Genaueres im Herbst

23. Mai 2012. Gespannt auf da, was kommt, zeigen sich die Kommentatoren nach der Pressekonferenz von Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz, auf der er Shermin Langhoff und Jens Hillje als neue Leiter des Maxim Gorki Theaters vorstellte.

In der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung (23.5.2012) weist Dirk Pilz auf kleinere Ungereimtheiten der Verpflichtung von Langhoff und Hillje hin: So wie André Schmitz die Geschichte vom Einholen der beiden "kurz vor den Toren Wiens" erzähle, klinge "diese Personalentscheidung nach einem ausgetüftelten Plan", was sie gerade nicht gewesen sei.
Langhoff habe sich aus "persönlichen, familiären Gründen" aus Wien zurückgezogen und habe auch auf Nachfragen keine nähere Erklärung abgeben wollen, "weil sie ihrem Mann, dem Regisseur Lukas Langhoff, und ihrer Tochter versprochen habe, darüber zu schweigen". Doch "natürlich" sei es ein "Affront den Wienern gegenüber", die Leitung eines der "edelsten Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum" derart überraschend wieder abzugeben.
Schmitz, "der 'die Shermin' duzt und herzt, als finde diese Pressekonferenz an einem WG-Küchentisch statt", sei "enorm stolz" auf seinen Coup, der alle Beteiligten dennoch offenbar derart überrascht habe, dass es nicht einmal spruchreife künstlerische Pläne für das Theater gebe. Genaueres solle im Herbst bekannt gegeben werden, bislang verspräche die neue Leitung des Gorki nur, dass dem Theater "nicht einfach das Label 'postmigrantisch' übergestülpt würde. Das Gorki werde jedenfalls "kein großes Ballhaus und keine kleine Schaubühne".
Zu rechnen sei mit dem Aufbau eines "stärker multiethnisch gemischten Ensembles" und der Kooperation mit der freien Szene. Das alles sei nicht originär, aber offenbar begrüßt Pilz "das kulturpolitisch deutliche Signal", dass "nach gut 50 Jahren Einwanderungsgeschichte in der Bundesrepublik" Shermin Langhoff eine erste Intendantin der postmigrantischen Generation bestallt werde.

Rüdiger Schaper schreibt in der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel (23.5.2012), wenn ab der Spielzeit 2013/14 Shermin Langhoff, die Schwiegertochter des kürzlich verstorbenen Thomas Langhoff, dessen wichtige Inszenierung der "Übergangsgesellschaft" ebenfalls am Maxim Gorki Theater entstanden sei, die Intendanz des Gorki übernehme, sei das "ebenso viel Neubeginn wie Tradition, die sich ja immer erst aus Brüchen und Umbrüchen und mutigen Anfängen bilden kann".
Schaper sieht "eine drohende kulturpolitische Pleite" – die Gorki-Intendanz unbesetzt, die guten Geister aus der Naunynstraße entflogen – plötzlich abgewendet. Die Zeit sei "äußerst knapp gewesen. Shermin Langhoff und ihr Ko-Intendant Jens Hillje wollten anknüpfen an die "Traditionslinie des Gorki als Gegenwartstheater". Sie wollten "ein neues Ensemble aufbauen, neue Regisseure verpflichten", wobei Armin Petras weiter am Haus inszenieren solle. Zur Freien Szene wolle sich die neue Intendanz öffnen, "ästhetisch wie organisatorisch", und sie wolle und müsse auskommen, mit dem Jahresetat von 9,8 Millionen Euro bei derzeit immerhin 160 Mitarbeiter.
"Postmigrantisch", das sei ein Kampfbegriff gewesen, habe Langhoff auf der Pressekonferenz im Gorki Theater gesagt. "Den brauche sie jetzt nicht mehr." Jedoch: Ost und West hätten am Gorki längst zusammengefunden, jetzt gehe es auch um die "anderen".
Mit dieser Berufung setze der Senat ein Signal, schreibt Schaper. Habe eben noch der "Elan der Kulturpolitik in Berlin zu erlahmen" gedroht, so zeichneten sich jetzt "vielversprechende Entwicklungen" ab. "Mit Wagner Carvalho, dem Brasilianer, und Tunçay Kulaoglu übernimmt am Ballhaus Naunynstraße ein internationales Team die Leitung, das zudem auch dem Tanz gegenüber aufgeschlossen ist. Die Belgierin Annemie Vanackere leitet ab der kommenden Spielzeit das Hebbel am Ufer", André Schmitz' Besetzungspolitik setze einen "klaren internationalen Akzent". Man dürfe auch "noch einmal erwähnen, dass Schmitz zwei Intendantinnen berufen" habe, alles andere als selbstverständlich am Theater.
Hillje habe mitgeteilt, er habe "schon immer vom Gorki geträumt". Es sei ein "idealer Ort", offener, beweglicher als das Riesenhaus Schaubühne am oberen Kurfürstendamm.

Auch Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (23.5.2012) ist angetan von der Personalie. Shermin Langhoff sei keine "Notlösung", vielmehr sei Schmitz "ein Überraschungscoup" gelungen. Langhoff habe "das winzige Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße unter dem Label eines 'postmigrantischen Theaters' zu einem quirligen Versuchslabor gemacht". Dort sei eine "Wirklichkeit" auf die Bühne geholt worden, die an den großen Staatstheatern höchstens am Rand auftauche: "Die Lebensrealität der Migranten und ihrer Kinder in der in der zweiten, dritten, vierten Generation." Kein anderes Theater mache das so "entschieden, konsequent und lautstark".
Aus dieser thematischen Zuspitzung entwickele diese Bühne eine "beeindruckende Kraft, die oft limitierten ästhetischen Möglichkeiten störten nicht". Shermin Langhoff nun das kleinste der Berliner Staatstheater anzuvertrauen sei da nur "der logische nächste Schritt": Wenn sich die Theater "der Tatsache stellen wollen, dass Deutschland längst ein Land vieler Kulturen und Ethnien ist, kann das nicht nur in der kleinen Off-Nische stattfinden".

(jnm)

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