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Ein König im Kiesbett

von Gerhard Zahner

Konstanz, 20. Mai 2011. Wären wir Menschen geworden, hätte Shakespeare nie  den "Lear" geschrieben. So ist es irgendwie tröstlich, es nicht zu sein. Shakespeare sucht in seinen großen Stücken bekanntlich Sophokles' Nähe. Und so wie Aias, der aus dem Wahnsinn erwacht, muss auch König Lear zuerst aus dem Wahnsinn erwachen, um diese Welt und sich selbst erkennen zu können.

Man stelle sich vor, all die Zeitenkönige in den New Yorker Hotelzimmern, die Despoten an den afrikanischen Küsten oder die Wettervögel mit dem Handylächeln würden aus ihren Vorstellungen von Allmacht erwachen und uns berichten, wie die Welt sich verändert, wenn man erfasst, was man zu Grund gerichtet hat. Was für ein "Lear". Aber der ging an Konstanz vorbei. Es lag zu nah, das Wichtige zu zeigen.

Der Herzschlag des Nichts

Die Spiegelhalle grenzt ans Seeufer und in warmen Sommernächten auch an volle Biergärten; die Fährschiffe ankern am Hafen, in Sichtweite schlendern Touristen mit Markentaschen, die dann die Cafés bevölkern. Damit konkurriert das Theater: mit der schönen Welt der leichten Abende.

Der Boden in der Spiegelhalle ist mit Kies überschüttet, so tief, dass er den Schritten ein Echo gönnt. In der Bühnenmitte, aus hellen Brettern kreisrund, dreht eine Plattform den auf einem dunklen Stuhl sitzenden Lear (Heimo Scheurer), der ins Nichts wartet. Sein Haar langgrau, im Nacken zu einem Zopf mit schwarzem Band geschlossen; Scheurers Gesicht ist weißgepudert, hohlwangig, und ein wenig erinnert er an einen vom Alter überrannten  Popstar, der sein letztes Konzert gegeben hat und stumm vergessen wird. Herzschlagmusik aus dem Off. Lears Töchter mit Frisuren wie die Hüte der schrägsten Gäste bei der Britenhochzeit. Bühne und Kostüme von Josef Halldorsson sind noch das Spannendste im ersten Teil des Abends.

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Es langweilt. Man wünscht sich, etwas von dem Leben da draußen komme herein. Thorleifur Örn Arnarsson will diesen "Lear" in die Leere spielen, aus der die Gewalt hervorbricht und findet weder einen Rhythmus, noch entwickelt seine Regie auch nur einen Charakter zu einer der Vorlage würdigen Gestalt. Übervoll mit gespreizten Bildchen, die wahlweise komisch und dann gesucht tragisch der Handlung nachstellen, sie umkreisen, aber nie zu fassen bekommen, gelingt allenfalls eine Art von Karikatur auf das Stück, keine Zeitendeutung.

Erst rieselt Sand, dann fließt das Bühnenblut

Arnarsson lässt Sanduhren aus schwarzem blickdichtem Glas bauen und glaubt tatsächlich, man sähe darin Lears Zeit zu Grunde rieseln. Das Spiel ist nur ein Schatten von dem, was geheimnisvoll an Shakespeare ist. Die Schauspieler sind mit Glaubhaftmachungen ihrer Rollen beschäftigt – wie aus den Proben nicht befreit, im Leben Shakespeares nicht angekommen. Andreas Haase als Gloster, Otto Edelmann als Kent tragen noch ein wenig Kunst, bevor der Abend fast in belangloser Angestrengtheit dahin sinkt, in ein Kiesbett ohne festen Grund. Ohne Spannung, ohne Narren.  Der zweite Teil des Abends gelingt besser. Haase und Scheurer lassen hier die Spuren sichtbar werden, in den Abgrund der Menschheit.

Aber auch hier bedient sich die Regie nicht neuer Bilder oder einer neuen Sicht. In Frischhaltefolie wieder einmal eingewickelt, mit Blutflaschen eingefärbt, mit der Lust am Gemetzel wie Kinder im Sandkasten, die Menschheit auf der sich drehenden Weltenscheibe. Die Grenze zwischen Tod und Leben wird aufgegeben. Blut fließt, Blut fließt, ja, und Nebel, den Nebel nicht zu vergessen, aus den Nebelmaschinen, er steht für Augenblicke so dicht, dass man nichts sieht. Diese Dunkelheit hätte es nicht gebraucht. Das kann man bei Shakespeare leichter haben. Man muss ihn nur spielen. Arnarsson kann mehr, viel mehr.


König Lear
von William Shakespeare
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne und Kostüme: Josef Halldorsson, Musik: Gabriel Cazes, Dramaturgie: Thomas Spieckermann.
Mit: Heimo Scheurer, Thomas Ecke, Ralf Beckord, Frank Lettenewitsch, Otto Edelmann, Andreas Haase, Alissa Snagowski, Olga Strub, Jana Alexia Rödiger, Kristin Muthwill.

www.theaterkonstanz.de

 

Kritikenrundschau

Die Regie Thorleifur Örn Arnarsson zeichne sich durch "schlichte und dennoch wuchtige Bilder" aus, "die mit wenigen Mitteln die unglaubliche Sprengkraft des 400 Jahre alten Dramas auf die Bühne holen", meint Wolfgang Bager im Südkurier (23.5.2011). Die Konstanzer Regie schürze im "Lear" "den Knoten recht schnell, verschärft und spitzt zu, dünnt das Handlungsgestrüpp etwas aus, und hilft so gut es geht, die nicht leicht zu durchschauenden Konfliktstränge etwas transparenter zu machen." Das Publikum könne "sich dem Thrill, der Spannung und Wirkung dieser Inszenierung nicht entziehen. Die Schauspieler agieren, rasen im Ausnahmezustand und verkörpern beklemmende Bilder von Niedergang und Zerfall." Fazit: "Viel Beifall für großes Theater in kleinem Rahmen."


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