"So klingen Fundamentalisten"

Berlin, 7. März 2012.Am Montag und Dienstag gastierte Romeo Castelluccis Inszenierung "Sul Concetto di Volto nel Figlio di Dio / Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn" seiner Societas Raffaelo Sanzio im Hebbel am Ufer. Schon in Mailand und Paris gab es Proteste erzkonservativer katholischer Gruppen. In Berlin legte Kardinal Rainer Maria Woelki nach: "Ich verurteile es, dass das, was Menschen aus ihrem Glauben heraus wichtig und heilig ist, in dieser Weise durch den Dreck gezogen wird", sagte er in der "Bild"-Zeitung: "Das ist unanständig. Es gibt keinen Grund, sich etwas anzusehen, was nur der Provokation dient." Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz forderte eine "größere Sensibilität im Umgang mit religiösen Überzeugungen bei allem Respekt vor der freien Meinungsäußerung".

"Im Grunde wäre es erste Pflicht der katholischen Würdenträger dieser Stadt, diese im tiefsten Sinne christliche Performance zu besuchen", schreibt Doris Meyerhenrich in der Berliner Zeitung (7.3.2012). Über die Bühne blicke ein "großes, sanftes, ebenmäßiges Männergesicht", das – außer dem Bart, der Ruhe und eben diesen Augen – nichts als Sohn Gottes ausweist. "Substanzlos" sei die Vorverurteilung Woelkis. "Dabei stammt die hochinteressante Inversion des Blicks, die Castellucci vorführt, von einem der wichtigsten Kirchenväter selbst. Nikolaus von Kues, hat sie vor mehr als 550 Jahren wunderbar ausgeführt: Nicht Christus sehe man an, wenn man ein Bild von ihm betrachte, sondern sich selbst und seine Vorstellungen." Castellucci bringe zwei von ihnen auf den Punkt: "die eines Sohnes, der hingebungsvoll seinen kranken Vater pflegt, wovon ihn auch dessen nicht enden wollende Durchfallattacken nicht abbringen − bald schwimmt die Bühne in Kot. Verzweifelt schmiegt er sich an das Bild hinter sich, das für ihn nur der 'Erlöser' sein kann. Die andere ist die sorglos einschlendernder Kinder. Als sie den großen, fremden Kopf bemerken, der plötzlich tatsächlich nur noch wie eine Maske erscheint, bewerfen sie ihn mit kleinen Handgranaten."

"Die Kunst ist näher bei den Menschen", folgert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (7.3.2012), Woelkis Einlassung sei hingegen "unsensibel und wenig intelligent. So klingen Fundamentalisten." Die Realität in Berlin sieht so aus: "Vierhundert Menschen, junge wie alte, verfolgten die Premiere im HAU mit großer Anteilnahme. Man war aufgewühlt, berührt. Das zeigte auch nachher das Gespräch mit dem Regisseur Castellucci. Früher brauchte das Theater den Skandal. Hier wollen Kirchenleute ihn herbeireden. Um etwas zu schützen, das ihnen entglitten ist – die Seele und das Gefühl der Zeitgenossen."

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