Presseschau vom 22. April 2012 - Christine Wahl überprüft im Tagesspiegel aktuelle Ibsen-Lesarten
Mächtige Ibsen-Welle
Berlin, 22. April 2012. "Ibsen scheint seinen russischen Kollegen Tschechow als Diskurs-Dramatiker der Stunde abzulösen", schreibt Theatertreffen-Jurorin Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (22.4.2012). Zeit also, die neue "mächtige Ibsen-Welle" in einem längeren Essay etwas ausgiebiger in Augenschein zu nehmen.
Wenig kann die Kritikerin gläubigen Lesarten wie etwa David Böschs "Gespenster" in Wien abgewinnen, wo Pastor Manders "nach wie vor die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn er von den Fremdgängen des honorigen Kammerherrn Alving erfährt". Solche Ironiefreiheit in "Zeiten, in denen sogar Frauenzeitschriften ihren Leserinnen Fremdgänge ans Herz legen", habe "Seltenheitswert – zumindest bei Regisseuren diesseits der Fünfzig".
Spannende Aktualisierungen macht Wahl folglich eher "jenseits realistischer Zugriffe" aus, z.B. in Herbert Fritschs Oberhausener Nora (eingeladen zum Theatertreffen 2011): "Was Fritsch da zeigte, war weder frauen- noch männerfreundlich, sondern siedelte weit unterhalb jeden politisch korrekten Bewusstseins – im Albtraumkeller der ungefilterten, spekulativen Begierden."
Generell sei das "Ibsen-Drama als Typenfarce seither auf dem Vormarsch". So etwa bei Wojtek Klemm in Graz, der "Nora" als "sarkastische Lehrfarce über 'die Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen'" eingerichtet habe. Allerdings bekämen die Akteure hier – entpsychologisiert und "auf stereotype Funktionsträger zurechtgestutzt" – zunehmend "Plausibilitätsprobleme".
Interessanter nehme sich Armin Petras' Finanzkrisen-Beitrag "John Gabriel Borkman" an den Münchner Kammerspielen aus. Auch hier steckten die Figuren "in milieuspezifischen Klischees fest". Doch "innerhalb dieser eng gesteckten Witzfigurengrenzen finden sie zu überraschend gegenwärtigen Personenprofilen. Borkman besticht durch ein ähnlich robustes Unrechtsbewusstsein wie unlängst Christian Wulff, schwingt dabei allerdings mit einem derart unverschämten Charme an der neoliberalen Leine, dass man ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst auf den Leim gehen würde."
"Originelle Lesarten" der Ibsen-Dramen macht Wahl allerdings vor allem in zwei Inszenierungen aus, die beim kommenden Theatertreffen in Berlin gastieren: Vegard Vinges und Ida Müllers "Borkman"-Marathon an der Berliner Volksbühne nehme "die fragwürdigen Gesellschaftsentwürfe, von denen der Ex-Banker in seinem Kabüffchen schwadroniert, zum Anlass für eine performative Auseinandersetzung mit Gewaltfantasien des 20. und 21. Jahrhunderts und landet dabei so konsequent und angemessen schwer erträglich bei Anders Breivik, wie man Ibsen möglicherweise noch nie gesehen hat."
Und Lukas Langhoff besetze das Personal in seinem Bonner "Volksfeind" mit "dunkelhäutigen Migranten", und vermöge so "eine präzise Dialektik zwischen Exklusionsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft auf der einen und Selbstausschlusshandlungen auf der anderen Seite herauszuarbeiten. Viel mehr Gegenwart geht eigentlich nicht."
(Tagesspiegel / chr)
Hier finden Sie die Nachtkritiken zu einigen der erwähnten Ibsen-Arbeiten:
Gespenster, inszeniert von David Bösch im Akademietheater Wien
Nora, inszeniert von Herbert Fritsch am Theater Oberhausen
Nora, inszeniert von Wojtek Klemm am Schauspielhaus Graz
John Gabriel Borkmann, inszeniert von Armin Petras an den Münchner Kammerspielen
John Gabriel Borkmann, inszeniert von Vegard Vinge und Ida Müller im Prater der Berliner Volksbühne
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