Europas vitale Körper

von Annette Hoffmann

Basel, 3. September 2012. Die Zeiten, in denen in Europa Territorien verteilt wurden, sind zwar vorbei. Doch den Bühnenhintergrund für Sanja Mitrovics Inszenierung "Crash Course Chit Chat" bildet die Reproduktion eines Historiengemäldes vom Berliner Kongress. 1878 wurde während eines Monats eine Friedensordnung für Südosteuropa geschaffen. Bismarck mitten im Geschehen.

berliner kongress 1878 anton von werner wikipedia org hAnton von Werner: der Kongreß zu Berlin - Schlußsitzung am 13. Juli 1878. © Wikimedia.orDer rote Teppich der Diplomatie setzt sich auf der Bühne des Jungen Theater Basel fort. Die fünf Darsteller Katja Dreyer, Servane Ducorps, Martijn Groenendijk, Bruno Roubicek und Helmut van den Meersschaut sitzen dort auf ihren Überseekisten und plaudern in schwarzer Abendgarderobe (Ausstattung: Laurent Liefooghe).

Europa vor ausgestopftem Wildschwein

Sie sind sichtlich bemüht, den anderen nicht zu dominieren. Man führt Konversation, stellt sich vor, schnell einigt man sich auf Englisch zur Verständigung, so globalisiert ist man in Europa, das hier aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich, England und Deutschland besteht. Das Publikum des Theaterfestival Basel, wo Mitrovićs' in den Niederlanden produziertes Stück zu sehen ist, darf sich gut zwei Stunden am Spott der Europäer übereinander und der eigenen Neutralität erfreuen.

Schnell öffnet jeder die Kisten und packt Errungenschaften aus, auf die eine Nation eben so stolz ist. Was hier zutage kommt und einen Gabentisch für Europa vor einem ausgestopften Wildschwein bildet, sind die Dichtungen Shakespeares, Molières, Goethes, ein Fußballtrikot, wie es der Belgier Jean-Marie Pfaff 1986 im Tor des FC Bayern München getragen hat (ein Jahr später wurde er zum Welttorhüter des Jahres gewählt). Marlene Dietrich wird gegen Amy Winehouse ausgespielt, ihr früher Tod als Menetekel des englischen Gesundheitssystems genommen.

Europa im Privaten

Und man blättert für die anderen im Familienalbum, um sich seiner selbst zu vergewissern, aufzutrumpfen oder einfach das peinliche Schweigen zu überbrücken. Da zeigt Geert Vaes auf einem altmodischen Bildschirm im Reenactment, wie sein Großvater einmal eine Kuh über den Fluss geschmuggelt hat, Katja Dreyer wedelt mit Unterlagen, die beweisen sollen, dass ihr Großvater zwar einen Raketenmotor entworfen hat, aber keineswegs für die Nazis. Während Servane Ducorps offenbart, dass ihre Großmutter in einen deutschen Soldaten verliebt war und ein Kind von ihm bekam. Martijn Groenendijk hingegen kann seine Familie bis ins 16. Jahrhundert in den Niederlanden ansässig zurückverfolgen. Privates verbindet sich mit der großen Geschichte und wird durch Vorurteile und Klischees betrachtet.

crashcoursechitchat 560 stephanvanhesteren u"Crash Course Chit Chat" beim Theaterfestival Basel. © Stephan van Hesteren

Das peinliche Schweigen auskosten

"Crash Course. Chit Chat" ist ein Ventil der aktuellen Schuldenkrise. Es nimmt Dampf heraus. Das Lästern über all jene, die nicht auf der Bühne vertreten sind: die Griechen, Italiener (Berlusconi), Zigeuner, Juden und Pakistani, beschwört eine vermeintliche Einheit. Aber sollen wir das nicht, fordert nicht die Politik wie auch das Feuilleton ein, sich der kulturellen Einheit Europas zu vergewissern? Das kann schnell sehr hässlich werden.

Sanja Mitrovićs Stück legt die Betonung auf den ersten Teil des Titels, eine Plauderei ist dieser Crash Course nur am Rande. Man spricht miteinander in Ermangelung einer anderen Kriegstechnik. Da macht man auf Kosten der anderen Nation drastische Witze, Frankreich und England keilen sich gar am Boden, und Deutschland muss nackt Runde um Runde über die Bühne laufen und sich dabei als Nazi-Hure beschimpfen. Die Inszenierung ist dabei meist pointensicher. Sie ist komisch, weil es so ernst um dieses Europa steht, und sie sucht die Grenzüberschreitung zum schlechten Geschmack und kostet das darauf einsetzende Schweigen aus.

Wenn am Ende Europa oder ist es doch Belgien oder gar Geert Vaes zur Christusfigur verklärt wird, die ihre Jünger zum Abendmahl lädt, ist dies zwar ein schönes lebendes Bild, aber ob es sich – mitsamt dem damit angedeuteten Verrat – bewahrheiten wird? An Europa jedoch, so zeigt Sanja Mitrović, haben wir zu kauen.

 

Crash Course Chit Chat
In englischer Sprache
Konzept und Regie: Sanja Mitrovic, Bühne, Kostüme und Licht: Laurent Liefooghe, Dramaturgie: Maya van den Heuvel-Arad, Felix Ritter.
Mit: Katja Dreyer, Servane Ducorps, Martijn Groenendijk, Bruno Roubicek, Helmut Van den Meersschaut.

www.theaterfestival.ch 

 

Mehr zu Sanja Mitrovic: Mit Will you ever be happy again? gastierte sie 2009 beim Zürcher Theaterspektakel.

 

Kommentar schreiben