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Ideologisch suspekt

5. April 2012. Anlässlich des eben zuende gegangenen Pariser Theaterfestivals "Paris-Berlin", mit dem sich Théâtre de l'Odéon-Intendant Olivier Py in Richtung Avignon verabschiedet hat, schreibt Johannes Wetzel in der Welt über die deutsch-französischen Theater-Beziehungen.

"Die Theaterliebe zwischen Paris und Berlin ist ziemlich einseitig und wird in Deutschland nur manchmal erwidert", stellt Wetzel fest. Dabei sei die Leidenschaft in Frankreich durchaus emphatisch.

Junge deutschsprachige Autoren wie Lukas Bärfuss oder Ewald Palmetshofer würden in Frankreich an großen Häusern gespielt. Laurent Muhleisen, Berater der Comédie-Française und Übersetzer von Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig oder Rainald Goetz, erkläre den Erfolg des Made in Germany mit Dramatikerschreibkursen, effizienter Verbreitung durch Stückemärkte und sozialem und politischem Anspruch der Texte.

"Das professionelle Zusammenspiel zwischen Autoren, Regisseuren und Theaterdirektoren, zwischen einer festen Truppe und einem treuen Abonnentenstamm sind ein entscheidender Vorteil des deutschen Theaters, wenn es darum geht, Neues durchzusetzen", schließt Wetzel daraus.

In Frankreich sei das mit dem Durchsetzen des Neuen schon schwieriger. Selbst Olivier Pys Stücke würden dort nirgends nachgespielt. "Aber auch für weniger exzessive, in Frankreich äußerst beliebte Dichter wie Didier-Georges Gabily, Jean-Luc Lagarce oder Valère Novarina interessiert sich in Deutschland niemand." Einem Claus Peymann etwa falle außer Yasmina Reza kein lebender französischer Autor mehr ein.

Olivier Pys jüngstes Stück Die Sonne, das seine Uraufführung an der Berliner Volksbühne unter Regie des Autors erlebte, fiel – diese Beobachtungen bestätigend – bei der deutschen Kritik durch; in Frankreich, so berichtet Johannes Wetzel, war es dagegen "unbestreitbar ein Erfolg." Man müsse sich, um es zu genießen, wie die Schauspieler "auf diesen hohen Ton einlassen. Den inneren Widerstand gegen das Schwärmerische überwinden." Sein Gesang sei "gerade in Deutschland ideologisch suspekt", vermutet Olivier Py, von Wetzel zu den unterschiedlichen Reaktionen befragt.

Außerdem bestünden im Prozess des Theatermachens einfach grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Ländern: Die Erneuerung des Theaters in Frankreich komme nicht von der Inszenierung, sondern vom Text, so Py. Der Respekt vor der Literatur sei ungebrochen: "Französische Schauspieler verbringen die erste Woche lesend bei der Tischprobe. Erst nach 14 Tagen fangen sie an zu spielen. Deutsche Schauspieler setzen gleich den Körper ein. Wenn ein französischer Schauspieler vor einem Schrank steht, hängt er sein Jackett hinein. Ein deutscher Schauspieler stellt sich auf den Schrank. Es gibt eine Tradition der Respektlosigkeit dem Stück gegenüber, die in Frankreich fehlt ..."

(sd)

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