Für eine Koalition der freien Szene

Berlin, 27. April 2012. Anlässlich der anstehenden Neubesetzung der Intendanz des Berliner Maxim Gorki Theaters äußert sich die Kuratorin und ehemalige Kultursenatorin im rot-grünen Berliner Senat Adrienne Goehler im Interview mit Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (26.4.2012) grundsätzlich zur Modernisierung der Stadttheater. Sie "plädiert dafür", das Gorki Theater "in die Koalition der freien Szene zu geben und damit die Chance für einen öffentlich begleiteten Umbau eines Traditionshauses für die neuen Erfordernisse der Stadt zu eröffnen".

Für Stadttheater sollte "dringend eine dritte (Rechts)Form entwickelt werden, die nicht nur die schlechte Wahl zwischen der Erstarrung in öffentlichen Tarifstrukturen oder die in lebenslangen Intendanzen oder Geschäftsführungen erstarrte GmbH lässt", so Goehler. "Es bräuchte Hausverträge, die dem jeweiligen Theater als Tendenzbetrieb verpflichtet wären, es braucht im Wortsinne Spielraum für die künstlerische Weiterentwicklung eines Hauses."

Goehler schließt sich einer These von Matthias von Hartz, die dieser auf nachtkritik.de vertreten hat (hier), an, dass das Gros der innovativen Ansätze im aktuellen Theaterbetrieb aus der freien Szene komme, wobei der Einfluss auf den traditionellen Stadttheaterbetrieb noch zu gering ausfalle. "Theater verleiben sich freie Formate in ihr ansonsten unangetastetes Repertoire- und Ensemble-System ein, in dem die freien Produzenten über einen meist schlecht bezahlten Gaststatus nicht hinauskommen. Davon gehen nicht genügend innovative Impulse aus."

Gerade die Theaterstadt Berlin sollte als "Laboratorium" fungieren und "Anleihen bei anderen Formen und Strukturen des Wissens und Handelns nehmen". Das Gorki Theater als kleinste der fünf hauptstädtischen Subventionsbühnen besitze für einen solchen Strukturwandel alle Voraussetzungen, mit einem Etat "von rund 8,5 Millionen Euro, der klein ist für ein Repertoire- und Ensemble Haus mit rund 90 Angestellten, aber viel mehr als die gesamte Freie Theaterszene, inklusive Gruppen wie Rimini-Protokoll, Meg Stuart, Sasha Waltz hat".

(chr)

Kommentare  
Interview Goehler: schneidig formuliert, aber
Zum Interview Goehler/Pilz

Das Gorki der freien Szene geben? Wieso nicht, aber warum das Ganze auch noch ideologisch aufladen? Wenn es in Berlin hinreichendes Interesse gibt, eine weitere gut ausgestattete zentrale Spielstätte für die freie Szene zu etablieren, dann bitte schön. Aber es ist ja auch nicht so, dass es nicht schon das HAU, die Sophiensäle, die Ballhäuser, den Theaterdiscounter, etc, etc gäbe. Aber wer soll das nun entscheiden? Frau Goehler? Herr von Hartz? Der Bürgermeister? Ein Bürgerentscheid? Martin Baucks? Frank-Patrick Steckel? Die Mitarbeiter des Gorki?

"Es müsste daher dringend eine dritte (Rechts)Form entwickelt werden, die nicht nur die schlechte Wahl zwischen der Erstarrung in öffentlichen Tarifstrukturen oder die in lebenslangen Intendanzen oder Geschäftsführungen erstarrte GmbH lässt."
Danke Frau Goehler, sag ich ja auch. Aber zur Korrektur: auch die (allermeisten) GmbH erstarren in der öffentlichen Tarifstruktur. Und wo bitte gibt es "lebenslange" Intendanzen / Geschäftsführungen? Und was hat die Dauer einer Intendanz mit der Rechtsform eines Theaters zu tun? Das ist schneidig formuliert, aber mehr auch nicht.

"Sie [die Stadttheater] müssen noch viel mehr an ihrer Durchlässigkeit zu den künstlerischen Formen der freien Szene arbeiten, daraus könnten sich dann auch andere Leitungsstrukturen ergeben, das Stadttheater als coworking-place etwa."
Das passiert seit Jahren, und dank des Engagements der Kulturstiftung/Bund jetzt gerade verstärkt (Doppelpass). Andere Leitungsstrukturen? Gern, aber bitte auch nicht vergessen, dass Durchlässigkeit / Kommunikation / flache Hierarchien / Teilen von Verantwortung etc in hohem Maß auch von der Person des Intendanten abhängig sind. Die bestehenden Strukturen sind flexibel, wenn man es denn will. Solange aber monomane Regisseure durch Findungskommissionen und Kulturpolitiker in die Spitzenpositionen der Stadttheater gehievt werden, ändert sich auch nichts, dabei ist es übrigens egal, wo diese Personen vorher gearbeitet haben. Solange die Wahrnehmung eines Hauses (Presse/Zuschauer/Kollegen) auf die Person des Intendanten und nicht auf die Inszenierungen des Hauses fokussiert ist, ändert sich nichts.

„Ästhetische Innovation“? Ach ja, gab es ja an den Stadttheatern nicht. Die Inszenierungen sehen noch immer so aus, wie 1950 oder 1980 oder gestern. Diese ständige Wiederholung des ästhetischen Gegensatzes frei vs. institutionalisiert ist doch albern. Und im Übrigen nur weil etwas „neu“ ist, ist es doch lange noch nicht gelungen. Und was ist mit den freien Gruppen / Künstlern der freien Szene die seit Jahren einen eigenen Stil entwickelt haben? She She Pop, Lunatics, Rimini, Maß + Fieber, Sascha Waltz etc etc, sollen die aufhören, weil sie nicht mehr „innovativ“ sind?

Insgesamt, leider kein besonders originelles Interview. Schade, ich hatte mir mehr davon versprochen. Und ja es geht um eine Vielzahl von Formen, allerdings wird hier daraus ein Richtungsstreit. Meines Erachtens ist die einzig richtige Antwort: alle Theaterformen müssen nebeneinander bestehen können.
Interview Adrienne Goehler: alles eine Etage tiefer?
Aber wir haben doch schon das HAU, die Sophiensäle, das Radialsystem und und und...
Wozu denn noch eine freie Spielstätte von oben herab schaffen?
Das ist natürlich eine rhetorische Frage: Die Antwort kennt jede(r) - auch ich: um das Geld in Richtung freie Szene umzuverteilen.
Von wem wird es umverteilt?
Von denen da oben in der Behörde (im Schloss, Kafka).
D.h.: derjenige oder diejenige Macher(in) der freien Szene, der/die am "etabliertesten" ist im Betrieb, kriegt das Geld.
Ich vermag nicht zu sehen, wo denn da der Strukturwandel liegen soll?
Man schiebt die Stadttheaterstruktur (soziale Sicherheit, Verbeamtung der Künstler etc.) einfach eine Ebene tiefer und zwar in die Leitungsetagen der etablierten "Freien" Szene.

Ich teile Frau Goehlers Analyse voll und ganz: Die Freie Szene entwickelt im Moment die Techniken und Ästhetiken, die der Vampir Stadttheater ihr dann aus den Adern saugt.
Goehlers Folgerung daraus ist deswegen meines Erachtens nicht automatisch richtig. Die Freie Szene ist dem Stadttheater immer schon voraus. Aber dieses Voraussein kann man doch nicht administrativ züchten! Während irgendwer, der in das Förderprofil der Beamten passt, das Geld kriegt, findet die echte Kreativität ganz wo anders statt und ruft "ätsch, Frau Goehler, ich schaff's auch ohne sie."
Interview Goehler: mehr freie Szene Denkungsart
Frau Goehlers Worte sind richtig und wichtig. Ein Theater der Zukunft muss Ko-Produzent sein, Produktionen produzieren, ermöglichen, zeigen - sie dann aber auch wieder den Künstlern zurückgeben ( die sehr oft in selbstaufgebauten Einheiten die Werke weiterzeigen können ). So viele spannende Inszenierungen der letzten Jahre könnten so in kondensierten, von gewissen Bühnenaufwänden befreiten Fassungen an viel mehr Orten zu sehen sein und dem Theater zu mehr Relevanz in der Gesellschaft verhelfen. Das braucht aber viel mehr freie Szene Denkungsart. All die positiven Eigenschaften eines Hauses - Werkstätten, Stadttheater-glam ( besonders beim Gorki gibt es diese spannende Mischung aus Gemütlichkeit und Glamour! ) könnten sich so mit der Mobilität und Gedankenkraft der freien Szene vermischen. Doch, es braucht neue Formen, neue Theater. Weiter in diese Richtung zu denken ist sehr wichtig und würde allen Interessen zudienen.
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