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Die Lust an der Ausgrenzung

von Matthias Schmidt

Dresden, 9. September 2011. Die Dresdener waren hungrig auf Theater. Als seien sie auf Entzug, drängten sie am vergangenen Wochenende in das Große Haus des Staatsschauspiels – in eine eigentlich unspektakuläre Veranstaltung, das Theaterfest zum Saisonstart. Ausverkauft! Selbst die Stehplätze im Rang. Einige mussten draußen bleiben.

Faszinierender Kompromiss

Wir Kritiker sind normalerweise nicht dort, wo es nachmittags Grillwürstchen gibt, während das Ensemble ein Musikprogramm aufführt und die Kinder beim Ausprobieren von Kostümen und Theaterschminke glänzende Augen bekommen. Wo erste Szenen aus den kommenden Premieren gezeigt werden und ein Intendant seine Gäste herzt, indem er für sie mit dem Ensemble Dinge beplaudert, über die wir erhaben sind. Warum beispielsweise in Shakespeares "Kaufmann von Venedig" nur Männer auf der Bühne zu sehen sein werden, und wie es ist, als Mann eine Frau zu spielen.

Eine Charme-Offensive, oh ja: denn Theater ist auch Stimmungssache. Man kann – wie beispielsweise in Dresden –, wenn man nicht um sich selbst kreist, Zuschauer- und Auslastungsrekorde erreichen, mit Freundlichkeit und breitem Repertoire und einem faszinierenden Kompromiss zwischen Abonnentenwerbung und Feuilletonakzeptanz. Das Gegenteil geschieht in Leipzig, wo man das Publikum überhaupt nicht anspricht, geschweige denn ihm irgend etwas erklärt, weder auf der Website noch im Spielzeitheft oder gar persönlich. Dann hat man zwar seine keinesfalls schlechte "Leipziger Handschrift", aber es sind noch nicht mal alle Premieren ausverkauft.

Die Insider scrollen hier schon mal runter ins Forum zum Bashing, und wir gehen in Dresden ins Theater.

Ding Dong Ding

Die Bühne ist ein dunkler, völlig leerer Raum. In dessen Mitte ein Knäuel aus zwölf Männern in Badehosen. Schritt für Schritt kriechen sie hervor, erkunden die Bühne, improvisieren sich in Bühnentexte und -rollen hinein, kleiden sich in vom Himmel fallende Hemden, Hosen, Schuhe – und Kleider. Das Spiel beginnt, und es wird ein grandioses Spiel.

Antonio hebt mit Pathos an, von der Welt als Bühne zu sprechen und gibt fluchend auf – das ist es nicht, was sie wollen. Gratiano gibt albern den Narren: "Das war nicht lustig", blafft Antonio ihn an, "da unten passen 800 Leute rein, und höchstens 20 haben gelacht." Das also auch nicht. Die Männer in den Badehosen suchen weiter und haben sichtlich Freude daran. Sie werden zu Shakespeare-Figuren: Männer, Frauen, Paare.

Rein ins Kleid, und fertig ist die Portia. Eine Portia, die mit kecken Gesten und Worten über ihre Brautbewerber herzieht, vor allem über die Sachsen unter ihnen, die sie mal eben ordentlich durch den Kakao zieht. Man solle, so Portia, einfach Eierschecke auf das falsche Kästchen stellen, und schon wären die sächsischen Bewerber geleimt. Nun lachen mehr als 20 Zuschauer: Wer würde dem großartigen Christian Friedel etwas übel nehmen? Spätestens, wenn er von der "Liebeslust" singt, begleitet von bei Michael Nyman geliehenen Streichern und einem Chor, der "Ding Ding Dong" singt, hätte man ihm ohnehin jede Frechheit verziehen.

Sie spielen auf, spielen an, fallen aus der Rolle, tollen herum, streiten sich und überraschen durch ihre arglose Lust daran. Bassanio knutscht mit Antonio, und man ist sehr gespannt, wie daraus wird, was der "Kaufmann von Venedig" nun einmal ist. Denn das zunächst heitere Volkstheater bereitet nur den Boden für den Ernst und das Unrecht, dass sich die Christen und der Jude Shylock bald antun werden.

Shakespeare auf Lampedusa

Überganglos wird aus dem Spaß bitterböse Ausgrenzung. Der schwule Antonio wird gedisst, und der Jude Shylock verprügelt. Nun geht es auf der Bühne zu wie zwischen den Hooligans von – sagen wir – Dynamo Dresden und Hansa Rostock. Von wegen Venedig! Ebenso selbstverständlich wie die Herren in ein Kleid hinein- und wieder heraussteigen, assoziieren sich heutige Themen in den Diskurs.

Der ebenfalls um Portia werbende Prinz von Marocco und seine Leute wirken wie die afrikanischen Bootsflüchtlinge auf Lampedusa. Die Kleiderberge, die sich auf der Bühne türmen, bedürfen in Zusammenhang mit dem Judenhass der Venezianer keiner Erläuterung. Und als Shylock seine unmenschliche Forderung nach einem Pfund Fleisch Antonios begründet, entlarvt er (fast) nur mit Shakespeare quasi nebenbei den ganzen Wahnsinn aus Terror und Rache und Folter und Rechthaberei, den uns die Nachrichten meist vergeblich zu erklären versuchen.

Kurzum, in dieser Inszenierung findet der Shakespeare-Text ganz ohne Plakatives ins Heute: ein Schnittmuster menschlichen Versagens und zudem voller Andeutungen und kleiner Zitate aus Geschichte und Alltagskultur. Man könnte beispielsweise in Shylocks Diener Lanzelot Gobbo den schizophrenen Hobbit Gollum erkennen, inklusive einer kurzen Hitler-Parodie. So darf man sich den Umgang mit dem Text im elisabethanischen Theater vorstellen, und so funktioniert er heute. Mal zwanglos und unterhaltsam, mal erklärend, mal respektlos und provozierend.

Kein leichter Abend, aber – abgesehen von ein paar Längen in den Nebenhandlungen wie der um Shylocks Tochter Jessica und dem sich irgendwann erschöpfenden Spiel mit der auf der Bühne verteilten Altkleidersammlung – ein äußerst gelungener. Matthias Reichwald ragt als geradliniger, aufrechter und dadurch "sympathischer" Shylock aus einem insgesamt starken Ensemble heraus.

Am Ende steigen sie alle wieder aus den Kostümen, den Hosen, den Kleidern und den Rollen. Als "Leute wie du und ich" stehen die 12 Männer vor 800 begeisterten Zuschauern. Es war nur ein Spiel, aber was für eins!

 

Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare
Deutsch von Elisabeth Plessen
Regie: Tilmann Köhler, Dramaturgie: Julia Weinreich, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Licht: Michael Gööck.
Mit: Albrecht Goette, Christian Erdmann, Christian Clauß, Benjamin Pauquet, Thomas Kitsche, Jonas Friedrich Leonhardi, Matthias Reichwald, André Kaczmarczyk, Holger Hübner, Thomas Braungardt, Christian Friedel, Philipp Lux.
Violine: Florian Mayer. Violoncello: Dietrich Zöllner.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Alles über den Regisseur Tilmann Köhler auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

Präzise zwischen "Komödie und bitterer Tragödie" sei dieser "Kaufmann von Venedig" angelegt, ein "guter Spielzeit-Auftakt, der über den Umgang mit dem Fremden nachdenken will", so urteilt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (12.9.2011). Einen "überragenden Christian Friedel" (als Portia) hat er erlebt und einen Chor, der das Geschehen "kommentierend" begleite: "Das kichert und kitzelt, das schmust und schmatzt, das lechzt und lyncht." Die Gerichtsszene werde zum Höhepunkt: "Sie knistert vor Spannung. Hass und Rache, Kalkül und Kälte schlagen aufeinander." Lob fällt auch auf den mit Matthias Reichwald auffallend jung besetzten Shylock. Reichwald spiele "federnd und dynamisch, gedemütigt und gnadenlos." Einige technische Abzüge werden auch verzeichnet: Das permanente Kleiderwechseln "schafft zunächst Tempo und Spannung, wird dann zur Manier und beginnt zu langweilen", sodass manch ein Zuschauer zur Pause gegangen sei.

"Wo Shakespeares Stück, das ja in erster Linie von der Jagd nach dem Glück (als optimale Verbindung von Liebe und Reichtum) handelt, Wertungen und Weltsichten als gegeben annimmt, spitzt Köhler bedrohlich zu, verweist auf Spuren, die sich fortsetzen über Holocaust und 9/11". So zollt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (12.9.2011) Tilmann Köhlers Inszenierung seine Anerkennung. Grundlage für ihr Gelingen sei der Rückgriff auf die Konvention des elisabethanischen Theaters (das Männerspiel), durch die sich "ganz unverfroren mit einem Zeitgeist umgehen" lasse, "der das sogenannte Normale als das eher Uninteressante sieht." Im Wechselspiel der Rollen könnten die Darsteller ersichtlich bei sich selbst sein und schlicht und einfach fragen (…), was in den Rollen mit ihnen geschieht." Die Art und Weise, wie die Dresdner Darsteller diese Identitäts- und Rollenspiele gestalteten, erfährt vom Kritiker eingehend würdigende Beschreibungen, wobei auch Petzold manche "Länge bis hin zum Showdown vor Gericht" konstatiert.

Shylock im schwulen Paradies? "Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser vielen dramaturgischen Sinnfehler, die durch die völlige Neupolung dieses 'Kaufmanns' entstehen," verdiene sich Köhlers dreistündige Inszenierung ihr Interesse, befindet Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (219.2011). "Denn weit mehr als eine werktreuere Adaption des Stoffes zwingt sie den Zuschauer, die zeitgenössische Dimension dieses Vorurteilsdramas konsequent neu zu hinterfragen." Wer sind Täter und Opfer? Aus diesem "Puzzle kleiner Provokationen und böser Scherze" ergebe sich "das Abbild einer komplexen Diskussion ohne Ergebnis. Mit dem Stethoskop der Satire lauscht Köhler nach dem Rasseln im Luftorgan unseres Gewissens. Hört man da vielleicht doch noch etwas Ekel, wenn Männer Zungenkuss machen? Keimt da ein klein wenig Antisemitismus auf, wenn der Jude so halsstarrig ist wie dieser Shylock? Und wie lustig ist das tatsächlich, wenn schwarze Menschen wie blödes Vieh dargestellt werden? Moralische Antworten gibt es auf diese Geräusche freundlicherweise keine."

Kommentare  
Kaufmann von Venedig, Dresden: Recht hat er
Recht hat er mit der Aussage, dass das Theater sinngemäß etwas sein "normales" leipziger Publikum ausschließt: auf der Homepage (die ganze Sommerpause so gut wie offline!), im Theater mit kaum verständlichen Dramaturgietexten im Programmheft allein gelassen, Regiehandschriften, die alt eingessenes Stammpublikum von früher nicht mehr auf dem Schirm hat.
Kaufmann von Venedig, Dresden: jung und heterogen in Leipzig
ole, das leipzig-bashing geht munter weiter und ich freu mich schon auf die erste premiere von sebastian hartmann - fanny& alexander am 22.9.!
genauso freue ich mich aufs publikum - vielleicht das jüngste und gleichzeitig heterogenste im lande?? - und darauf dass das "alt eingesessene" publikum weiterhin zu hause bleibt und den alten SED-muff aufträgt und in erinnerungen schwelgt.
Kaufmann von Venedig, Dresden: unfreiwillig komisch
Grundsätzlich fand ich die Inszenierung sehr gelungen, den Kaufmann von Venedig ins Hier und Jetzt zu transponieren, gleichzeitig jedoch wie zu Shakespears Zeiten alle Rollen ausschließlich von Männern spielen zu lassen. Zu Beginn stehen daher die mehr oder weniger stark behaarten Jungs erst einmal in der Badehose auf der Bühne. Leider glitt das Ganze manchmal etwas in Richtung unfreiwilliger Komik oder Travestie ab, insbesondere, wenn ein etwas haarigerer Vertreter des männlichen Geschlechts in Frauenkleidern auftrat. Dieser Effekt hat mich etwas gestört und schwächt meinen ansonsten sehr guten Gesamteindruck leider etwas ab.
Kaufmann von Venedig, Dresden: die Welt eine Bühne, wo jeder eine Rolle spielt
Ein wahnsinnig geglückter Abend!
Natürlich ist es sicherlich nicht einfach für uns Zuschauer im Jahr 2011 sich voll und ganz darauf einzulassen, dass auch die weiblichen Charaktere von Männern gespielt werden. Aber die Art und Weise der Umsetzung ist meiner Meinung nach äußerst gelungen. Man hat die Chance zusammen mit den Schauspielern sich auf die Rollen einzulassen, was nicht zuletzt an der nachvollziehbaren und logischen Eröffnung des Stücks liegt.
Es wäre doch viel verstörender, wenn die drei Männer in den Rollen der Portia, Nerissa und Jessica komplett zu Frauen gemacht worden wären (Perücken, Masken, etc.). Das wäre dann tatsächlich Travestie gewesen.
So aber bleibt eine tolle Transparenz dem Stück erhalten und eine der Kernaussagen ("Die Welt ist eine Bühne, wo JEDER eine Rolle spielen muss.") bleibt nachvollziehbar.
Insgesamt ist diese Inszenierung sehr gut durchdacht und umgesetzt worden. Shakespeares kraftvolle Sprache bleibt erhalten, verliert in keiner Minute ihre Präsenz und wird nur an manchen Stellen durch einen modernen Sprachgebrauch unterfüttert.
Außerdem erlebt man ein grandioses Ensemble, welches bis an die Schmerzgrenzen geht.
Ich kann diesen "Kaufmann von Venedig" nur dringend weiterempfehlen!
Kaufmann von Venedig, Dresden: trage keinen SED-Muff auf
bin weder "alt eingesessen", schließe auftragen von "sed-muff" ziemlich sicher aus und schwelge schon überhaupt nicht in erinnerungen. also bleibe ich nicht zu hause - sondern fahre rum. mal probieren!!!!
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: dünne Haut
@Leipzig-Fan: Hui, mein Herr, dünn muss die Haut sein, sehr dünn, wenn du angesichts der kleinen Anmerkung gleich die SED-Keule gegen alle Leipziger, die nicht mehr ins Theater gehen, rausholst. Und, quasi über Bande, gegen die Dresdner, die in ihr Haus gehen. Freundlicher Grüß ins Heterogene!
Kaufmann von Venedig, Leipzig: zwei Modelle
man kann natürlich trefflich drüber streiten, welches modell "besser" ist - das dresdener oder das leipziger.
in dresden (und auch sonst in vielen städten) wird "rücksicht" auf das publikum genommen, in leipzig eher nicht.
in dresden werden künstlerische kompromisse gemacht, in leipzig eher nicht.
in leipzig wird man so oft überrascht und gefordert, in vielen anderen stadttheatern eher nicht.
fazit: jedem das seine
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: Grillwurst
wenigstens weiß man jetzt doch, was der kritiker unter tollem theater versteht: grillwurst, der obligatorische schminktisch fürs kind (das zieht immer, auch beim sommerfest der stadtsparkasse) und vom intendanten geherzt werden - da findet man die anschließende inszenierung natürlich auch ganz toll, weil sie einfach toll sein muß. herrn schmidt sei seine kindliche liebe zum puderzuckertheater, daß sein publikum erstmal mit jahrmarkt und "wir lieben doch alle" einwickeln muß, von herzen gegönnt. ich gehe trotzdem lieber nach leipzig ins theater, eben weils da um theater geht und nicht um rattenfängerei. herrn schmidt weiter: guten appetit!
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: verödete Synapsen
Yeah, genau, Leipzig, Alter! Das vielleicht härteste Theater der Welt; da geht es noch um was! Puderzucker Fehlanzeige! In Leipzig fuckt Heike Makatsch knallhart Eure verödeten Synapsen; fegt Sebastian Hart(sic!)Mann(sic!) mit eiskaltem Denkmuskel überkommene Vorstellungen hinweg und hält der Gesellschaft erbarmungslos den Spiegel vor. Charles Bronson und Thalia zeugten einen Sohn und nannten ihn Centraltheater! Shine on, you crazy diamond!
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: Inhalt!
INHALT, LEUTE, INHALT!
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: Längen
Ein paar Längen? wie charmant
Kaufmann von Venedig, Dresden: Farbigkeit und Schatten
das stück des kaufmannes wirft harte fragen auf: ist die liebe letztlich nicht immer ein verlustgeschäft, die schiffe, reich ausgestattet mit gaben, begehren und projektion in die fernen, letzlich nicht lesbaren arme des anderen schickt; kentern sie schon auf der hinfahrt, welche transformation erfährt ihre beladung und wie weit trägt ihr lohn, falls sie erfolgreich gelandet sind? der hass dagegen scheint eine beständigerer ducate zu sein, er braucht die gegenadresse letztlich nicht mehr , er kann sich nähren ohne antwort, händel usw.. er lebt von selbstgerechtigkeit und ist damit ein sich selbstbegattendes system. in die warenwelt gesetzt ist er also die verläßlichere währung. so nimmt die kaufmannswelt venedigs dem shylock zwar sein geld, seine möglichkeit zur berufsausübung, schändet seine tochter, zwingt ihn aus einem religiösen system ins nächste, beraubt ihn also aller schmiermittel um im sozialen allerlei eine figur abzugeben aber sie stattet ihn mit - und das ist durchaus ungewollter hohn - der harten währung des hasses aus und schafft sich damit ein gegenüber, das am ende des tages auch sie selbst vernichten kann. was gewinnt der kaufmann, er hat mehr geld, er kauft seinem geliebten eine frau und verliert ihn dadurch? er wird, welch ein hohn, von dieser gekauften frau gerettet aber wohin führt ihn die rettung? tiefer in eine venezianische gesellschaft hinein, die ihn entfremdet von seinem 'feind' dem juden, der ihm aber in der existentiellen geschlagenheit ähnelt, hin zu den tändeleien des schnellen geldes, der konformität, den vielen brücken, die die vergnüglichkeiten über die traurigkeit des einzelnen schlägt? und das ist vielleicht das schönste bild der inszenierung, der leerer blaue raum - ein kellergeschoss wie die beiden fußabdruecke des worldtrade (sic) centers in NY, umfaßt mit gummimatten, ein käfig der die energiewellen der in ihr tobenden jungenhorde aufnimmt aber nicht nach außen weitergibt. das endbild des ersten aktes zeigt die dunkelheit dieses ortes im exzess und die gewaltigkeit dieses ersten schlussbildes entschädigt ein wenig für die überfarbigkeit der kostüme, dem auserzählen jeder untergeschichte. die chancen, die in der jungenhorde liegen (gewalt entsteht aus der jagenden horde nicht nur nach aussen sondern auch nach innen, die nicht nur die nahrung zu beschaffen ermöglicht sondern scheinbar nur in abgrenzung bestehen kann) nimmt die inszenierung leider nicht wirklich auf, trotz des verheißungsvollen beginnes, wie durch zufall der kaufmann mit attributen (kleidungsfetzen in rot - vor der blauen ihn umgebenene hölle des gesellschaftlichen raumes) ausgestattet, gesetzt wird, wie das was ihn schmücken soll schon wie nach verlorener schlacht in fetzen an ihm hängt. auch ist die setzung alle figuren von männern spielen zu lassen eine gefährliche, es müßte bis in die nebenrollen starke ausformulierungen von menschentypen geben, die das ensemble letztlich nicht liefert. das, was männer und frauen auf der bühne durch sich selber sind ist ja schon die welt. wenn die fehlende körperliche materalität der frau ersetzt werden soll braucht es eine starke alternative, die die jungenhorde nicht immer erfüllt. die beiden älteren schauspieler huebner und goette sind zum glück ein welthaltiger anker in dieser ausmalung. schön wie die einzelnen schauspielszenen durch ihre genauigkeit beglücken, perlen gleich, aber der abend fügt sich letztlich nicht zu einer perlenkette. der grossen erzählung der liebe von portia und bassanio hätte man sich ein gegenstück in der erzählung der männerliebe des kaufmannes gewünscht. das pubertäre aufmerken des publikums, wenn sich zwei männer auf der bühne küssen führt nicht darüber hinaus. und im vierten akt, der so sicher in seiner wirkung durch seinen starken plott ist, vertraut die inszenierung diesem zu sehr, ein bißchen mehr selbstgefährdung hätte dem abend gut getan. dank für den heinetext im programmheft an die dramaturgin weinreich.
Kaufmann v. Venedig, DD: Spieldauer?
kann jemand sagen, wie lang der abend dauert?

3:10 Stunden.
die redaktion
Kaufmann von Venedig, Dresden: mutige wie stimmige Männertruppe
Mutig und im Geiste Shakespeares erzählt. Tilmann Köhler leistet es sich auch gewisse "Einbrüche" zuzulassen und geht mit Anspruch und Volkstheater gleich wichtig um. Das fand ich besonders herausragend. Und natürlich ist das eine ebenso mutige wie schauspielerisch stimmige Männertruppe. Und ich glaube, vieles wird wahrscheinlich erst beim zweiten Mal schauen entdeckt werden.
Der Kaufmann von Venedig, Dresden: heute ist das Christliche das Exotische
Wie steht unsere Kultur in Dresden dem „Fremden“ gegenüber? Das sollte die Frage sein im Theater. Wir erinnern uns, der „Kaufmann“ wurde missbraucht von den Nationalsozialisten. Sie machten ein antisemitisches Propagandastück daraus. Von einer konkreten antijüdischen Einstellung bei Shakespeare kann man aber nicht sprechen. Es gab in der Elisabethanischen Zeit und unter den ersten Stuarts keine Glaubensjuden in England, denn die wurden längst vertrieben. Erst ab 1650 durften sich wieder jüdische Gemeinden gründen. Für die Mehrheit der Menschen waren Jude exotische Wesen aus den oft blutrünstigen mittelalterlichen Mysterienspielen. Es waren die Fremden und das Fremdartige. Da schwangen auch viele Ängste mit. Doch heute treffen in Dresden nicht jüdische und christliche Werte aufeinander. Nein, das Christliche ist zum Exotischen geworden. Mir ist es als Kirchentagsbesucher mit dem im Stück zitierten grünen Schal in Dresden passiert, dass Jugendliche verschämt kicherten oder laut riefen. Ach, schon wieder alles voll mit den Christen. Andere berichteten auch von solchen Begegnungen, die aber immer recht freundlich waren, so wie die ganze Stadt es war. Das soll hier nur ein Hinweis sein auf die Tatsache, dass die Mehrheitsgesellschaft in Dresden eben nicht mehr christlich wie zu Zeiten Shakespeares. Die christliche Kultur ist selbst zu einer fremden Kultur geworden. Über Ursachen ist hier nicht zu sprechen. Etwas spitz formuliert hat man also in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Kaufmann als ein antisemitisches Stück inszeniert, so wurde jetzt ein antichristliches Stück, mithin ein antireligiöses Stück inszeniert. Das mehrheitlich nicht religiös gebundene Theaterpublikum muss sich mit eigenen Vorurteilen gar nicht befassen, denn es ist ja hier nicht wirklich gemeint, denn es hat ja wohlmöglich noch eine sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung. Als Fazit bleibt eine schauspielerisch brillante Aufführung, aber sie hat leider das Thema verfehlt.
Kaufmann von Venedig, Dresden: Umgang mit dem Fremden
Warum antichristlich? Oder antireligiös? Weil bei Shakespeare der Jude zur Taufe gezwungen wird?
Dresden wird seit der Wende von einer Partei regiert, die das "C" in ihrem Namen trägt. Also sehr exotisch kommt mir das nicht vor. Nebenbei arbeitet die CDU dort gerade sehr eng mit der NPD im Landtag zusammen, um unliebsame Protestierer aus der Stadt fernzuhalten. Nazis sind offenbar willkommen und Linke werden strafrechtlich verfolgt. Soviel zum Umgang mit dem Fremden.
Kaufmann von Venedig, Dresden: Verfehlungen der Vergangenheit
So wie die Linken nicht ständig mit den SED-Kadern in Verbindung gebracht werden wollen, genauso können Christen erwarten, dass sie als Kirchentagsbesucher nicht ständig mit den Christen und deren Verfehlungen zur Zeit Shakespeares in Verbindung gebracht werden. Die Betonung liegt auf "ständig". Linkssein ist heute etwas anderes als Sympathie für DDR und SED. Christsein beinhaltet heute auch nicht die Sympathie für Papst und Kirche vor 500 Jahren.
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