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Wider den Selbstbetrug

27. April 2012. Im Interview mit Tobias Haberl, das das SZ Magazin heute veröffentlicht, raucht René Pollesch Kette und erklärt, warum er nicht glaubt, dass die Liebe das geeignete Instrument ist, um die Menschen zusammenzubringen: "Ich glaube, dass die Liebe uns eher trennt. Sie hat keinen Gebrauchswert. Wir schaffen es nicht, durch die Liebe zu einer Gemeinschaft zu kommen, die mehr ist als bloße Geselligkeit." Die Liebe sei außerdem sowieso aus der Mode gekommen "in einer Gesellschaft, in der keiner mehr raucht und alle Fahrradhelme tragen" und in der alle so lange leben wollen wie möglich, denn: "Der Liebende will kein langes Leben, er will das große Gefühl." Auch die Verbindlichkeit sei in der Nichtraucher-Fahrradhelmträger-Gesellschaft "keine Kategorie mehr". "Verbindliche Menschen gelten als langweilig."

Und: "Wir haben übrigens auch ein Problem bei der Auseinandersetzung mit Rassismus". Denn Toleranz sei keine Lösung für Rassismus. Das Problem des Rassismus sei in erster Linie ein Problem der Repräsentation, vor allem im Theater. Wenn in einer Szenenanweisung von Samuel Beckett stehe "Ein Mensch betritt die Bühne", dann hätte man automatisch einen weißen heterosexuellen Mann vor Augen. "Das ist das Problem." Wie würde René Pollesch das Thema Rassismus angehen? "Auf jeden Fall nicht, indem ich ein Stück über mangelnde Toleranz schreibe." Im Publikum säßen ja keine Rassisten. "Rassismus als Problem, das wird von den Zuschauern ja abgesegnet." Also mache er lieber einen anderen Vorschlag und sage: "Das Problem ist die Repräsentation." Im Repräsentationstheater gingen die Gedanken verloren, weil sich alles um Lesbarkeit drehe. Aber: "Wir sollten im Theater nicht dauernd auf das Verstehen abzielen. Dadurch, dass wir uns verstehen, ist noch nichts gewonnen."

Zu seiner Art, Theater zu schreiben und zu machen, sagt Pollesch unter anderem: "Ich muss nicht alles alleine machen." Und auch: "Die Texte sind nicht autobiografisch. Ich versuche, mit Theorien auf mein Leben zu schauen. Dabei kommen Texte heraus, die hoffentlich auch den Schauspielern und den Zuschauern Instrumente liefern, um auf ihr eigenes Leben zu schauen."

Er sei in einem Dorf in Hessen aufgewachsen, wo jeder sein musste wie der andere. "Und Gemeinschaften, die darauf beruhen, dass sich alle ähnlich verhalten – da bin ich raus, ehrlich." Letzlich sei ja auch aus ihm etwas ganz anderes geworden als in so einem Dorf vorgesehen sei. Jemand, für den Bücher Instrumente sind, die nach dem Gebrauch zerfallen können. Der es nicht ertragen kann, wenn ihn ein Erzähler an die Hand nimmt. Weil er eben nicht mit dem Befehl groß geworden sei, Literatur zu verehren. Außerdem jemand, der nur zwei Paar Schuhe, ein Jackett, drei Hemden besitzt und eine Jeans. "Wenn die gewaschen wird, kann ich nicht rausgehen."

Die Idee, dass man ein Auto nicht besitzt, sondern damit fährt und es irgendwo stehenlässt, damit der Nächste es nehmen kann, leuchte ihm sehr ein. "Man muss sein wirkliches Leben schon so organisieren, dass man mit dem, was man denkt, mithalten kann." Alles andere sei Selbstbetrug. Das Geld, das er als Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises erhalten habe, habe er mit allen Mitwirkenden der jeweiligen Produktion geteilt.

Dann reden Pollesch und Haberl noch ein wenig über Eltern und Harald Schmidt; außerdem verneint Pollesch, dass er am Zustand der Welt leidet. Und er verneint noch, dass er kokst, obwohl er das schon einmal verneint hat: "Ich finde Koksen nicht toll, aber jemanden, der sagt, dass er nicht kokst, finde ich auch nicht besonders toll."

(sd)

Kommentare  
Pollesch in der SZ: von Pollesch lernen
Kann man als Provintheater-Macher was von René Pollesch lernen? Und was? Mein persönliches Credo: Würde ich den Dramatikerpreis meiner Heimatstadt Mülheim bekommen, würde ich das Preisgeld mit den an der Produktion Beteiligten teilen.

Apropos Pollesch und Harald "aus Neu-Ulm gebürtig" Schmidt: http://august.theaterblogs.de/?p=240
Pollesch in der SZ: was man lernen kann
Sie können lernen, dass grundsätzlich nicht eine Gruppe die andere repräsentieren sollte, sprich zB Weiße grimassenhaft zu Schwarzen zu schminken - auf diese Diskussion nimmt Pollesch Bezug.
Pollesch in der SZ: binäre Oppositionsmuster
@ Stefan Schweers: Könnten Sie das näher erläutern? Es geht doch gerade nicht darum, ob da "authentische Schwarze" oder "angemalte Weisse" auf der Bühne stehen, sondern darum, dass wir uns die Welt offenbar immer nur in binären Oppositionsmustern vorstellen können, welche oft genug zur Rechtfertigung des Hegemonieanspruchs einer Kultur, Klasse (class), Rasse (race) oder eines Geschlechts (gender) über das andere mißbraucht werden. Darin eingeschlossen sind Fragen, wer MIT wem spricht bzw. ÜBER wen gesprochen wird. Wenn Weisse ÜBER Schwarze sprechen, ist der Schwarze oftmals ENTWEDER der "gute/natürliche Schwarze" oder der "böse/durch die westliche Kultur instrumentalisierte bzw. pervertierte Schwarze", nie aber wird er auf Augenhöhe gesehen und in seiner eigenen Stimme gehört, was zudem auch ein Nicht-Verstehen einschließen würde, wie ja auch Weisse sich nicht allein aus dem Grund verstehen, weil sie weiss sind bzw. dieselbe Sprache sprechen.
Pollesch in der SZ: wider ein Deutungsmonopol
Hallo Inga, ich spreche von Selbstrepräsentation. Das muss nicht darauf hinauslaufen, dass Rollen stets authentisch besetzt werden müssen. Es geht darum, dass nicht eine soziologische Gruppe und deren Perspektive eine Art Deutungsmonopol hat. Sie sprechen ja selbst die klischeehafte Darstellung Schwarzer an - das ist das deutlichste Beispiel.
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