Das Fest - Das gekündigte Ensemble des Theaters Vorpommern spielt seine Henkerspremiere unter der Regie von Uta Koschel
Beim letzten Abendmahl
von Juliane Voigt
Greifswald, 3. März 2012. Ja, das war ein Fest! Eine Party bis zum Morgengrauen! Das gesamte gekündigte und nicht gekündigte Ensemble des Theaters Vorpommern war geladen. Noch ein letztes Mal zusammen auf der Bühne, spielten sie wie um ihr Leben, küssten und schlugen sich, bis im Ballsaal das Licht ausging, als gäbe es kein Morgen. Stets findet, so sagte es Wilhelm Busch, Überraschung statt, wo mans nicht erwartet hat. "Das Fest", inszeniert von Uta Koschel, ist ein finaler Gipfelsturm des durch den designierten Intendanten gekündigten Personals an diesem Haus.
Medusenhafte Verschlingungen
Überraschend ist "Das Fest" eigentlich ja nicht. Der Dogma-Film von Thomas Vinterberg und Morgens Rukov hat seinerzeit für Aufsehen gesorgt. Der 60. Geburtstag des Familienoberhauptes Helge und die Feier, zu der die Familie zusammenkommt, ist der Anlass für die Offenbarung des sexuellen Missbrauchs durch den Vater. Das weiß man ja, aber es gelingt trotzdem so was wie eine totale Zuschauertrance. Man sieht im Publikum Hände vor aufgerissenen Mündern, starre Blicke auf das Unerhörte dort vorne, vollkommenes Einsaugen der Aufmerksamkeit. So wehtun kann Theater.
"Das Fest" ist eine der großartigsten Arbeiten der letzten Jahre am Theater Vorpommern. Eine sagenhafte Ensembleleistung. Man sieht eine Familie mit unsichtbaren medusenhaften Verschlingungen aneinander gefesselt. Deren schicksalhafter Determinismus sich durch das Lüften eines unerhörten Geheimnisses ganz langsam auflöst. Man nimmt den Abend jedem einzelnen Schauspieler bis ins Detail ab.
Panische Angst
Und der fängt ganz einfach an. Mit dem zaghaften Klimpern einer Sonatine am Klavier. Ein Mädchen im weißen Kleid, ätherisch gespenstig (Katja Klemt), ein Kristalllüster, Blackbox (Bühne: Tom Musch), die schwarzen Möbel einsaugend. Das Licht im Saal brennt erst einmal. Einzeln reisen die Mitglieder der Großfamilie aus dem Zuschauerraum an, jovial empfangen im Haus der Eltern. Das Familienhotel war ein düsterer, einsamer Ort der Kindheit. Drei Kinder sind es. Ein viertes, Linda, gab es mal, das Mädchen im weißen Kleid. Sie hat sich vor Kurzem umgebracht.
Christian (Hannes Rittig) taucht aus den Reihen der Zuschauer auf als ein abwesend, nervöses Bündel. Ja, man weiß ja, was er vorhat. Wonach riecht es plötzlich? Nach panischer Angst! Michael (Christian Holm) mit Borderlinerzügen, unerträglich wütend und kaputt von der ersten Minute an. An seiner überforderten kleinen Frau Mette (Eva-Maria Blumenthrat) und den beiden Kinder zerrend. Und Helene. Marta Dittrich lacht so laut und grundlos, dass die Fassade erst rieselt, dann bröckelt und dann das wacklige Gerüst ihrer Persönlichkeit offenbart.
Prügel für das missbrauchte Kind
Die Psychopathologie einer Familie manifestiert sich im Umgang mit dem Vater, Lutz Jesse, der an der Geburtstagstafel Platz nimmt wie Jesus beim Abendmahl. Und Mama, Else, gespielt von Gabriele M. Püttner, an Eleganz und Würde nicht zu übertreffen. Ihre glänzende Feiertagsrobe ist eine undurchdringliche Rüstung. Auch sie wird tief fallen.
In den folgenden zwei Stunden gerät die Welt in bewährter Weise aus den Fugen. Das Licht des Erkennens durchdringt nur zögerlich das Dickicht des Familiengeheimnisses. Es flackert kurz, erlischt und flackert wieder auf. Christian offenbart seine Wahrheit so brutal am Familientisch, dass er es ist, der als unsympathisch da steht und immer wieder gehen will und doch bleibt. Er bezieht Prügel und zwar so gewalttätig, dass man eingreifen möchte, Schluss jetzt! rufen.
Tempo, Spannung, Körpereinsatz
Die unbarmherzige Schlägerei der Geschwister spielt sich im Foyer ab und liegt als Video-Projektion auf dem heiligen Abendmahl, das übrigens, um den Naturalismus dieses Theaterabends noch zu potenzieren in mehreren Gängen direkt aus der Küche kommt. Ein herrlicher Schmaus, Alkohol fließt in Strömen. Hier wird gar nichts gespielt. Und des Vaters Thron wackelt noch immer nur zögerlich. Hilfe kommt, welch Aufatmen! vom Personal. Eine wunderschöne, anrührende Szene im fröhlichen Getümmel ist es, als Pia (Maria Schubert) dem mutlosen Christian an den eingesunkenen Schultern fasst und beschwört: Wir sind noch da! Bevor er sich ein weiteres Mal aufbäumt.
Die Inszenierung ist sehr vielschichtig. Mehrere Szenen spielen sich in mörderischem Tempo neben- oder hintereinander ab und lassen die Spannung in der Luft stehen. Immer wieder Körpereinsatz und wütende Kraft, hingefetzte Dialoge, wie ausgebrochen. Der Geschwisterkuss zum Abschied zu PJ Harveys "Dear Darkness" ist so präzise gelandet, dass sich in der Sekunde die Welt anders herum zu drehen scheint. Helge geht am Ende quer über die Bühne ab. So sieht der Tod eines Diktators aus. Bravo!
Das Fest
nach dem gleichnamigen Dogma-Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov
Regie: Uta Koschel, Bühne und Kostüme: Tom Musch, Musikalische Leitung: Andreas Kohl, Dramaturgie: Catrin Darr.
Mit: Lutz Jesse, Gabriele M. Püttner, Hannes Rittig, Christian Holm, Marta Dittrich. Katja Klemt, Eva-Maria Blumentrath, Torben Lischeswsky / Jannis Weu, Cecilia Hesse / Livia Schulte, Jörg F. Krüger, Grian Duesberg, Maria Schubert, Anke Neubauer, Felix Meusel, Markus Voigt, Jan Bernhardt, Marco Bahr, Jan Holten, Andreas Kohl, Festchor: Maria Beier, Maryna Brueva, Julia Viselle Dahms, Catrin Darr, Barbara Landesberger, Sabine Lepadatu, Jana Nedorost, Jens Krafczyk, Georg Praschma.
www.theater-vorpommern.de
Der Nord-Schwerpunkt auf nachtkritik.de berichtet in dieser Spielzeit in loser Reihenfolge über die Theater in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, zwei Regionen, in denen sich die Kunst, so sie nicht unmittelbar ökonomischen Interessen zugute kommt, nur schwer gegen die Zwänge der Haushaltskrisen behaupten kann.
In der Jungen Welt (5.3.2012) trauert Anja Röhl um das Ensemble, das nun vor seiner Entlassung steht: "Büchner, Bernhard, Schiller, Dürrenmatt, Brecht – das Ensemble spielte nicht nur, was man ihnen aufgetragen hatte, sondern so, als hätten sie Eigenes zu sagen." Nun stünden "sie ein letztes Mal alle zusammen auf der Bühne (...). Für die Wahrheit, gegen alle Widerstände." "Das Fest" werde "mit Nuancen in Mienenspiel, Gestik und Tonfall" gegeben, "eine künstlerische Glanzleistung von einem zusammengewachsenen Team, das nun auseinandergerissen wird. In der Provinz haben sie jedenfalls kein Provinztheater gemacht. Aber wer fragt danach? Entlassen, gekürzt, kaputt gespart, Theater soll unterhalten, wer nachdenkt, ist selber schuld."
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„Die Premiere am Samstag im Greifswalder Haus war von Protesten gegen die Entlassung bzw. Nichtverlängerung vieler Mitglieder des gewachsenen Ensembles durch den neuen Intendanten begleitet. Dirk Löschner, der erst im August seine Arbeit beginnen wird, hat mit diesen Maßnahmen schon vor seinem Antritt für anhaltenden Unmut gesorgt. Vor dem Theater verteilten Mitglieder der Protestaktion Handzettel mit dem u.a. offenen Brief. Beim Schlussapplaus wurde ein Transparent mit der Aufschrift: Wir wollen, dass Ihr bleibt! hoch gehalten. Das Publikum bekundete Sympathien und Solidarität mit lauten Rufen, anhaltendem Applaus und stehenden Ovationen.“ (OZ vom 04.03.2012) Regisseurin Uta Koschel zeigte sich zum Beginn der Premierenfeier tief beeindruckt von der starken Verbundenheit des Greifswalder Publikums mit seinem Schauspielensemble.
Auch ihre derzeitige Ausstellung „Das Fest“ zum Thema Macht und Machtmissbrauch in der Foyergalerie widmeten Greifswalder Kunststudenten den nichtverlängerten Mitgliedern des Schauspielensembles und der Dramaturgie.
„Offener Brief an den Intendanten Dirk Löschner:
Sehr geehrter Herr Löschner,
Lassen Sie sich die Verkaufszahlen von Maria Stuart, Frau Müller muss weg, Das Fest geben und überdenken Sie Ihre Entscheidungen in der Schauspielsparte. Es sind genau diese Menschen, die Ihr zukünftiges Theater tragen. Herr Löschner, seien auch Sie flexibel und wagen Sie Ihren Neuanfang in Greifswald mit unseren Schauspielern. Sei werden sehen, das wird gut, und uns allen – auch Ihnen – wird es besser gehen. Ihr bislang leider nicht von Ihnen gehörtes Publikum“ (OZ)
ich meine frische Luft...um endlich mal durchatmen zu können
nach all dem Murks.
Ich glaube nicht, daß die gekündigten Kollegen so polemisch formulierte "Tipps" wie unter 2. nötig haben oder gar brauchen können.
Und ob nun halb toll oder viertel toll: Dieser Abend war vor allem ein Fest dessen, was Stadttheater - nimmt man den Begriff mal ernst - in seinen besten Momenten sein kann. Im Zusammenkommen von Stück, Inszenierung, Schauspielern, Team, dem richtigen Moment und (ja!) dem Publikum. Und das können alle Beteiligten als einen besonderen Moment mitnehmen in die Zukunft. Und das ist schon TOLL.