Euphorions langer Flug

von Christian Rakow

Berlin, 12. Mai 2012. "Oh Gott, achteinhalb Stunden Theater?", schüttelt die Angestellte im Café um die Ecke den Kopf. Sie sagt es mit leicht slawischem Akzent. Und der ältere Herr greift nach seinem Becher Kaffee und erklärt: "Das ist 'Faust', das urdeutsche Drama!" Man möchte meinen, einen solchen Satz kann man nur mit urdeutscher Inbrunst sagen. Aber er sagt es eher urgebildet und mild. Nun ist Nicolas Stemann natürlich kein Regisseur für Urdeutsches oder sonstiges Uriges. Bei ihm kommen Schauspieler eher mit Reclam-Heftchen in der Hand auf die Bühne. Woll'n doch mal schauen, ob dieser Urklassiker noch etwas in unserer Zeit verloren hat. So geht das bei ihm.

Skalpellgenau bis flatterhaft

Enttäuscht dürfte der ältere Herr dennoch nicht gewesen sein. Nicht von Stemanns "Faust I" zumindest. So intensiv erlauscht, so skalpellgenau gedacht hat man Goethes Text lange nicht vernommen. Sebastian Rudolph eröffnet ihn im Soloritt von der Zueignung bis hin zum Teufelspakt. Ein Faust mit eingebautem Goethe-Motor. Philipp Hochmair übernimmt und spricht das Drama aus der Sicht Mephistos weiter. Ein bisschen sehen die beiden aus wie Easy Rider, jung und frei, Männer für den schnellen Schuss. Aber sie kurven nicht auf Harleys, sondern auf urdeutschen Knittelversen.

Wenn sie denn bloß leicht landen könnten! Doch Gretchen, die Stadtschöne, ist bei Patrycia Ziolkowska kein federleichtes Urweibchen. Sondern eine Frau. Ein wacher Geist in jeder Sekunde, eine Herrscherin des leeren Bühnenraums, die noch ihre Gretchenfrage mit größter Souveränität zu stellen vermag. Flatterhaft zeigen sich einzig die Blutsbrüder Faust und Mephisto, wenn sie im Video zur Walpurgisnacht entschweben.

Aus höchsten Höhen

"Am farbigen Abglanz haben wir das Leben", hat sich Stemann anschließend gesagt und für "Faust II" ordentlich in die Tuschpalette gegriffen. Man war ja durch die Nachtkritik zur Salzburger Premiere schon auf einiges vorbereitet. Aber dass es derart fahrig assoziativ werden würde, dass Stemann dermaßen bei seinen älteren Arbeiten borgen ging, na ja. Der permanent erheischte Szenenapplaus blieb nicht von ungefähr dürftig. Im Horizont einer ziemlich pauschalen Modernisierungskritik wechseln Faust und sein gesamtes Umfeld sukzessive ins Großrednerfach, während dazu Knautschpuppen von Das Helmi tanzen und witzeln.

Sicher sind diese Eindrücke durch die hohen Erwartungen getrübt, die sich mit einem Ausnahmekopf wie Nicolas Stemann verbinden. Aber bitte, wer, wenn nicht er, hätte die Papiergeldschöpfung des "Faust II" über das Niveau von "Ich werf' mal ein paar Lohnarbeiterfotos aus Südostasien aufs Video" heben können?! "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das Unzulängliche hier wird's Ereignis." Eine Urwahrheit. Auch der Knabe Euphorion ist bis in höchste Höhen vorgedrungen und dann abgestürzt.


Hier geht's zur Nachtkritik der Premiere bei den Salzburger Festspielen 2011.

Kommentare  
Faust 1&2, TT-2012: Einfluss von Chétouane
stemanns eitelkeit, die ihm bei den jelinekstücken so zu gute kommt, weil diesen hoch frisierten neurosenmaschinen nur eine weitere angeschlossen werden kann, und kein braver kunstverwalter es mit ihnen aufnehmen sollte, stemanns angenehmerweise offen zu tage tretende eitelkeit kehrt im zweiten teil bestenfalls als simulation des denkens wieder. rakow hat recht, wenn er die unsäglichen regieeinfälle beim namen nennt. die schöne vielstimmigkeit von einigen stemannabenden erscheint hier meistens in der ungemischten form, als matsch. umso erstaunlicher der erste teil. was mir als kölner fehlt, ist aber der hinweis, wie sehr das gretchen von laurent chétouanes kölner faust inspiriert bleibt (2009?). von der sprechweise bis zu handfesten dramaturgischen texteingriffen (wie gr. auch faust spricht, und auch mephisto, oder?). klar, die großartige frau ziolkowska spielte die rolle hier wie da. aber das geht so weit, dass man das auch hätte ausweisen (oder zumindest: bemerken) können. in anführungsstrichen spielen geht natürlich nicht, schon klar...
Faust 1&2, TT-2012: Leistung von Ziolkowska
lieber kölner. vielleicht ist das in beiden fällen einfach die leistung von frau ziolkowska.
Faust 1&2, TT-2012: keine Kopie
Na ja, Herr Stemann hat in der Premiere der oben zitierten Chétouane-Inszenierung hinter mir gesessen, er kennt also die Arbeit.
Ich würde ihm trotzdem nicht unterstellen, da vom Kollegen abgekupfert zu haben. Er benutzt die Theatermittel ja z.T. völlig anders, bei ihm passiert (zumindest in Faust I) viel mehr auf der Bühne ...
Faust 1&2, TT-2012: kein Theater ohne Regie
ich glaube nicht an ein theater ohne regie, ohne dramaturgie, so toll die schauspieler auch sind. die ähnlichkeiten gehen sehr weit in diesem fall (bis zur fassung, wenn ich nicht schwer irre). und: frau ziolkowska spricht nicht immer so, wie sie an diesen abenden spricht. was ihre leistung nicht schmälern soll.
Faust 1&2, TT-2012: (k)ein stemannplag
es geht mir nur um das gretchen, nicht um die theatermittel drumrum. und ich will hier auch kein stemannplag eröffnen, um ihm den titel "geheimrat des postdramatischen theaters" womöglich abzuerkennen. aber in diesem fall würde ich schon meinen: zu nah dran.
Faust 1&2, TT-2012: Kölner/in
da redet eben ein kölner, und keine kölnerin.
Faust 1&2, TT-2012: Fassungseingriffe
@vicki: die beobachtung ist faktisch richtig. wenn sie damit aber meinen, dass es unlauter oder, oho, sexistisch sei, anzunehmen, dass nicht die schauspielerin, sondern der regisseur oder der dramaturg drastische fassungseingriffe wie jener, dass gretchen faustens text spricht, ins spiel gebracht haben, dann ist ihre beobachtung mit großer wahrscheinlichkeit falsch. oder wir fragen einfach frau ziolkowska, ob sie sich denn das alles selbst ausgedacht hat. dass der schauspieler, die schauspielerin, das unhinterfragbare maß aller deutscher theaterdinge geworden ist, ist meiner meinung nach das stärkste, gleichzeitig unkommentierteste zeichen für die fortschreitende entleerung/marginalisierung dieser schönen kunst.
Faust 1&2, TT 2012: Nix eigenes
Das scheint mir eine sinnvolle Alternative. Patrycia Z. sollte sich hier äußern, damit nicht nur Dramaturgen und Regisseure miteinander spitzfindeln. Dieser Faust aus Köln, ich fand ihn ja etwas blass, gerade in den Gretchenszenen, scheint trotzdem weiterzuwirken und Nicolas Stemann, sonst der erste in Plagiatsvorwürfen, auch nur ein Kind seiner Generation: Kein Biss, nix eigenes, nur ein gutes Elternhaus und verlorener Ehrgeiz. Zu wenig für Theater. Egal: Nur eine Schauspieler/in kann diesen Vorwurf der "entleerung/marginalisierung" kontern.
Faust 1&2, TT 2012: großartiger Leerlauf
Wahrscheinlich spricht es schon für die Inszenierung, dass die 8,5 Stunden erheblich schneller vorbei zu sein schienen als erwartet/befürchtet. Faust I war scharfsinnige, ungemein anregende und hochintensive Textarbeit, Faust II eine Materialschlacht mit allem, was das "postdramatische Theater" hergibt. Da gab es manch Großartiges, aber auch jede Menge Leerlauf. Doch ist Faust II ohne das Scheitern überhaupt zu denken?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
Faust 1&2, TT 2012: schade
faustI im ersten teil war großartig dank der wunderbaren arbeit von sebastian rudolph und im faustII eigentlich nur der 1.und 2.akt.da war steman bei sich in seiner szenischen fantasie seiner ganzen kraft, die ihn früher ausgemacht hat. schockiert und entäuscht hat mich aber der ganze rest, wie konventionell und brav die szenen waren, aufgetreten hingestellt und abgegangen. altmodisch und sowas hätte es vor einigen jahren bei steman nicht gegeben. jetzt feiert er sich leider nur noch selbst, wie am dt und in köln. schade um diesen spannenden hinterfragenden regisseur.
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