Vor Stalin nicht den Hut ziehen

29. August 2012. In der Süddeutschen Zeitung bespricht Robin Celikates den Suhrkamp-Band "Demokratie? - eine Debatte", der eine Vielzahl der heute maßgeblichen linksradikalen Theoretiker versammelt.  

Denen ginge es darum, den falschen Konsens, wir lebten in Zeiten der Demokratie, zu durchbrechen. "Nicht gegen, sondern im Namen der Demokratie." Denn Demokratie sei "wesentlich anarchisch und konfliktreich" und widersetze sich der staatlichen und institutionellen Einhegung und Normalisierung.

Der Konsens so unterschiedlicher Autoren wie Giorgio Agamben, Alain Badiou, Jean-Luc Nancy oder Slavoj Zizek sei ein negativer: Die realexistierenden Demokratien realisierten die Idee der Demokratie nicht, sie verrieten sie vielmehr tagtäglich. "Repräsentation und Wahl" seien wesentlich Tricks, die die "Herrschaft der Bourgeoisie" zu stabilisieren. Die radikaldemokratische Kernthese: Demokratie sei keine Staatsform, sondern eine politische Praxis, die zu Staatlichkeit in einem "unauflösbaren Spannungsverhältnis" stehe.

Souveräne Nichtbeachtung

Es sei, so Celikates weiter, unter "den Autoren des radikaldemokratischen Lagers nicht unüblich", die eigenen Thesen unter "souveräner Nichtberücksichtigung aller vermeintlich nichtradikaler Theoriedebatten" zu entwickeln. Keiner beherrsche dies so gut wie Alain Badiou. Dem gelte Platon als "ein Zeitgenosse von größter Wichtigkeit", dessen Idee von der Wächtergemeinschaft, Badiou als Kommunismus etikettiere und von der er sich die Überwindung solcher, den leeren Formalismus der herrschenden Demokratie ermöglichenden Übel wie "hedonistischer Materialismus, nihilistische Tendenzen, Dummheit und Anarchie" verspreche.

Daniel Bensaïd dagegen warne in seinem Beitrag vor jenen "autoritären Lösungen und mythischen Gemeinschaften", zu denen die radikale Linke in ihrer komplexen Geschichte immer wieder Zuflucht genommen habe. Auch Slavoj Zizek, findet Celikates, hätte Bensaids Text lesen sollen, bevor er "zum x-ten Mal - hier gestützt auf den Wuttheoretiker Peter Sloterdijk, den Kung Fu Panda und eine Kombination aus Stalin und Gandhi - die Diktatur des Proletariats und das 'terroristische Potenzial' der Demokratie zu rehabilitieren" versuchte. Wie Bensaïd insistiere, müsse es ein "nicht verhandelbares Element einer jeden emanzipatorischen linken Perspektive sein", dass man - anders als Badiou und Zizek - vor Stalin eben nicht seinen Hut ziehe.

Herrschaft ohne Eignung

Für Jacques Rancière sei Demokratie "grundsätzlich egalitär" und gründe in der "'Herrschaft derer, die weder einen besonderen Anspruch auf ihre Ausübung noch eine spezifische Eignung dafür besitzen", was genau der Grund sei, weshalb sie mit Platon bis heute so leidenschaftlich angefeindet werde.

Demokratie sei also in jedem Fall "als unabgeschlossenes Projekt" zu verstehen, was jedoch nicht bedeute, sie als "inkompatibel mit jedweder Institutionalisierung zu begreife"n. Institutionen dürften die transformative Dynamik jedoch nicht ersticken, die der Demokratie wesentlich sei - und genau dies sei der radikaldemokratischen Diagnose zufolge der "entpolitisierende Effekt unserer repräsentativen und exekutivlastigen Parteienregime".

jnm

 

Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross, Slavoj Zizek: Demokratie? - Eine Debatte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 137 Seiten, 14 Euro.

 

 

Kommentare  
Sammelband Demokratie: Vorfreude auf "Demokratie" im DT, 21.9.
Na bitte, da gibt es gleich das Buch zum Thema. Gut quergeschossen Herr Merck. Und, lieber Guttenberg, glauben sie mal ruhig, dass auch Kuttner und Kühnel ihren Badiou und Zizek gelesen haben, und sich nicht nur mit der Guillaume-Affaire in ihrer Inszenierung von "Demokratie" begnügen werden. Ende September wissen wir mehr. Zeit genug das Büchlein zu lesen.

(Na, lieber Stefan,
wir sind froh, dass unser Mitdenken immerhin bemerkt wird.
Gruß
nikolaus merck)
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