Act local, think global

7. September 2012. Ist Berlin in Sachen Theater der Nabel der Welt oder liegen das Hebbel am Ufer und die Volksbühne in der "Theater heute"- Kritikerumfrage, die gestern erschienen ist, auch deswegen so weit vorne, weil sechzehn der befragten 42 Kritiker aus Berlin stammen? Das jedenfalls überlegt eine Kritikerin. Mehr zu den Presse-Reaktionen hier.

"Selten konzentrierten sich Lob und Preis so ausschließlich auf drei Bühnen wie in diesem Jahr", schreibt Matthias Heine in der Welt (7.9.2012), "als wäre der Rest Deutschlands Theaterwüste". Der Trend zur Konzentration hätte sich schon beim Theatertreffen abgezeichnet. Dort stammten sechs von zehn eingeladenen Inszenierungen aus den drei Bühnen, die jetzt auch glänzten. "Die fünfköpfige Theatertreffenjury war für die Auswahl - wie jedes Jahr - angefeindet worden, weil sie vermeintlich diktatorisch ihren engen Theaterbegriff durchgesetzt hatte. Doch offenbar deckt sich ihre Sicht auf das Bühnenjahr mit derjenigen fast aller deutschen Kritiker."

Katrin Bettina Müller lässt sich in der taz (7.9.2012) davon nicht so leicht einlullen und sagt: "Nun legt die Berliner Dominanz nahe, einmal die Berliner unter den wählenden Kritikern zu zählen – tatsächlich mindestens 16 von 42. (Eine davon bin ich, in Vertretung der taz.) Ehrenhalber sei gesagt – nicht alle aus Berlin haben für die Berliner Häuser gestimmt, das HAU und die Volksbühne haben auch ein paar Stimmen von außerhalb bekommen." Trotzdem gelte für viele der Abstimmenden, dass man von den Theatern der eigenen Stadt wesentlich mehr gesehen hat als anderswo. "Die Möglichkeiten zum Vergleich, abends live im Theater, zum Reisen in andere Städte sind begrenzt, Zeit- und Geldmangel stehen dem im Weg. Das schränkt das Vertrauen in die Aussagekraft der Umfrage doch etwas ein." Missen möchte man sie dennoch nicht, sowenig wie das Theatertreffen. "Beide Instrumente helfen die lokalen Theaterszenen, ein wenig jedenfalls, ins Verhältnis zu setzen, sich über das Ausscheren aus dem bekannten Kreis von Namen zu freuen, aber auch Entwicklungen zu verfolgen. Act local, das ist im Theater einfach, das geht gar nicht anders, aber think global, dafür eben braucht es Zusatzkräfte."

"In Berlin geht alles" ist Peter Laudenbachs kurzer Kommentar in der Süddeutschen Zeitung (7.9.2012) übertitelt, der das Ergebnis als Resultat der Schwarmintelligenz bezeichnet, ohne groß zu fragen, wer da schwärmt. "Die gröbsten Ausreißer, Fehlurteile und Geschmacksverirrungen werden im besten Fall durch die geballte Schwarmintelligenz der 44 befragten Kritiker ausbalanciert. Bei der Wahl des 'Theaters des Jahres' liegt Berlin vorne: Platz 1 für Mattias Lilienthals Hebbel am Ufer, dicht gefolgt von Castorfs bei aller Dauerkrise immer wieder zu erstaunlichen Produktionen fähiger Volksbühne - beides Häuser der Extreme. In Berlin geht alles, nur kein wohltemperiertes Mittelmaß."

 

Kommentare  
Presse über die Kritikerumfrage: welche Schwarmintelligenz
Schwarmintelligenz? Wirklich, Peter Laudenbach? Ein Grüppchen von 44 Kritiker, von denen der größte Teil nur die Produktionen seines Wohnsitzes (erster Standortvorteil für Berlin) oder die zum Theatertreffen eingeladenen Produktionen verfolgt (zweiter Standortvorteil für Berlin) soll instinktiv das Beste des Theaterjahres küren. Die meisten der von "Theater heute" befragten Kritiker reisen doch kaum, was die Pressestellen der Stadttheater wissen. Interessant sind für mich auf dieser Liste deshalb nur vielsehende und -reisende Autoren wie Hartmut Krug oder Dirk Pilz und die Mitglieder der Theatertreffen-Jury. Peter Laudenbach gehört nicht dazu. Und was hat der schwarmintelligente Herr Laudenberg ausgewählt? Bestes deutschsprachiges Stück? Polleschs "Kill your Darlings" (aus Berlin). Beste Inszenierung und bestes Bühnenbild? Fritschs "Murmel Murmel" (Berlin). Bester Schauspieler? Wuttke als Platonov vom Burgtheater (war auf dem Berliner Theatertreffen zu sehen). Beste Schauspielerin? Barbara Nüsse als Ranjewskaja im "Kirschgarten" vom Thalia Hamburg - da ist der Peter mit dem ICE kurz hingefahren, sind ja nur 90 Minuten Fahrzeit. Bestes ausländisches Stück? Ist Laudenbach keines eingefallen, dabei gab es das Gewinnerstück "Three Kingdoms" doch als Gastspiel am Berliner DT zu sehen. So was. Interessant ist aber, wie heftig Laudenbach in "Tip" und "Süddeutsche" diese Liste feiert. Wie sagte Jacques Tati? "Es gäbe einen Weg, sämtliche Wirtschaftsprobleme zu lösen: man müßte die Selbstgefälligkeit steuerpflichtig machen."
Presse über die Kritikerumfrage: mit Gewinn
Mir gefallen solche Charts.
Nicht, weil ich "die Wahrheit" wissen will, sondern weil sie anregend sind. Man schmunzelt, wundert sich, fühlt sich bestätigt, wird für Neues interessiert...
Für andere Autorenzusammensetzungen (auch regional) kann man ja die Nachtkritik-Blogs lesen. Was ich ja auch gerne tue.
Presse über die Kritikerumfrage: Zustimmung
@1: Besten Dank für die ausführliche Analyse, zu der ich Zeit leider nicht habe, die ich aber bestechend finde. Zustimmung!
Presse über Kritikerumfrage: self fullfilling Kritiker
Bravo, Peter Beyer, für die gelungene Dekonstruktion des Herrn Laudenbach und der "Theater heute"-Liste. Die leistet sich einen Bärendienst damit, Kritiker wie P.L. zu befragen, die trotz beschränkter Kenntnis der Jahresproduktion deutschsprachiger Bühnen vor lauter Eitelkeit keine Skrupel haben, sich ein Urteil über das ganze Geschehen anzumaßen. Wieso werden eigentlich nicht nur ausgewiesene "Reisekritiker" befragt? Und wieso gibt es keine Shortlist, die diskutiert werden kann, so wie das Nachtkritik vorm Theatertreffen macht? Die "Theater heute"-Jahrescharts sind nur eine von Zufälligkeiten und örtlicher Dominanz ungerecht beeinflusste Liste, die nur deshalb funktioniert, weil die Medien (teilweise durch die selben Autoren, die als Befragte Teil der Liste sind) allein die Ergebnisse weitertragen, aber nicht zeigen, wie willkürlich diese zusammenkommen.
Kritikerumfrage: Marionetten der Eitelkeit
ja, pater und peter, so ist es. aber das weiß jeder seit langem. diese liste ist albern, noch alberner ist, dass die theater sie ernst nehmen. und ja, es sollten nur kritiker mitmachen dürfen, die wenigstens ab und zu aus ihrem nest rauskommen. aber das wären dann nicht viele, denn reisen kostet und reisekosten wollen bezahlt werden. übrigens machen ja auch nicht alle mit, und manche wahrscheinlich nur, weil sie bei theater heute ihre texte schreiben. blamiert hat sich damit theater heute - und alle theater, die das ernst nehmen. und naja wenn kritiker erst abstimmen und dann die liste hochjubeln - ist doch super, dann weiß man, was das für leute sind. die man halt nicht ernst nehmen muss, kaspar, marionetten ihrer eitelkeit. ist doch prima zu wissen. dafür muss man der liste schon wieder dankbar sein.
Kritikerumfrage: Eitelkeit versus besseres Wissen
Ja, es stimmt, dass nicht alle Kritiker mitmachen, und es ist gut zu wissen, dass einige diesem unsittlichen Angebot von "Theater heute" widerstehen. Etwas enttäsucht bin ich, dass so geschätzte Kritiker wie Dirk Pilz sich nicht zu schade sind, bei dieser Liste mitzumachen, immerhin ist er einer derjenigen, dem ich einen gewissen umfassenden Überblick zutraue. Aber wenn mehr Kritiker diese Liste boykotieren würden, würde deren Absurdität noch stärker ins Auge fallen. Aber bei den meisten siegt vermutlich die Eitelkeit über das bessere Wissen.
Kritikerumfrage: k/ein Problem
kritiker, die vinge/müller zur inszenierung des jahres wählen, und sebastian rudolph zum besten schauspieler des jahres, haben ein... oder kein problem.
Kritikerumfrage: Geht's noch, Lady Dada?
... ein kritiker aus karlsruhe wählte vinge/müller zur inszenierung des jahres, und das murmel murmel-ensemble zur besten schauspieler und schauspielerin des jahres. gehts noch, lady dada?
Kritikerumfrage: Wo sind die Geschmackssicheren?
das HAU und dörte lyssewski nennt ein kritiker, und eine kritikerin hat pollesch, stemann, castorf und fritsch! wo sind Sie, friedrich luft oder gerald ostermeier? machen Sie diesem wahnsinn ein ende! herr stadelmeier, Sie sind doch geschmackssicher, oder?
Kritikerumfrage: Liste persönlicher Eindrücke
Huch! Stemann und Castorf, wie kann er nur! Hinaus mit dem Pöbel aus der Stadt, aber wirklich! Da wird einem ja der Tee in der Kanne verrückt ...

Meine Güte, warum kann man die Liste nicht einfach als Aneinanderreihung persönlicher Eindrücke lesen, mit der man eben einverstanden ist oder nicht. Wo kommt denn da die Panik her und die Verzweiflung. Das ist doch lächerlich ...
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