Hitzegrade. Temperaturen der Stadt

von Martina Löw

Freiburg, 28. Januar 2011. Die Stadt gilt als der Ort, an dem die Kontinuität von Kultur erfahrbar wird. Mehr noch, sie ist das Zentrum jeder nicht nomadischen Lebensweise, kumulierte Kultur, und damit zugleich Ausgangspunkt und Vergewisserung historischer Sedimentbildung. Eine öffentliche Debatte, die die Stadt in ihrer Vielfalt zu begreifen trachtet, erschiene also naheliegend und doch standen die Intellektuellen der Großstadtkritik immer näher als dem Sinnverstehen städtischer Gefüge.

Denken Sie mit mir einmal die Stadt als Vergesellschaftungsform (individuell prägend und spezifisch sinnhaft), "deren basale Logik auf Verdichtung und Heterogenisierung beruht" (Berking 2008: 29). Dichte kann man als "eine Temperatur, ein Hitzegrad" fassen, "der die Reaktionsfähigkeit zwischen heterogensten Elementen bereitstellt und die unmöglichsten Verbindungen Wirklichkeit werden lässt" (Berking 2008: 21).

Stadt als Vergesellschaftungsform

Jede Stadt wird folglich als verdichtete Sinn- und Wissensordnung verstehbar und somit kulturtheoretisch interpretierbar. Dies meint keineswegs - nur um keine Missverständnisse hervorzurufen - den Ausschluss wirtschaftlicher Praktiken aus der Stadtanalyse, sondern eine als Kultursoziologie sich begreifende Stadtsoziologie richtet das Augenmerk auf kulturelle Codes, Deutungsmuster, Repräsentationen und Sinnhorizonte, um jene symbolischen Ordnungen zu begreifen, die jede Art von Praktiken (seien sie politischer, wirtschaftlicher, ästhetischer etc. Provenience) ermöglicht oder beschränkt. Wenn die Stadt eine "genuin eigenständige Vergesellschaftungsform" (Berking 2008: 17) ist, dann heißt das zum Beispiel für das Stadttheater, dass Inszenierungen vor dem Hintergrund spezifischer Sinnprovinzen erfahren werden. Bedeutungszuschreibungen sind ortsabhängig

Mit dem Kulturbegriff sind zwei Abstraktionsebenen angesprochen: erstens die Formen, Deutungsmuster und Sinnhorizonte, die sich zu gemeinsamen Weltsichten verdichten und somit sich als verschiedene Kulturen unterscheiden lassen, sowie zweitens die Materialisierungen in Form von Objekten und Institutionen, wie zum Beispiel heater, die in der Auseinandersetzung mit den Formen, Codes und Deutungsmuster etc. entstehen. Damit lässt sich fragen, wie macht ein Gebilde, das wir allgemein als Stadt definieren und mit einem konkreten Namen versehen, hier Freiburg, für Sie eigentlich Sinn? Wie macht Freiburg Sinn? Macht es anders Sinn als St. Petersburg oder Seoul? Welches Theater braucht welche Stadt?

Welches Theater braucht welche Stadt

Fangen wir mit der Antwort bei Max Weber an. Seine bis heute unwidersprochene Hauptaussage ist, dass Menschen mit ihrem Handeln Sinn verbinden. Wir verhalten uns nicht blind, sondern das, was wir tun, muss für uns einen Sinn ergeben. Anders formuliert: Handeln ist kulturell. Nebenbei bemerkt: Weil Handelnde Sinn mit ihrem Tun verbinden, können Disziplinen wie die Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie, Ethnologie dieses Handeln deuten. Gäbe es keinen Sinn, gäbe es auch nichts zu deuten. Dieser Sinn muss selbstverständlich sich an keinem System von wahr und falsch messen lassen. Wenn wir glauben, dass es hilft, bei einer drohenden Erkältung die Fenster zu schließen, dann macht für uns das Schließen Sinn, auch wenn Mediziner kontinuierlich uns erklären, dass es Unsinn ist.

Gemeinsame Kultur findet sich demnach darin, dass Menschen Sinnsysteme teilen. Wir halten es heute in unserem Kulturraum nicht mehr für möglich, dass entblößte Frauenpobacken gen Himmel gestreckt, zu Regen führen, wagen aber in den seltensten Fällen es, unsere Mutter zu verfluchen, weil wir doch nicht sicher sind, dass keine Kraft von Flüchen ausgeht.

Sinnsysteme verbinden, Interkultur führt nicht weiter

Nun sind die Sinnstrukturen einer Kultur keine homogene Einheit, sondern heterogen ausdifferenziert. Wir wissen, dass Menschen nach Alter, Ethnizität, Geschlecht, Milieu Unterschiedliches für sinnvoll erachten (obwohl der Bestand gemeinsam geteilter Weltsichten erstaunlich hoch ist). Fraglos als gegebene hingenommene Wirklichkeitskonstruktionen variieren nach unterschiedlichen städtischen Milieus. So halten viele türkische Milieus Familiensinn für die zentrale Orientierung im Leben, viele deutsche Milieus sind hier eher distanziert und akzeptieren bestenfalls die Kleinfamilie als Relevanzrahmen. Hier variieren nach ethnischer Herkunft Sinnkonstruktionen, wenn auch beide Gruppen Familie als soziale Organisationsform des Zusammenlebens nicht infrage stellen - was ja keineswegs in allen Völkern der Fall ist.

Dass also Quartiere und die Milieus, die sich dort versammeln, unterschiedliche Kulturen aufweisen, wird kaum zu bezweifeln sein, sagt aber über die Städte nicht mehr aus, als dass sie heterogen sind.

Die Frage nach Interkultur, wie sie auch auf dieser Tagung aufgeworfen wird, führt meines Erachtens jedoch weiter. Sie zwingt uns zu einer Antwort, ob Städte Strukturgefüge sind, die gemeinsamen Sinn zu evozieren vermögen. Also jenseits der Varianten in den Stadtteilen und Milieus eine verbindende Kultur entwickeln. Freiburger Kultur. Konstanzer Kultur. Züricher Kultur. Dirk Baecker sagt, dass Theater immer anders gespielt wird, ob das Theater mit Göttern, mit Fürsten, mit der Tageszeitung oder mit Google konkurrieren muss. Wird es nicht auch anders gespielt, ob wir es mit Tokyo, Paris oder Köln zu tun haben? Müsste es nicht anders spielen? Müssen sich Intendanten und Dramaturgen eines Stadttheaters nicht auf ihre Stadt einlassen?

Stadt-Miteinander schafft Bewusstsein, aber noch keinen Inhalt

Städte sind Objektivationen. Sie werden mit Namen versehen, in Bildern konstruiert, als Pläne gezeichnet, als Einheiten geplant etc. Man fährt nach Köln, Paris oder Tokyo. Man wohnt in Boston, Seoul oder Barcelona. Als Geburtsort wird in der Regel eine Stadt vermerkt, nicht ein Platz oder Quartier. Städte sind wie alle Objektivationen, so lässt sich mit Alfred Schütz genauer bestimmen, Kraftsetzungen: "Erzeugnisse eines Handeln und als Erzeugnisse sind sie auch Zeugnisse für das Bewußtsein des Handelnden, welcher sie in seinem Handeln erzeugte" (Schütz 1991: 186; kursiv im Original). Einen ähnlichen Gedanken folgt auch Robert Park, wenn er schreibt "The city is (...) a state of mind." (Park, Burgess, McKenzie1968:1).

Dass Menschen sich stärker mit ihrem Stadtviertel denn mit der Stadt identifizieren (Gemeinnützige Hertie Stiftung 2010), zeigt nur, dass sie auch die Stadt als konstruierte Einheit mit Sinn für das eigene Leben anreichern. Städte sind (wie Quartiere und Nationen) auch - und ganz wesentlich - Orte, die die Erfahrung eines "Wir" ermöglichen. Dieses "Wir" (wir Berliner, wir Freiburger...) ist kein Ausdruck von Deckungsgleichheit von Erfahrungen aller städtischer Bürger/-innen. Eine Weltsicht die eine Stadt in eine Wir-Beziehung setzt, bedeutet zunächst nichts anderes als die Erfahrung sozialer Umwelt in räumlich und zeitlicher Koexistenz (Schütz 1991: 227).

Durch die Leibhaftigkeit des Miteinanders wird ein gemeinsames Bewusstsein, Bewohner/-innen dieser Stadt zu sein, möglich, das noch keine Aussage über den Inhalt der Erfahrung dieses "Wirs" ermöglicht. "Wir" beziehen uns gemeinsam auf diese Stadt. Ob die Mitmenschen in der Bezugnahme die Stadt auf gleiche Weise deuten, können wir im Alltag nicht wissen, wie wohl wir dies häufig annehmen. Wir lassen in der täglichen Praxis das "besondere Wie" des Aufbaues des Bewusstseins des oder der anderen gänzlich dahingestellt und begnügen uns damit zu wissen, dass die Mitmenschen mir räumlich nahe stehend, ähnliche Wahrnehmungsoptionen haben" (ebda: 230). Die Erfahrung des "Wirs" in einer Stadt und als Stadt bedeutet nicht, dass diese Stadt Erfahrung homogenisiert. Ein "Wir" als konstitutiv zu setzen, negiert nicht die Existenz der Vielfalt der Lebenswelten.

Wir fundiert das Sinngewebe der Stadt

Perspektiviert wird schlicht die Erfahrung vom "Wir", welche die Erfahrung des Ichs überhaupt fundiert (ebda: 230; Scheler 1926: 475f.). Dies ist ein Gedanke den auch Karl Mannheim ausarbeitet, wenn er schreibt, dass die "Vorbedingung der Selbsterkenntnis (...) die soziale Existenz" (Mannheim 1980: 213) ist. Wenn also, wie wir in einer Studie am Beispiel der Stadt Darmstadt zeigen konnten (Löw/Noller/Süß 2010), die Stadt in affekthaften Zuschreibungen, welche von Ruhe und Gelassenheit geprägt sind, erfahren wird, dann vermag man daraus keine Aussage darüber ableiten, was Ruhe und Gelassenheit für jeden einzelnen Darmstädter oder je nach Milieu bedeuten.

Es mag der Eindruck dominieren, dass Probleme in dieser Stadt pragmatisch durch Konfliktvermeidung, langsame Entscheidungsfindung, Kommunikation, Kompromissbildung, Prozesse des Aushandelns sowie durch Schaffung einer günstigen Atmosphäre für gegenseitiges Kennenlernen gelöst werden (Löw/Noller 2010: 264ff.). Dieser Eindruck wird jedoch für die Politiker im Rathaus anders gefärbt sein als für die Punker, die vor dem Rathaus ihren Treffpunkt haben. Mehr noch: Manche werden umso schneller reden, arbeiten, laufen in einer Stadt, die man alltagsweltlich als phlegmatisch erleben kann, andere wiederum passen sich dem Rhythmus der Stadt an.

Das "Wir" in Darmstadt bezieht sich auf die Erfahrung von Entschleunigung. Wie Langsamkeit und Schnelligkeit deutend in Handeln der jeweiligen Stadtbewohner/-innen und -besucher/-innen eingehen, kann man im Alltag nicht wissen (wiewohl man im Alltag zur Komplexitätsreduktion Annahmen hierzu bilde). Die Pointe aber ist: Darmstädter Kultur ist eben jenes Sinngewebe dieser Stadt. Soziale Milieus bilden in dem Sinngewebe unterschiedliche Knoten, aber sie bleiben eingewoben in die Kultur dieser Stadt.

Wissen, gemeinsames Schicksal, Handeln

Kein Bewusstseinsakt ist von dem Gewebe, schreibt Karl Mannheim, in dem es denkt und das es erlebt, zu trennen. Wissen entsteht im Rahmen gemeinsamen Schicksals, gemeinsamen Handelns und in der Konfrontation mit gemeinsamen Schwierigkeiten (ausführlich Mannheim 1985, orig. 1929: 27ff.). Für Karl Mannheim ist die Kategorie der Erfahrung gerade nicht subjektzentriert als einzigartige Sinngenese zu verstehen, sondern erfasst einen konjunktiven, d.h. die Gemeinschaft verbindenden, Erfahrungsraum. Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraumes meint das gemeinsame und damit verbindende Erlebnis einer Kulturgemeinschaft. Diese kann sich über Generationslagen ebenso herstellen wie über ortsgebundene Gemeinschaften.

Das ist wichtig: In der Regel sind wir in verschiedene Kulturgewebe unterschiedlicher Reichweite gleichzeitig eingebunden: in die Kultur unserer Generation, in die unseres Landes, unserer Stadt, unseres Milieus. Ich kann meiner Mutter ebenso in Aspekten kulturell sehr nah und in anderen kulturell sehr fern sein wie meiner asiatischen Kollegin.

Mannheim unterscheidet zwischen einer weiten und einer engen Form des Erkennens. Die weite Form ist jegliche Aufnahme des Gegenübers in das Bewusstsein; die enge Form die begriffliche Objektivierung. Beide Formen des Erkennens sind Praktiken des alltäglichen Deutens und der Sinnkonstitution. Mannheim stellt sich Erkennen als Inkorporation vor. "Die Dinge können 'draußenʽ bleiben und dennoch ist das, was wir von ihnen in uns aufnehmen, eine Verschmelzung ihrer mit unserem Selbst, und ihre Erkenntnis ist nicht eine Distanzierung, sondern ein Aufnehmen ihrer in unseren existenziellen Bestand" (Mannheim 1980: 208).

Aufnehmen von Stadt durch den Umgang mit derselben

Basis des Erkennens ist jener Vorgang, den Mannheim als "Kontagion" bezeichnet, eine "existenzielle Bezogenheit, ein spezifisches Einswerden mit dem Objekte" (ebda: 209). Wir schmecken, schreibt Mannheim, seine "seelische Eigenart" (ebda). Mit den "räumlichen Sensorien" werde zugleich "unsere Seele affiziert" (ebda). Hinter diesen Formulierungen steckt die Einsicht, dass es Erfahrung ist, die Erkenntnis ermöglicht, eben nie nur distanzierte Betrachtung, sondern - wie sein Schüler Norbert Elias später (1983) ausführen wird - die Balance zwischen Engagement und Distanzierung: das Aufnehmen (einer Stadt z.B.) in die gewonnene Weltsicht durch den Umgang mit derselben, das Riechen, Tasten, Sehen, Hören oder schlicht die Einbettung von Erfahrung.

Nun spricht Karl Mannheim nicht nur von Erfahrung, sondern vom konjunktiven Erfahrungsraum, weil dieser Prozess des Erkennens kein individueller Vorgang, sondern kollektives Erleben ist. Ein gemeinsamer Erfahrungsraum, in dem hier diskutierten Fall wäre das die Stadt, gemeinsames Erkennen, deutendes Handeln, nicht nur möglich macht, sondern legt es auch nahe.

So wie Thomas Mann Lübeck nie abschütteln konnte

Erfahrungsgemeinschaften als Kulturgemeinschaften sind vielfältig denkbar. Die Stadt ist deshalb eine nicht zu vernachlässigende Kulturgemeinschaft, weil sie gemeinsame Kultur zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft denkbar und fühlbar macht. Wir wissen längst, Menschen, die aus einem Land, seien es Bauern aus Anatolien oder Informatiker aus Delhi, nach Deutschland kommen und hier in unterschiedlichen Städten sich niederlassen, weisen schon nach wenigen Jahren deutliche Differenzen auf. Dann sind Mannheimer Türken im Unterschied zu Dortmunder Türken oder Düsseldorfer Inder klar im Habitus unterscheidbar von Berliner Inder.

Thomas Mann (1960, orig. 1926) hat die Stadt Lübeck in diesem Sinne als Produzenten einer persönlichen Lebensform, -stimmung und -haltung beschrieben, die er sein Leben lang nicht mehr abschütteln konnte. Nikolai Anziferow versucht eben diese Erfahrungsgemeinschaft als "Seele Petersburgs" (2003; orig. 1922) zu verdichten. Eine Stadt, schreibt schließlich Hans-Georg Gadamer, ist "eine Welt, die man nicht von vornherein in objektiver Distanz eines Gebildes anschaut, sondern in der man lebt, die einem ins Blut geht und deren Gestalt sich langsam dem in ihr lebenden so heraushebt, wie sie sich selbst aus dem geschichtlichen Prozess ihres Wachsens zu ihrer nie ganz fertigen und vollendeten Gestalt bildet" (Gadamer 1977: 85).

Wie vermittelt sich die gemeinsame Kultur?

Wie vermittelt sich nun diese gemeinsame Kultur? Ich möchte nur zwei kurze Antworten hierfür zur Diskussion stellen, wissend, dass der Prozess noch weitaus komplexer ist.
Um Stadterfahrung Zukömmlingen zu vermitteln und nicht allein der Gegenwärtigkeit zu verschreiben, bedarf es der Sprache, der Namensbildung. Der Begriff "Stadt" übernimmt die Funktion als Allgemeinbegriff, ein verdichtetes, auf Heterogenität basierendes soziales Leben vom Land und vom Nationalstaat zu unterscheiden. Als solcher tilgt er (mit Recht) die Verbundenheit mit der Erfahrung, die ihn fundiert.

Daneben stehen Petersburg, Lübeck oder jeder andere Stadtname als Worte in benennender Funktion. Sie verweisen auf anschauliche, erlebnisbasierte Erfahrungsgemeinschaften. Mit ihrer Namensgebung wird existenzielles Zusammensein auf Dauer gestellt und von der unmittelbaren Aufnahme im Sinne der Inkorporierung jedes Einzelnen abgelöst.

Mit der Namensgebung wird es möglich, über Paris vieles zu wissen, ohne je dort gewesen zu sein. Die Rede von der Totalität der Stadt, dem Ganzen der Stadt oder auch der Einheit Stadt meint hierbei immer eine mit einem Namen versehene zeitweilige Synthese ohne geschichtliches Abschlusstelos. Es ist die, auch auf agonalen Prozessen basierende, gestaltgebende Deutung als Zusammenhang.

Eine andere, gleichwohl ergänzende, Antwort auf die Frage nach der Vermittlung von Erfahrung und dem historischen Fortbestand von Deutungen gibt das Konzept der Institutionalisierung. Eine entscheidende Dimension für die Herausbildung eines überindividuellen Erfahrungszusammenhangs als gemeinsame Kultur ist die Habitualisierung von Formen, Codes, Deutungsmuster, Repräsentationen und Sinnhorizonten, die sich als Lösungsstrategien für Alltagsherausforderungen bewährt haben. Institutionalisierung ist jener Prozess, wenn aus individuellen Handlungen typische Handlungen und aus Individuen Typen werden.

Städtisches Imaginäres in Rostock versus Bremerhaven

Helmuth Berking, Jochen Schwenk u.a. (erscheint 2011) haben eine vergleichende Studie zu Rostock und Bremerhaven durchgeführt, in der sie zeigen können, in welchem Maße Stadtgestalt, städtisches Imaginäres und kulturelle Dispositionen korrespondieren. Rostock, die traditionelle Händler- und Bürgerstadt, versammelt Menschen, Geschichten und Dinge in ihren Mauern. Bremerhaven als industriekapitalistische Hafengründung dagegen, verschifft und verteilt sie.

Während sich das deutende Handeln in Rostock mit städtischer Fülle und starker Identifikationen verbindet, bleibt die für Bremerhaven Stil prägende Sinnkonstruktion an die Erfahrung von städtischer Leere und technikgebundenen Krisendiskursen verhaftet. Auf diese Weise organisiert sich Erfahrung in den beiden deutschen Hafenstädten auf grundlegend verschiedene Weise und öffnet ungleiche Handlungspotenziale und Krisenbewältigungsstrategien für die Bewohnerschaft. Trotz der Existenz individueller und gruppenspezifischer Deutungen bleibt somit der Befund bedeutsam, dass eine Stadt (sagen wir New York) Erzeugnis gegenwärtigen und vergangenen Handelns ist und als solche objektiviert wird, d.h. sie wird benannt, typisiert, institutionalisiert und habitualisiert - sie entwickelt eine ihr eigene Kultur.

Allgemeiner und zusammenfassend formuliert heißt das, dass sich in jeder Stadt spezifische Eigenlogiken herausbilden, die auf habitualisierter Erfahrung basieren und in Benennungen münden. Im Prozess des Vertrautwerdens mit einer Stadt bilden sich Erfahrungsgemeinschaften heraus, die Regelzusammenhänge vor Ort kennen und ihnen Sinn zuschreiben.

Die besondere Logik von Salvador de Bahia

Nehmen wir eine Stadt wie Salvador de Bahia, welche sich architektonisch, wirtschaftlich und in seiner ethnischen Zusammensetzung so fundamental von Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo oder Brasilia unterscheidet, dass Sinnhorizonte sich hier auf selbstverständliche Weise anders formieren als dort. Wir wissen viel über Ethnizität, wenn wir erheben, wie sich ethnische Gruppen im Land verteilen, auch wenn wir in biografischen Interviews analysieren, wie auf der Ebene des Individuums Rasse relevant gemacht wird, aber darüber hinaus - und das ist meine These - ergibt Schwarzsein in São Paulo einen anderen Sinn als in Salvador. Und das ist keine Frage der Größe, sondern eine Frage der Rolle, die Städte in einem Gefüge spielen (und spielten), das über regionale, nationale und globale Netzwerke organisiert ist.

Ausgehend von der Annahme, dass sich heute keine Stadt - schon gar nicht eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern wie Salvador de Bahia - jenseits von Globalisierung und Nationalisierung entwickelt, möchte ich Ihnen plausibel machen, dass alles Wissen über Ethnizität (zum Beispiel) unvollständig bleibt, wenn wir nicht wissen, wie schwarze Hautfarbe stadtspezifisch Sinn macht.

Es geht mir darum Städte als vergesellschaftende Dimension neben Nationalstaat und globale Netzwerke zu stellen (im Einzelfall ergänzt durch starke regionale Systeme, hier: Bahia) und deren gegenseitige Indienstnahme zu verstehen.

Verdichtung und Intensitätssteigerung

Die Frage nach spezifischen Formen der Verdichtung in Salvador de Bahia zielt auf das Verständnis von Einschluss über "Intensitätssteigerung". Auf der Ebene von Sozialstruktur wie im Stadtbild wird schnell deutlich, dass Salvador de Bahia in gesteigerter, dichter Formation Menschen unterschiedlicher Hautfarben zusammenbringt, nach Selbstklassifikation 12 Rassen. Wenn man diese, die Stadt bestimmende Verdichtung, auf den Ebenen Nationalstaat, Globalgesellschaft und lokale Formierung ausdifferenziert, dann ergibt sich folgendes Bild:

Im nationalen Gefüge repräsentiert Salvador de Bahia heute für weitere Bevölkerungsschichten die eigentlich 'authentische‛ und 'traditionelle‛ brasilianische Identität (Rothfuß 2007a: 41; siehe auch Augel 1991: 9). Salvador gilt als Belegstadt für die von Gilberto Freyre postulierte Verschmelzung der ethnischen Gruppen und wird im Alltag gerne als "Wiege" Brasiliens bezeichnet. Vermischen steht in Brasilien für den eigenen Weg nach der Kolonialisierung. Die ethnische gemischte Gesellschaft überwindet die Reinheitsvorstellungen Europas ebenso wie die Rassenlehre der USA, in der jede Ethnie identifiziert und das Zusammenleben differenter Gruppen zum Ziel wird. In Brasilien wird vermischte Herkunft zur Regelannahme für jedes einzelne Individuum. Vermittelt über den hohen Anteil Afrobrasilianer/-innen in Salvador de Bahia sowie die spezifische Geschichte der Stadt als Anlaufstelle für die Sklavenverschiffung und als koloniale Hauptstadt qualifiziert sich Salvador dazu, den Beweis für Brasiliens eigenen Weg in die Moderne zu liefern.

Zirkulierende Bewegungen

Die für postkoloniale Staaten typische Suche nach dem Eigenen, das in Brasilien einen
Ausdruck in der Stadt Salvador finden soll, wird permanent durchzogen von global zirkulierenden Bewegungen.
1.    Die Schwarzenbewegung. Seit den 1970er Jahren ist in Salvador eine „Re-Afrikanisierung" (Risério 1981) zu beobachten, welche politisch im international agierenden Movimento Negro Unificado (gemeinsame Bewegung der Schwarzen) (Bailey 2008) sowie in der Musik und der Karnevalsindustrie ihren Ausdruck fanden (Schaeber 2006). Michael Jackson hat sein Video mit afrobrasilianischen Rhythmen ebenso in Salvador gedreht wie Paul Simon.
2.    Tourismus. Ein afroamerikanischer Tourismus, der mit der Suche eigener Wurzeln verknüpft ist, führt direkt nach Brasilien und häufig nach Salvador de Bahia. Amerikanische Reisebüros werben damit, dass Schwarze in Salvador die eigenen Wurzeln originaler als in Afrika finden können.
3.    UNESCO. Das Quälen der Sklaven, markiert über den Schandpfahl, ist Namensgeber für jenes Ensemble mit spätkolonialer Architektur geworden, welches das historische Zentrum bildet und zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde: Der Pelourinho (so der Name des Quartiers) verfiel im 20. Jahrhundert zum Ghetto für die arme, eher schwarze Bevölkerung. Die heute international über UNESCO Gelder finanzierte Praxis der Sanierung erfolgte in Salvador auf geradezu beispielhaft sozial unverträgliche Weise, einseitig auf Tourismus orientiert und unter weitgehender Vertreibung der Bevölkerung (ausführlich: Rothfuß 2007a/b). Entstanden ist ein disneyfiziertes Quartier, das zum schwer kontrollierbaren Ort potenzieller Gewalt wurde, nahezu ohne Wohnfunktion, dafür mit vielen Hotels und touristischer Infrastruktur.

Mehr Suche nach Erinnerung

Das heißt, auf der Ebene globaler Vernetzung wird Salvador als schwarze Stadt ineinsgreifend mit nationalen Mythen in Form gebracht. Was heißt das auf der Ebene der Stadt? Wie vielerorts so stieg auch in Salvador mit dieser Form von Modernisierung die Suche nach Erinnerung. Der Pelourinho wurde aus der Vergessenheit gerissen und durch Antrag an die UNESCO aktiv zur Sanierungsenklave, mit der man versucht hat, etwas Eigenes neben die Orte moderner Globalisierung zu setzen, erhoben. Aber, anders als z.B. in Mombasa/Kenia, wurde die Erinnerung an das portugiesische Erbe zugunsten eines afrobrasilianischen Erbes in den Hintergrund gedrängt (also nicht wie in Mombasa Fort Jesus in Szene gesetzt) sondern die Erinnerung an 350 Jahre Sklavenherrschaft wurde neu übersetzt in "schwarze Kultur".

Heute steht kein Denkmal, wo einst der Schandpfahl stand. Im afrobrasilianischen Museum werden Besucher/-innen mit Riten und Gebrauchsgegenständen, aber nicht mit Unterdrückung vertraut gemacht. Das Amt für Tourismus schreibt für den Verkauf von Acarajé (ein afrikanischer Schnellimbiss) traditionelle Kleidung vor. In den Gassen trommeln die afrobrasilianischen Gruppen bei öffentlichen Proben. Aber auch im Alltag wird Schwarzsein als „eigene Kultur" ausgestellt, der z.B. dadurch Ausdruck verliehen wird, dass in der Cafeteria der Universität freitags afrikanisches Essen serviert wird. Restaurants, in denen Kellner mit portugiesischer Kluft bedienten, wurden nicht aufgesucht. Baianas, die vorgeblich traditionell afrikanisch weiß gekleideten Frauen, bedienen auch in den weitab vom Tourismus entfernt liegenden Restaurants.

Durchmischung mit vormodernen Traditionen oder Blick in die Zukunft

Sinn macht Ethnizität in Salvador als resistenter Erhalt afrikanischen Erbes vor dem Hintergrund einer Versklavungsgeschichte. Faktisch wird Sklaverei als zutiefst moderne, global vernetzte und unterwerferische Handlungsform durch die Reinszenierung vormoderner afrikanischer Traditionen ersetzt.

Deutlich werden kann an dem Beispiel, dass das Projekt Nationalstaat begleitet wird von technologischen, kulturellen und ökonomischen Globalisierungsströmen sowie von einer eigenwilligen Praxis in den Städten, die ihr eigenes Gewordensein und ihre Stadtstruktur weiterentwickeln in den nationalen und globalen Angeboten. In dem nahe gelegenen Recife, mit ähnlicher ethnisch-sozialer Zusammensetzung, wird Ethnizität dethematisiert, wohingegen Salvador rethematisiert.

Durchmischung ist auch das Thema von Rio de Janeiro und São Paulo, aber die global cities tun alles, um nicht mit Tradition in Zusammenhang gebracht zu werden. Dann wieder Mombasa, eine Stadt in der Ethnizität radikal zum Thema gemacht wird, aber ohne jeden Fluchtpunkt einer Gemeinsamkeit. Dort macht die Geschichte der Kolonialherren Sinn als gemeinsamer Bezugspunkt. Oder noch einen anderen Fall: Seoul: Auch hier gibt es ein "historisches" Zentrum (Bukchon Hanok), das vor allem dem Ferntourismus ein Ziel bietet und entsprechend museal/homogen inszeniert wird. Für die einheimische Bevölkerung ist die Architektur als Träger von Geschichte oder als Vergewisserung eines Ursprungs irrelevant. Die Frage der städtischen Identität richtet sich ganz auf die Zukunft, die keine Rückbindung an eine Ursprungsfigur zu brauchen scheint, jedenfalls nicht in Form eines exklusiven städtischen Raums als Traditionsrefugiums.

Verdichtung bedeutet in Seoul nicht Bindung von Ethnizität an Erbe und Integration, sondern die Qualität des städtischen Raums misst sich nach technologischer Innovationsrate, sei es im Feld der Lichttechnik, der Überwachungstechnik, der Verkehrsregulierung etc. Die Stadt liegt in einem Land, in dem gerade mal 6% der Bevölkerung glauben, die nächste Generation werde es schlechter haben - im Vergleich zu 73% in Deutschland und 40% in Brasilien (Global Attitudes Project 2007). Obwohl wir die gleichen Faktoren finden, UNESCO Heritage, Tourismus (in dem Fall amerikanisch-asiatischer), Einbindung in wirtschaftliche Netzwerke sind kollektive Sinnhorizonte nicht an Ethnizität und auch nicht an gebaute Tradition geknüpft. Hitze entsteht in Seoul im Glauben an technische Steuerung, die sich in den Stadtraum wie in die Kindererziehung einschreibt. Ein sechs Jahre altes Hochhaus zu besichtigen macht in Seoul schlicht keinen Sinn. Das gilt aber nicht für alle asiatischen Städte.

Welt gewinnt in Städten Bedeutung

Das Provozierende ist die Einsicht, dass die Welt in Städten auf spezifische Weise Bedeutung erlangt. Selbstverständlich leben wir auch in nationalstaatlichen Gefüge und globalen Abhängigkeiten, aber die Welt zeigt sich vor Ort in ihrer Schärfe. Man kann die Logiken des Ortes in der Kunst verwirren, stärken, verschieben. ABER: Was in Städten Bestandteil kollektiver Sinnhorizonte wird, ist nicht unendlich: Die Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Bezüge auf Ethnizität, Klasse, Alter, manchmal auch Geschlecht oder Sexualität (z.B. San Francisco), feldspezifische Logiken wie die Relationierung von Wirtschaft, Kultur und Religion (denken Sie an Jerusalem und Tel Aviv).

In Europa gilt Lagos immer als Beweis dafür, dass Städte zu komplex sind, um sie als integrierte Gefüge zu untersuchen. In der afrikanischen Soziologie scheint vor dem Hintergrund schwacher Staaten kein Weg am Wirkungsgefüge Stadt vorbeizugehen, um Gesellschaft zu verstehen. Versteht man Kultur als die Formen, Deutungsmuster und Sinnhorizonte, die sich zu gemeinsamen Weltsichten verdichten, dann leben wir in verschiedenen kulturellen Geweben gleichzeitig. Die Stadt ist eines davon - ein Bedeutendes. Sie können in Freiburg vieles machen, aber nicht alles macht Sinn. Das gilt auch für das Theater.

 

Martina Löw, Jahrgang 1965, Professorin an der TU Darmstadt für Soziologie des Raumes.

Literatur:
Augel, Johannes (1991), »Historische Stadtentwicklung Salvadors«, in: Johannes Augel (Hg.), Zentrum und Peripherie. Urbane Entwicklung und soziale Probleme der brasilianischen Großstadt, Saarbrücken: Fort Lauderdale, S. 102-125.
Anziferow, Nikolai (2003, orig. 1922) : Die Seele Petersburgs. München/Wien: Hanser.
Bailey, Stanley R. (2008), »Unmixing for Race Making in Brazil«, in: American Journal for Sociology, Jg.  114, H. 3, S. 577-614.
Berking, Helmuth (2008): „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen" - Skizzen zur Erforschung der Stadt und der Städte. In: Berking, Helmuth/ Löw, Martina (Hg.): Eigenlogik der Städte. Frankfurt am Main: Campus, S. 15-31.
Berking, Helmuth/ Schenk, Jochen (erscheint 2011): HafenStädte. Eine komparative Untersuchung zur Eigenlogik von Bremerhaven und Rostock. Abschlussbericht des empirischen Lehrforschungsprojektes „Soziologie des Ortes" unter Leitung von Helmuth Berking und Jochen Schwenk. Darmstadt: TU Darmstadt.
Freyre, Gilberto (1982, orig. 1933), Herrenhaus und Sklavenhütte, Stuttgart: dtv/Klett-Cotta.
Gadamer, Hans-Georg (1977): Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau. Frankfurt am Main: Klostermann.
Löw, Martina/Noller, Peter/Süß, Sabine (Hg.) (2010): Typisch Darmstadt. Eine Stadt beschreibt sich selbst. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag.
Mann, Thomas (1960, orig. 1926): Lübeck als geistige Lebensform. Herausgegeben von Peter Walter, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Mannheim, Karl (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mannheim, Karl (1985, orig. 1929): Ideologie und Utopie. Frankfurt am Main: Klostermann.
Park, Robert/ Burgess, Ernest/ McKenzie, Roderick (1968): The City: Suggestions for the Study of Human Nature in the Urban Environment. Chicago: University of Chicago Press.
Risério, Antonio (1981), Carnaval ljexá. Notas sobre afoxés e blocos do novo carnaval baiano, Salvador: Corrúpio.
Rothfuß, Eberhard (2007a), »Tourismus-Gentrification im Pelourinho - Urbane Deformation des historischen Stadtzentrums von Salvador de Bahia (Brasilien)«, in: Eberhard Rothfuß/Werner Gamerith (Hg.), Stadtwelten in den Amerikas, Passau: Selbstverlag Fach Geographie der Universität, S. 41-56.
Rothfuß, Eberhard (2007b), »Der Risikodiskurs über das historische Zentrum von Salvadro (Brasilien) - Eine diskursanalytische Annäherung an den Prozess der Innenstadtsanierung anhand der Presse zwischen 1967 und 2005«, in: Rainer Wehrhahn (Hg.), Risiko und Vulnerabilität in Lateinamerika, Kiel: Kieler Geographische Schriften, S. 232-255.
Schaeber, Petra (2006), »Von den Flechtfrisuren der Blocos Afros zu Dreadlocks im Hörsall - die Bedeutung kultureller Bewegungen für das moderne Brasilien«, in: Thomas Kühn/Jessé Souza (Hg.), Das moderne Brasilien. Gesellschaft, Politik und Kultur in der Peripherie des Westens, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 320-339.
Scheler, Max (1926): Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig: Der neue Geist-Verlag
Schütz, Alfred (1991, orig. 1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

 

Originalton des Vortrages von Mark Terkessidis auf der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft

Bericht über die Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft von Jürgen Reuß

Das fremde Wir, Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung, 29. Januar 2011

 

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