Sebastian Hartmann schreibt an Dirk Pilz zum Experimentierstättensterben
Heiße Luft?
20. Dezember 2011. Die Berliner Zeitung hatte am 25. November eine Glosse veröffentlicht, in der Dirk Pilz die drohende Schließung von drei "Stadttheaternebenspielstätten" in Berlin, Weimar und Leipzig kommentierte (die Hintergründe legte der nachtkritik-Krisometer dar). Unter der Überschrift "Schluss mit den Experimenten!" stellte Pilz die ketzerische Frage, ob dieses "Experimentierstättensterben nicht auch ein ganz klein wenig sein Gutes" habe. Ob nicht "gerade auf den Nebenbühnen viel heiße Luft produziert" worden sei, viel "hektisch hingewurschteltes Halbfertigtheater". Und ob es nicht besser sei, auf "zwei, drei öffentliche Experimente zu verzichten" und dafür eine Inszenierung im Großen Haus "geduldiger, genauer zu proben?"
Auf Dirk Pilz' Artikel hat jetzt Sebastian Hartmann, Intendant des Centraltheaters Leipzig, eine Erwiderung geschrieben. Wir veröffentlichen den Brief hier im Wortlaut:
"Lieber Dirk Pilz,
in Ihrem Kommentar 'Schluss mit den Experimenten' vom 25.11. in der Berliner Zeitung stellen Sie die Frage, ob 'das Experimentierstättensterben' in Weimar, Berlin und Leipzig 'nicht auch ein ganz klein wenig sein Gutes hat'. Erlauben Sie mir, Ihnen in der dafür notwendigen Knappheit zu entgegnen: Nein, hat es nicht! Und ich antworte Ihnen nicht primär als der Intendant, der unmittelbar betroffen ist, sondern vor allem als der Künstler Sebastian Hartmann.
Auch will ich an dieser Stelle nicht über mögliche Auswirkungen Ihres Vorschlags bei den politischen Entscheidungsträgern spekulieren. Sie selbst haben ja bereits Argwohn gegenüber Ihren eigenen Überlegungen formuliert, da diese in die Karten von Kulturpolitikern spielen und sie 'als Rechtfertigung für Sparmaßnahmen nehmen könnten'. Es wird Sie aber beruhigen, dass die sogenannte Kulturpolitik in unserem Lande schon lange keine Argumente mehr braucht, um Gelder im Kulturbereich zu kürzen. Was die 'Rechtfertigung' von Einsparungen betrifft, ist die Kreativität auf Seiten der politisch Verantwortlichen mittlerweile grenzenlos, um Begründungen für die vermeintlichen 'Sachzwänge' zu (er-)finden.
Ich will Sie auch nicht als 'böser Theatertodbeförderer' beschimpfen, wie Sie es im Vorgriff auf mögliche Reaktionen zu Ihrem Artikel selbst tun. Denn Ihnen ist natürlich bewusst, dass Sie als Theaterrezipient und -rezensent mit Ihren Forderungen letztlich an dem Ast sägen, auf dem Sie und wir gemeinsam sitzen. Aber vielleicht fallen Sie ja am Ende weich. Nur wenn der Ast ab ist und die Spielstätten einmal geschlossen sind, dann bleiben sie es. Dauerhaft. Das ist kein Besitzstandsdenken des subventionierten Kulturbetriebs, sondern die Erfahrung aus der Vergangenheit.
Nein, Herr Pilz, mir geht es um etwas anderes, mir geht es um das Missverständnis, wie Ihrer Meinung nach offensichtlich Kunst am Theater entsteht. Ich will gar nicht bestreiten, dass auf den Bühnen der Nebenspielstätten mitunter auch 'hektisch hingewurschteltes Halbfertigtheater' produziert wird, wie Sie beklagen. Aber ersparen Sie mir andererseits die Künstler aufzuführen, deren Karrieren auf den 'großen' Bühne gerade in diesen 'Experimentierstätten' ihren Anfang nahmen. Was mich an Ihrem Kommentar wirklich verwundert, ist Ihr Gegenvorschlag zu diesem 'Halbfertigtheater'. Es sollte demnach lieber weniger, dafür 'geduldiger, genauer' geprobt werden, oder mit anderen Worten: mehr Qualität statt Quantität.
Stellt sich mir als erstes die Frage, wie und woran Sie die Qualität genauer festmachen wollen. An mehr Probenzeit? Ich glaube kaum, dass jede Inszenierung, die ein Minimum von acht oder zehn Wochen Probenzeit per se Ihren oder den Qualitätsansprüchen Ihrer Kritikerkollegen genügen wird. Ein Mehr an Quantität ist nicht gleichbedeutend mit einem Mehr an Qualität - dafür auch gerne drei Euro ins Phrasenschwein. Wenn Sie aber mit Ihrem Vorschlag tatsächlich Recht behielten, dann hätten wir den Stein der Weisen gefunden! Dann nämlich wäre Kunst und vor allem qualitativ hochwertige Kunst und damit vielleicht sogar Erfolg - dass Qualität kein Synonym für Erfolg ist, muss ich Ihnen mit Sicherheit nicht erklären - tatsächlich im Voraus planbar! Scheitern gehört aber genauso zu unserer und zur Profession eines jeden Künstlers wie der Erfolg. Das betrifft den Jungregisseur genauso wie den 'alten Hasen'. Zu glauben, dass das Scheitern in der Kunst zu eliminieren, mindestens aber zu minimieren sei, heißt für mich, die Kunst als solche in Frage zu stellen. Vielleicht muss ein junger Künstler erst mehrmals scheitern, bis er seinen Weg findet. Auch das gehört - zumindest für mein Verständnis - zum Verantwortungsbereich eines Theaters, junge Talente zu pflegen und nicht beim ersten Fehlschlag sofort fallen zu lassen. Genau das aber ist ohne diese 'Experimentierbühnen' für die einzelnen Theater nicht mehr leistbar. Und genau deshalb darf nicht Schluss sein mit den Experimenten, sie müssen vielmehr alle weiter 'vors Publikum'.
Ihr
Sebastian Hartmann"
(Die Hervorhebungen stammen von der Redaktion).
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http://blog.theater-nachtgedanken.de/2011/12/19/was-wird-hier-eigentlich-gespielt-„nackter-wahnsinn-was-ihr-wollt“-und-„fanny-und-alexander“-in-der-regie-von-sebastian-hartmann-am-leipziger-centraltheater/
was sind dann die "kleinen wirklichen Experimente" ?.......hoppel, hoppel........
Dieser Beitrag kann nur als genervte Provokation eines ansonsten vernünftigen und versierten Kritikers verstanden werden. Andernfalls müsste man den Glauben an den gesunden Menschenverstand verlieren.
Aber klar, Experiment wird viel zu oft mit hingeschludertem Rumprobieren verwechselt. Wenn es nur noch darum geht, auszuprobieren, dann ist das ebenso der Tod der Kunst wie wenn man fordert, das Experimentieren ganz sein zu lassen.
Wenn ich mir etwa das (...) Gorki angucke, kann ich da nirgendwo etwas von Experiment erkennen. Auch im Gorki Studio nicht. Dort inszenieren seit etwa zwei Jahren doch auch nur die üblichen Verdächtigen die üblich verdächtigen Stücke.
(Lieber Gegenwartsfreund, wenn es Ihnen gelingt, Ihre Kritik statt mit Unterstellungen mit Argumenten vorzubringen, wird Sie auch veröffentlicht. Freundliche Grüße aus der Zukunft, wo auch Ihre Kommentare hoffentlich den Spielregeln entsprechen, Esther Slevogt)
(Liebe Olympe, tut mir leid, ich konnte Ihren Kommentar nicht finden. Posten Sie am besten noch mal. Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
(Sehr geehrter User, Ihr Kommentar aus dem Dezember stellt durchaus einen Grenzfall dar. Wir haben uns nach langen Diskussionen für die Nichtveröffentlichung entschieden aus folgenden Gründen: Dirk Pilz' als Glosse angelegter Beitrag in der Berliner Zeitung reduziert sich nicht auf den Satz, in Experimentierstätten finde ausschließlich "Halbfertigtheater" statt. Er befragt – wenn ich ihn richtig lese – das Quantum an "Halbfertigtheater", das Nebenbühnen hervorbringen. Pilz' Beitrag ist keine Polemik. Deshalb geht ein betroffener Künstler wie Sebastian Hartmann ja auch argumentativ und sachlich darauf ein.
Ein Kommentar, der sich demgegenüber in der Aussage "Nachtkritik ist Halbfertigkritik" erschöpft, operiert in nurmehr polemischer Absicht mit einer ungedeckten und im Übrigen unrichtigen Behauptung. Solche Kommentare vergiften das Diskussionsklima in einem Forum, das sich mit den Aufgaben und Möglichkeiten von Experimentierstätten beschäftigt. Im Dienste der Sachdiskussion blieb Ihr Einwurf also unveröffentlicht.
Auch sollte ein anonymer Kommentator eine gewisse Strenge mit sich selbst pflegen, denn er steht hier nicht wie Pilz oder Hartmann für seine Aussagen öffentlich gerade. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)