Die Erwartung der großen Tirade

28. Juli 2012. "Ich habe immer gedacht, dass das Odéon ein Haus ist, das man meistern könnte", sagt Luc Bondy im Interview mit Marc Zitzmann von der Neuen Zürcher Zeitung. Im September tritt Bondy seine Intendanz dort an – und sein Optimismus scheint unter den schwierigen Budgetverhandlungen ein wenig gelitten zu haben. Das künstlerische Budget des Hauses, das Bondy von Olivier Py übernimmt, ist seit 2006 um eine Million Euro gesunken.
Für seine erste Spielzeit hat Bondy von der Regierung (Sarkozy), die ihn ernannt hat, einen einmaligen Zuschuss von 750 000 Euro erhalten. Für die zweite Spielzeit fällt dieser Zuschuss weg.

"Ich muss weitermachen. Mit einem reduzierten Programm", sagt Bondy. Er könne "die" ja nicht erpressen, sagen: "Ich gehe." Das sei denen völlig egal. "Wir werden viel koproduzieren. Die Premieren der Koproduktionen sollen am Odéon stattfinden. Wir werden in Paris in langen Serien spielen, um die Produktionskosten zu amortisieren, und die Produktionen dann auf Tournee schicken." Wenn ein Schauspieler nicht bereit sei, für ein Projekt am Odéon anschliessend auf Tournee zu gehen, engagiere er ihn nicht.

Im zweiten Spielort des Odéon, den Ateliers Berthier am nordwestlichen Stadtrand von Paris, wolle er ein Theaterzentrum schaffen – und zwar eins, wo nicht nur abends etwas los ist. "Berthier hätte eine grössere Ausstrahlung, wenn es dort nicht nur Aufführungen am Abend gäbe." Alle Theater machten Festivals für junge Regisseure. "Ich halte mehr von Schauspielunterricht, ich finde das produktiver." Aber auch da hänge alles vom Geld ab. Er werde versuchen, vom Erziehungsministerium Subventionen zu erhalten. Apropos Schauspielunterricht: Von "dieser Rhetorik bei vielen französischen Schauspielern" ist Bondy entsetzt. "Die Erwartung der grossen Tirade, des schauspielerischen oder eher: des rhetorischen morceau de bravoure, ist im hiesigen Publikum noch weit verbreitet." Auch dass die Schauspieler wie in Frankreich üblich zur ersten Probe erscheinen, ohne ihren Text gelernt zu haben, will Bondy unterbinden. Und zwecks effektiveren Probens Souffleure einstellen am Odéon – "ein Beruf, der hierzulande unbekannt ist".

Weiter plaudern Zitzmann und Bondy noch über einen Roman namens "Monday", in dem Bondy seinen kürzlich verstorbenen Hund als Erzähler eingesetzt hat (Er müsse noch dran arbeiten, sagt Bondy, es sei noch nicht "goyesk" genug). Und Bondy erinnert sich u.a. an Patrice Chéreau ("das aufregend Neue, damals in den späten 1960er Jahren") und Michel Piccoli ("er konnte einen wirklich Sachen empfinden lassen"). Sein Verhältnis zum Festival d'Avignon, an dessen Rande ein Teil des Interviews stattfindet, sei nicht so gut. "Diese Trompeten- und Pauken-Stimmung! Diese Massen, dieser Tourismus, diese Mischung!" Das sei kein Snobismus, sondern seine Befindlichkeit. "Mich macht das mürbe."

(sd)

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