Fräulein Julie - Robert Borgmann lässt August Strindberg schnappatmen
Heute Abend ist das Fräulein komplett verrückt
von Shirin Sojitrawalla
Mainz, 9. Dezember 2010. Unter Robert Borgmanns Händen wird aus August Strindbergs züchtigem Kammerspiel "Fräulein Julie" eine zwei Stunden lang jugendwahnsinnig zugerichtete Zimmerschlacht, in der sich Jean als x-beliebiger Versager und Julie als nicht nur bipolar gestörte Lady Gaga entpuppt. Während Strindberg den Schluss nahe legt, dass sich die Grafentochter Julie nach ihrem Techtelmechtel mit dem Dienstboten Jean mit einem Rasiermesser aus dem Leben befördert, ritzt sich Katharina Knap lustvoll mit dem Messer die nackten Arme rauf und runter.
Da hat sie allerdings schon ihren nicht enden wollenden Schlussmonolog absolviert, in dem sie als Psychosebündel über die Bühne highheelt und ihr verpatztes Leben anpreist wie ein Marktschreier seine stinkenden Fische. Sie hört gar nicht mehr auf, uns vollzuquatschen und in einem Moment möchte man ihr den Hals umdrehen und im nächsten dann wird man ganz starr vor mitleidigem Entsetzen.
In einer Wunderkammer der Erinnerung
Doch zu diesem Zeitpunkt sind schon zwei Stunden gespielt, gefühlte drei. Gespielt wurde aber nicht "Fräulein Julie" von August Strindberg, sondern nach August Strindberg, was auch frech übertrieben ist. Denn für den jungen Regisseur Robert Borgmann (Jahrgang 1980), der in der nächsten Spielzeit als Hausregisseur ans Schauspiel Leipzig geht, ist der Originaltext nur Ausgangspunkt für eine Überschreibung, wie er es nennt.
Dafür hat er die Bühne im Kleinen Haus als eindrucksvolle Wunderkammer der Erinnerung gestaltet. Ein vollgerümpelter Salon mit vielerlei Spiegeln, in dem die eigene Kindheit und Jugend Brummkreisel fährt. Alte Teppiche stauben vor sich hin, vorne wartet ein Schaukelpferd, hinten ein durchgesessenes Sofa, die Rückwand besteht aus einer Leinwand, auf der sich im Laufe des Abends alles Mögliche abspielt: krachende Explosionen wie marschierende Soldaten. Von denen ist bei Strindberg nicht die Rede, und so verwundert es auch nicht, dass der Abend nicht mit einem der schwersten sommerleichten Drameneinstiegssätze beginnt: "Heut abend ist Fräulein Julie wieder verrückt, komplett verrückt!", heißt es laut Peter Weiss bei August Strindberg.
Beschwörung mit T.S. Eliot
Der Satz wurde in Mainz keineswegs ersatzlos gestrichen, sondern vielmehr von Katharina Knap als Julie regelrecht inhaliert. Zum Ende hin wird das Borderline-Persönchen über die Rampe straucheln wie in der tollsten Mittsommernacht. Julie dreht durch und der Abend mit ihr. Denn Borgmann hat Strindberg nach Hirn- und Herzenslaune, nun ja: verhunzt, Text weggelassen, Text hinzugedichtet, alles psychologisch und symbolisch aufgerüstet.
Julie gibt es bei ihm gleich dreimal, in junger wie in alter Ausführung und auch normal, also mittendrin, beziehungsweise 25 Jahre alt. Die dreifache Julie ist aber weder besonders originell noch bringt sie den Abend voran. Viel, viel schlimmer ist, dass die alte Julie (Andrea Quirbach) den Abend mit T.S. Eliots Langgedicht "Aschermittwoch" entfacht, dessen größtes Handicap seine Länge ist. Geschätzte hundert Strophen lang spricht sich Andrea Quirbach durch diesen nicht eben eingängigen Text, eindrucksvoll ja ja, aber man versteht nicht so recht, um was es eigentlich geht und freut sich schon über kleine Signalwörter wie Liebe und Zeit, während der Herr drei Sitze nebendran prompt in schönsten Theaterschlaf sinkt.
Filmzitate, Mythen und Symbole
Später kommt Karl Marx als Nachtgestalt hereinspaziert und verteilt im Zuschauerraum Zettel vom kommenden Aufstand, und Monika Dortschy als alte Frau kocht aus ihren Erinnerungsfotos einen übel riechenden Brei. Daneben dreht sich Julie zu Beginn - wie von einer Spieluhr operiert - in Reifrock, Puffärmeln und Püppchenschuhen durch die live gespielten Musiklandschaften. Wie auch Jean (Stefan Graf) spricht sie erst noch mit dem Hall eines Mikroports, was ihr Spiel bedeutungshubernd entrückt.
Wenn dann Jean als Untergebener längst zum Herr und Gebieter geworden ist, sprechen sie zuweilen so leise, dass es nicht einmal bis Reihe 9 reicht. Borgmann macht es seinen Zuschauern nicht leicht, überfordert sie bewusst, indem er mit den Zeit- und Wirklichkeitsebenen spielt, das Ganze obendrein mit zahllosen Filmzitaten, Mythen und Symbolen stopft und alles mit groteskem Übermut schnappatmen lässt. Der Abend ist verrückt, komplett verrückt. Und leider ziemlich überfrachtet.
Fräulein Julie
nach August Strindberg, Deutsch von Peter Weiss
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Raumrealisation: Michael Rütz
Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: Alexander Britting, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Katharina Knap, Andrea Quirbach, Lisa Mies, Stefan Graf, Tibor Locher, Julia Bremke, Emma Kaeshagen, Johannes Zink, Noah Hoppen-Leuschen
www.staatstheater-mainz.de
Mehr zu Robert Borgmann gibt es im nachtkritik-Archiv.
Kritikenrundschau
"Ein, zwei Zuschauer gehen, im Schlussapplaus sind auch leise Buhrufe zu hören. Den Rest des Publikums hindert das nicht, freundlich zu klatschen", so beginnt dek seine/ihre Kritik in der Frankfurter Neuen Presse (12.12.2010). Borgmanns "Distanzierung von Text und Psychologie, der eingefügte Karl Marx, die Zerlegung des Bühnenspiels in ein Sammelsurium von Einfällen nehmen sein Spiel als Anstoß disparater Bilder, in denen Gegenwart und Weiterdenken greifbar werden." Waren "die" damals denn so "zurück" im Vergleich mit "uns"?, so die rhetorische Frage im Text. Der Regisseur fordere "zum Denken auf, bedient sich vieler eingefügter Texte, spaltet und vervielfacht Julie und Jean, lässt beide aus den Figuren heraustreten und ersetzt Dialoge durch Passagen lyrischen Tons und essayistischen Gehalts." Wie er "Fräulein Julie" über Strindbergs Verständnis des eigenen Stückes hinausführe, muss nicht gefallen. "Dass er es tut, ist legitim."
Eine Collage, ein ganz persönlicher Bewusstseinsstrom und, ja, eine brachiale Textvergewaltigung sei Borgmanns Überschreibung, "sie hätte das Zeug zum Skandal, wäre das Publikum nicht längst gegen Attacken dieser Art immunisiert", so Matthias Bischoff im Regionalteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (12.12.2010). Die verwickelte Herrin-Knecht-Beziehung mache, zumindest in Splitterm, auch in Borgmanns Inszenierung den Kern des Dramas aus. Von hier ziehe die Inszenierung Linien "in verschiedenste Richtungen, ändert Chronologien und addiert eine inkommensurable Zutatenflut". Die Assoziationen folgen der nichtgreifbaren Logik des Traums - "hier liegt die Stärke dieser radikal subjektiven Inszenierung, hier liegt auch ihre Achillesferse." Für den, der sich der Suggestionskraft der eindringlichen Bilder überlasse, wird der Abend zu einer atemberaubenden Reise auch ins eigene Unbewusste. "Man begreift nichts, folgt dem Abend aber gleichsam mit offenem Mund." Fazit: "Was für ein grässlicher, atemberaubend ungeschlachter Theaterabend! Wirklich gelingen kann es nicht, ein Stück zu spielen, dabei dessen Wirkungsgeschichte und ein ganzes Jahrhundert und den Kampf der Geschlechter zu reflektieren. Aber es kann ungemein spannend sein, bei diesem Scheitern zuzuschauen."
In der Main-Spitze (13.12.2010) fragt Jens Frederiksen hingegen rhetorisch: "Warum einfach, wenn's auch umständlich geht?" Borgmann habe "eine Collage aus Liedern, Gedichten, soziologischen Texten, Filmeinspielungen und Teilen des Strindberg-Stücks verfertigt, in die Mitte den Pas de deux zweier Nackter gepackt und so ein verstörendes, in weiten Teilen unverständliches Assoziationen-Amalgam auf die Bühne gedrückt". Eine "sehenswerte Aufführung" komme dabei nicht heraus. Nur die "berückend schöne Musikuntermalung" durch das Trio aus Kontrabass, Gitarre und Geige tröste das "klaglos ausharrende Publikum". Die zwei Stunden fühlten sich für den Kritiker jedenfalls an wie vier.
Auf der "verheißungsvollen Wunderkammer-Rumpelbuden-Bühne" seien "Allgemeinplätze zu sehen, gehüllt in die Parodie einer Regietheaterinszenierung", meint Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau, 14.12. 2010). "Es gehören dazu das traditionell länger andauernde Gegen-die-geschlossene-Tür-Rennen und überhaupt das Wiederholen sämtlicher Einfälle ebenso wie eine längere Nackt-Szene, das die Texte aufbrechende Späßchen zwischendurch, Videoeinspielungen, die etwas mit den Texten zu tun haben (hier: irgendwie explodiert alles so), ein Auftritt von Karl Marx, vor allem aber eine Zusammenstellung von Lesefrüchten rund um das Thema: Die Verlorenheit des Menschen in der Welt." Wolle hier "jemand ernsthaft behaupten, dem Strindberg-Leser wäre noch nie aufgefallen, dass Julie eine zutiefst unglückliche Frau ist, die ihr Schicksal in dem ihres Zeisigs auf das Unangenehmste gespiegelt sieht?" Die Schauspieler verausgabten sich jedenfalls "auf respektheischende Weise für nichts".
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Was die Autorin als einen "nicht enden wollenden Schlussmonolog" abtut, war für mich das Highlight eines aufregenden Theaterabends in Mainz: eine junge Frau (Katharina Knap), die als Fräulein Julie absolut spielerisch und in wacher Distanz zur vor-geschriebenen Rolle groß und größer, stark und stärker wird. Die vor einem gebannten Publikum wächst und wächst, weil ihr Fräulein Julie mit allen Poren heutig reagiert und antwortet.
Woher der "man"-Wunsch der Autorin kommt, der Schauspielerin dafür "den Hals umzudrehen" oder aber in Mitleidsstarre zu verfallen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich teile mit ihr zwar die Einschätzung, bisweilen einem Zuviel an verarbeitbaren Eindrücken ausgesetzt gewesen zu sein. Nehme dies aber als Anregung, mir das Stück noch einmal (und besser informiert) anzusehen, zumal mir der Regisseur weniger ein spinnerter Hallodri, als ein origineller Kopf zu sein scheint.
Dass es am Abend nach der Premiere überaus herzlichen Applaus und nicht einen Buuh-Ruf gab, sei noch angemerkt.
im übrigen glaube ich auch nicht, dass sich mainzer theatergänger schon lange über (natürlich dem ensemble angehörende!) claqueure ärgern, und erst recht keine kritiker. dazu ist dieses haus doch wirklich von zu geringem interesse.
vielmehr möchte ich dem erstgesagten zustimmen: ohne dass ich den abend gesehen habe, ist allein diese kritik doch wirklich unerträglich (...)
Anzumerken ist noch, dass Vieles, was gesagt wurde, nicht erst in der 9., sondern schon in der 4. Reihe akustisch nicht zu
verstehen, Frau Dortschy und teilweise Frau Knap ausgenommen.
Das ärgerlichste ist das schon von Kuschel beschriebene Gejohle samt Bravorufen einer immer wieder auftretenden Gruppe junger Männer, die offensichtlich die selbst bei der Premiere zahlreichen unverkauften Plätze besetzen und mit dem Theater und insbesondere
den Protagonisten des Abends verbandelt sind.
Der normale Theatergänger/Abonnent hat längst resigniert gegenüber
dieser lautstarken Claque - deswegen fehlten die vermissten Buhrufe. Eine weitere Spielzeit werde ich mich dem nicht aussetzen.
besten gruß
Nackt auf der Bühne für ein Stück, bei dem der Nacktheit wieder nichts anderes als Aufgabe zukommt, als die Modernität der Inszenierung und der Progressivität des Staatstheaters Mainz.
Schade!
Gut, dass Sie das Thema Nacktheit einmal ansprechen, denn es hat diese Inszenierung wirklich kein bisschen weitergebracht. Auch in Mainz scheint es Mode zu sein, Darsteller/innen die Hüllen fallen zu lassen. Wenn es der Figur oder dem Stück einen Mehrwert gibt, dann gerne. Erhofft man sich aber durch ein bisschen "Porno" schlichtweg besser Besucherzahlen, würde mich dies, vor dem nichtkommerziellen Anspruch des Theaters, sehr nachdenklich stimmen. Wenn dafür junge Schauspieler/innen mit ihrer Bereitschaft herhalten müssen, wäre das gar eine traurige Entwicklung.
nervensäge
Ich habe das Stück nicht gesehen, aber mich für Frau Knap gefreut, dass sie meines Wissens nach bisher verschont geblieben ist, von dem Trend, der sich durch die vermeintlich ach so modernen Inszenierungen zieht, nackt auf die Bühne zu müssen. Aber das scheint sich dann ja nun auch erledigt zu haben. Alles was ich bisher an Material von dem Stück gesehen habe, zeigt mir, wie sinnlos eine Nacktheit von Schauspielern in diesem Falle ist.
Es mag ja Stücke geben, die nackte Tatsachen auf der Bühne rechtfertigen, aber ich denke, sie sind an einer Hand abzuzählen.
Ach ja: Ich habe Macbeth sowohl gelesen, als auch gespielt gesehen. Das Stück funktioniert super ohne Nackte und mit Kostümen!
Grade Goschs Inszenierung zeigt, dass Nacktheit eben nicht als Stilmittel, sondern zur Provokation und damit zur "(Be-)Werbung" des Stückes eingesetzt wird. Ebenso wie literweise Kunstblut.
Noch bedauerlicher als die "Bereitschaft" der Schauspieler nackt auf die Bühne zu gehen, finde ich die Tatsache, dass Regisseure dies einfach so verlangen können und das es einem Schauspieler nicht frei steht, nein zu sagen. Wie oft denken sie kann man in einem Ensemble Rollenangebote wegen Nacktszenen ablehnen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen?
Wenn die Aufführung nicht gefällt - ist jedem sein recht. Aber diese Prüderie um moralischen Druck auszuüben, Pfui Teufel.
Das ist eben die seltsame Umkehrung:
Kunst muss einen immer noch über-rümpeln (mit modernem Unrat und Gerät) und quälen! (Theater als Folterkammer usw. ...
wenn nur nicht der Alltag und die Arbeit einen gar so plagen und quälen würde, und dann noch solche moderne Postdramatik als Kunst!)
Im alten Sinne (und uraltem Sinn):
Kunst sollte erheben (bis zu den Göttern!) und einen in eine Hochstimmung bringen.
(im Altmodischen: In den "ästhetischen Zustand" bringen)
So gilt und bringt das nichts mehr.
Jedoch: Über-rumpeln und quälen könnte ebenso
für keine Kunst erklärt werden.
(O diese harten Schlägertrupps, die in die Bereiche der "Kunst" gewaltsam
eingedrungen sind,- und sich immer mehr Platz schaffen mit Gewalt!)
Unterhaltung ist vielleicht keine(weniger und dümmere)) Kunst,
aber was braucht der "gewöhnliche Arbeitsmensch" anderes am Abend
nach einem arbeitsreichen Tag?
sei zu bedenken