Im multimedialen Kreuzverhör

von Charles Linsmayer

Bern, 6. Oktober 2012. Max Frischs Roman "Blaubart" ist ein auf einem realen Vorfall basierendes Dialog-Protokoll, das den mangels Beweisen vom Mord an seiner sechsten Frau Rosalinde freigesprochenen Felix Schad mit seinen hartnäckigen Befragungen auch lange nach dem Prozess noch verfolgt und ihn am Ende in den Selbstmord treibt. Um diesen spröden, um Schuld und Unschuld kreisenden Text herum hat der deutsche Regisseur Michael Simon ein Mehrsparten-Arrangement aufgebaut.

Es bezieht aufwändige Filmsequenzen, pantomimische Bilder, Ballett-Szenen, Chorkompositionen, Orchestermusik und Sopranlieder in ein Ganzes mit ein, das von dem Selbstunfall ausgeht, der Schaad am Ende das Leben kosten wird. Die Aufführung spult die Geschehnisse vom Unfallort aus auf einer die ganze Bühne einnehmenden Leinwand zurück bis zu den Ereignissen in Schaads Haus, die mit der Ermordung Rosalindes enden. Dieser teils filmische, teils pantomimische Teil dauert 35 Minuten und wird aus dem Orchestergraben musikalisch mit Franz Schrekers "Kammersinfonie" von 1916 unterlegt. Eine expressive, transparente Interpretation des Berner Symphonieorchesters unter Sébastien Rouland, die es eigentlich nicht verdient, zur bloßen Begleitmusik degradiert zu werden.

Kammerstück mit sieben Ehefrauen
Nach der Pause schlägt dann die Stunde des Schauspiels, das zur Hauptsache vor dem Vorhang über dem nun wieder zugedeckten Orchestergraben stattfindet. Der Staatsanwalt, nervig und unbarmherzig-autoritär gespielt von Henriette Cejpek, sucht den zunehmend genervten, immer unsicherer werdenden Felix Schaad mit seinen Fragen in die Enge zu treiben und empfängt in seiner Anwesenheit sämtliche Zeugen inklusive die sechs noch lebenden und die tote Ehefrau zum Verhör.

blaubart 560 philippzinniker uStéphane Maeder als Felix Schaad in "Blaubart" © Philipp Zinniker

Stéphane Maeder vermag als Felix Schaad sowohl die Nonchalance des mit Billard, Sauna und Wandern gegen den Verfolgungswahn Ankämpfenden als auch die allmähliche Resignation des von der Gesellschaft Geächteten umzusetzen und macht aus der Rolle die einzige wirklich glaubwürdige, menschlich anrührende Figur der Inszenierung. Die sämtlichen Zeuginnen, die Milva Stark verkörpert, gehören dagegen eher ins typisierend-komödiantische Fach, haben aber immerhin den Vorteil, den an sich schwer lastenden Abend humoristisch etwas aufzuhellen. Jedenfalls stellt Milva Stark ihre Wandlungsfähigkeit bei jeder Figur wieder neu unter Beweis: als tantenhaft-spießige, sich krampfhaft an ihre Handtasche festklammernde Putzfrau, als kesse blonde Praxishilfe, die Morgenluft wittert, als mit ihren Reizen auftrumpfende Kellnerin und als verschüchterte, hochgradig depressive Tochter, deren mitleiderregendes Schluchzen und Heulen direkt in das von Claude Eichenberger gesungene  "Im Treibhaus" aus Richard Wagners Wesendonck Liedern übergeht.

Der witzige Reigen geht dann weiter mit der zickig-clownesken, ständig kichernden Ehefrau Lilian, der Popcorn spuckenden Gattin Gisela, der neurotisch-überdrehten Frau Jetzer, dem hysterisch schreienden Blaustrumpf Corinne, der mannstollen Andrea, die Schaad gleich wieder zu verführen beginnt, und der Noch-Ehefrau Jutta, die sich jovial-fürsorglich gibt, obwohl sie bereits wieder woanders angedockt hat. Das Kammerstück mit den sieben Ehefrauen wird ausgeweitet durch pantomimische Szenen in den drei Etagen des die ganze Bühne einnehmenden Schaad'schen Hauses und durch die musikalischen Einlagen, die nicht in jedem Fall plausibel mit der Handlung verbunden sind.

Eher aneinanderreihend als verknüpfend
So eignet sich etwa Arthur Honeggers "Cantique de Pâques", auch wenn er in ein Halleluja mündet, durchaus als tröstlicher Abschluss nach Schaads Tod, und als Äquivalent zur Irritation der Tochter wirkt auch das Wesendonck Lied "Im Treibhaus" nicht deplatziert. Dass es aber nochmals gesungen wird, als die Psychiaterin Schaad, der ihr einen Traum erzählt hat, fragt: "Und was geschah dann?", vermag keineswegs zu überzeugen. Was allerdings nicht heißen will, dass man als Zuhörer die wundervolle Interpretation der Sopranistin Claude Eichenberger nicht liebend gerne noch ein zweites Mal gehört hat. Auch der Theater-Frauenchor, der Honeggers "Cantique" intonierte, überzeugte mit gesanglicher und interpretatorischer Qualität.

Was Michael Simon mit den vier Sparten des Berner Theaters angestrebt hat, ist jedenfalls in den musikalischen, aber auch schauspielerischen Einzelteilen überzeugender und geglückter als in der Verbindung zu einem Ganzen, das den Eindruck von etwas Gewolltem nicht restlos loszuwerden vermag und das in seiner eher anreihenden denn verknüpfenden Abfolge die spielerische Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit von Christoph Marthalers vergleichbaren Produktionen nur in Ansätzen erreicht.

Blaubart
nach dem Roman von Max Frisch Bearbeitung: Karla Mäder, Michael Simon
Mit Kompositionen von Richard Wagner, Franz Schreker, Krzysztof Penderecki und Arthur Honegger
Musikalische Leitung: Sébastien Rouland, Regie: Michael Simon, Choreographie: Nicola Gründel, Kostüme: Anna Eiermann, Video: Chris Ziegler.
Mit: Stéphane Maeder, Henriette Cejpek, Milva Stark, Irene Andreetto, Claude Eichenberger, Orchester Berner Symphonieorchester, Damenchor des Stadttheaters Bern.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.konzerttheaterbern.ch



Kritikenrundschau

"Die schwüle Atmosphäre, die Bilder packen – meist. Manches ist auch etwas übertrieben", urteilt Alfred Zimmerlin in der Neuen Zürcher Zeitung (8.10.2012) über dieses "Mehrsparten-Spektakel". Frischs Geschichte werde von den Symphonikern "mit fein ausbalancierten, ineinanderfliessenden Farbmischungen interpretiert"; die Tanzauftritte wirkten "aufs Ganze doch etwas marginal". Alles in allem sei dieser "Blaubart"-Abend "eine überwältigend bilderreiche postmoderne Show, die einen bei der Stange hält und die das Premierenpublikum begeisterte. Und er ist ein Anfang für das, was vielleicht ein eigenständiger Berner Weg sein könnte."

Simon akzentuiere in seiner Romanumsetzung die "vertrackte Beziehung des Mannes zum weiblichen Geschlecht", schreibt Anne-Sophie Scholl in der Berner Zeitung (8.10.2012). "Doch Liebesschmerz ist bei Frisch nur am Rand Thema. Die Fragen des Staatsanwalts drängen Schaad im Text in einen Strudel der Suche nach existenzieller Wahrheit, die sich in der Grammatik der Rechtsprechung entzieht." Bei Frisch gehe es um "große Themen: das Bild der anderen und die persönliche Identität." Die Bühne wähle hingegen die Motive aus, die sich "effektvoll inszenieren" lassen: Liebe und Tod. "Doch damit verpufft die gesellschaftliche Stoßkraft der Vorlage."

Kommentar schreiben