener 'Klimagipfels') initiierten "Weltkonferenz der Völker zum Klimawechsel und den Rechten der Mutter Erde" (30 000 Teilnehmer aus 142 Ländern) verfasst und von zahlreichen Vertretern indigener Völker und Gruppen, von Bauernverbänden und Gewerkschaften unterzeichnet und verabschiedet. Die Erklärung spricht ausdrücklich von "innewohnenden Rechten", die weder 'verliehen', noch 'kassiert' werden können - es kann gegen sie verstoßen werden und es wird gegen sie verstoßen (nicht straflos, wie wir sehen), und ihre Durchsetzung muss, wie die anderer Rechte, erkämpft werden. Die Erklärung zieht einen haarscharfen politischen Handlungsrahmen, innerhalb dessen zivilisatorischer Progress als solcher verstanden werden soll, ihre wirksame Anwendung würde in kürzester Zeit den weltzerstörerischen Geschäftemachereien das verdiente Ende bereiten. Hier von 'Esoterik-Ecke' zu reden, ist, mit Verlaub, überheblicher eurozentristischer Stuss. Und die Absenkung der Spitzensteuersätze stützt sich (auch hier verstehe ich den Rezensenten nicht) seit dreißig Jahren auf die These, die Beschenkten würden sich als generöse Investoren in das wirtschaftliche und das allgemeine Wohl erweisen - eine These, die sich nicht nur nicht bewahrheitet hat, sondern, im Gegenteil, bei exponentiell wachsendem Privatvermögen erheblich zur Verarmung der öffentlichen Hand beiträgt, siehe, unter anderem, die auf diesen Seiten zunehmend dokumentierten Theaterfinanzierungskatastrophen. Die kommunalen und die Landespolitiker exekutieren da lediglich die Strategie ihrer Parteizentralen, Widerstand inopportun. Unsere Kinder werden, kann diese Fehlentwicklung nicht umgekehrt werden, vor geschlossenen Bühnen, Konzertsälen, Bibliotheken und Museen stehen - dafür aber vor einem Haufen Atommüll.
Rein theoretisch, Bremen: der Kritiker antwortet Steckel
Ich gebe zu, dass meine Einwände flapsig sind und insofern vielleicht nicht angemessen. In zwei Punkten bleibe ich aber bei dem Gesagten. Rechte wohnen nicht inne. Nichts und niemandem. Sie sind, auch wenn gern anderes behauptet wird, immer von einer Obrigkeit verliehen und können deswegen auch wieder zurückgenommen werden. Das allein spricht weder für noch gegen sie. Eine Deklaration wie die zur Diskussion stehende ändert daran nichts. Sofern nicht eine Instanz da ist, die solche Rechte durchsetzt, bleiben sie Absichtserklärungen. Wollen wir hoffen, dass es nicht dabei bleibt.
Zum zweiten Punkt: Die Vorstellung, dass sich bei einer florierenden kapitalistischen Produktion auch für die kleinen Leute der Wohlstand eines Tages einstellt ist, da sind wir uns einig, Ideologie. Die Folgen sind in "Rein theoretisch" ja auch sehr deutlich geschildert. Mein Einwand sollte sich nicht gegen die leider wirklich ausgesprochen schädlichen Folgen dieser Politik richten, sondern die Frage aufwerfen, ob man nicht den Bock zum Gärtner macht, wenn man an Politiker appelliert, die Spitzenteuersätze zu erhöhen, wenn die - im Dienste des Wachstums - seit Jahren das Gegenteil tun.
Rein theoretisch: lässt sich die Weltgesellschaft verändern, ja!!
Die Erklärung von Cochabamba spricht von „Derechos Inherentes“, immanenten oder innewohnenden Rechten, eine Wendung, die gerade besagen soll, dass diese Rechte, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika heißt, „unalienable“ (dtsch. „unveräußerlich“) sind, also weder übertrag- oder verleihbar, noch wegnehmbar. Sie gehören einem Wesen per se zu. Es wird für die Industriestaaten höchste Zeit, zu erkennen und anzuerkennen, dass der „Madre Tierra“ solche Rechte zugehören, wollen sie ihrem eigenen Untergang, verursacht durch den permanenten (längst nicht mehr unwissenden) Verstoß gegen diese Rechte, entgegenwirken. Wie wir wissen, haben die Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789 bis dato noch keine Schlächterei verhindert, andererseits ist unübersehbar, dass sie dem Widerstand gegen die jeweiligen Obrigkeiten (im einen Fall die britische, im anderen die französische Krone) entspringen - transformiert sich dieses Widerstandspotenzial in eine neue Obrigkeit, gerät es in Widerspruch zu seinen eigenen philosophisch-humanistischen Entdeckungen. Die Tatsache, dass die Würde des Menschen vielfältig antastbar ist, berechtigt freilich nicht dazu, sie zu vernachlässigen oder gar in Zweifel zu ziehen.

Was die gegenwärtige Steuerpolitik angeht, so wollen wir, wie bei den anderen Themenstellungen in REIN THEORETISCH auch, nicht in erster Linie appellieren, sondern darlegen, dass es Alternativen zu den gewollten Fehlentwicklungen gibt, insofern diesen eben keine naturwüchsigen Prozesse, sondern absichtsvolle Handlungen zugrunde liegen. Die Theaterkunst benötigt, will sie überleben, eine veränderbare Weltgesellschaft - unsere Arbeit galt der Frage, ob sich eine solche noch finden ließe. Die Antwort lautet unmissverständlich: Ja. Aber die Zeit wird knapp.
Rein theoretisch, Bremen: Stadttheater in den Grenzen von 1968
Bei allem Respekt frage ich mich, was diese Linksintellektualisierung des Theaters soll? Wenn man glaubt, die Kompetenz, das Wissen, die Dursicht hinsichtlich all dieser z.T. völlig unterschiedlichen und hochkomplexen politisch-ökonomischen Themen zu haben und dieses angelesene Laienwissen dann versucht auf dem Theater zu explizieren, dann hat man möglicherweide den Beruf verfehlt.
Das deutsche Stadttheater in den grenzen von 1968 meint es, wie so oftwahnsinnig gut. Oder wie war das noch gleich mit dem Feind des Besseren?
"Klima", "Finanzen", "Energie", "Bedingungsloses Grundeinkommen", "Agrarpolitik", "Arbeit", "Ungleichheit", "Medien"...
Holla die Waldfee!
Rein theoretisch in Bremen: moralische Ehrentitel
Menschenrechte werden in der Tat auch gern von Oppositionsbewegungen ins Feld geführt, und zwar als etwas erst durchzusetzendes, dem mehr Gewicht verliehen werden soll, indem man ihm (dem Durchzusetzenden) höhere Weihen verleiht wie die Unveräußerlichkeit. Menschenrechte werden aber auch seit ihrer Erfindung ins Feld geführt, wenn es darum geht, missliebige Regenten aus dem Weg zu bomben. Was ein Hinweis darauf ist, dass diese Rechte die moralischen Ehrentitel nicht immer ehrenhafter politischer Bestrebungen sind. Und solange eben nur Absichtserklärung und Behauptung, wie nicht eine Staatsgewalt mit ihren Machtmitteln für die Durchsetzung sorgt.
Rein theoretisch, Bremen: Beharrlichkeit einiger bringt Großes zustande
Unser Ausgangspunkt war die „Allgemeine Erklärung der Rechte unserer Mutter Erde“. Die Menschenrechte sind in diese Rechte eingeschlossen und die Erklärung stellt zutreffend fest, dass die Wahrung der Menschenrechte nicht ohne die Wahrung der Rechte aller anderen Wesen, aus denen „La Madre Tierra“ besteht, gewährleistet werden kann. Mit einer solchen Feststellung verbindet sich, darin stimme ich Ihnen ja zu, die Notwendigkeit einer politisch-ökonomischen Durchsetzung des Festgestellten. Letzteres allerdings löst sich nicht in Luft auf, wenn diese Durchsetzung, aus welchen Gründen auch immer, zu langsam erfolgt oder gar scheitert. Es nimmt dann jene vielfach erschreckenden Formen an, die geeignet sind, diejenigen, die der Meinung waren, es handele sich bei diesen Rechten lediglich um Behauptungen, eines Besseren zu belehren.
Es muss im Übrigen nicht immer „eine Staatsgewalt“ sein, die „mit ihren Machtmitteln für die Durchsetzung sorgt“, weltweit hat auch schon die Beharrlichkeit einer nicht übermäßig großen Anzahl von Menschen Erstaunliches zu Wege gebracht.
Rein theoretisch, Bremen: Agitationsästhetik
Trotzdem...ein über lange Strecken langer und ärgerlicher Theaterabend, der auch hartgesottene Politpraktiker des linken Lagers (wie mich) in seiner penetranten Rechthaber- und Agitations-Nichtästhetik zu FDP-Wählern machen konnte...undifferenziert mit vielen Behauptungen, die behaupteten, Antworten zu sein.
Verschenkt!
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