Die Unsterblichkeitskuppel

11. Oktober 2012. "Wir werden ihn nicht als Täter und Verbrecher zu sehen bekommen, sondern als Visionär, als den Theoretiker seiner eigenen Tat", schreibt Peter Kümmel in der heutigen Ausgabe der "Zeit". Ihn – Anders Breivik, dessen manifestartige Rede vor dem Osloer Amtsgericht gleich zwei Theatermacher, in Deutschland Milo Rau, in Dänemark Christian Lollike, dieser Tage als Bühnenstück interpretieren.

"Rau und Lollike wollen der Allgemeinheit zu Gehör bringen, was der Massenmörder denkt", schreibt Kümmel. Aber so verschafften sie ihm den Status und die Ehre eines allwissenden Erzählers. Dieser Breivik werde sich auf der Bühne nicht durch Taten erniedrigen und verraten; "er bleibt ganz Denker". Eigentlich interessierten sich sowohl Lollike als auch Rau nicht für die Frage, warum Breivik getötet habe, sondern dafür, warum all die anderen nicht töten. "70 Prozent der Deutschen, 80 Prozent der Schweizer, sagt Rau, hätten Ansichten, die denen von Breivik ähnelten."

Die moderne, "aufgeklärte" Gesellschaft scheine um einen Abgrund herum gebaut zu sein; es herrsche in ihr die tiefe Angst, dass sie ihr wahres Gesicht womöglich selbst nicht kenne. "Mit dieser Angst arbeiten Rau und Lollike. Dass sie es im Theater tun, ist durchaus einleuchtend." Denn das moderne Theater sei ein exemplarischer Ort des Zweifels. "Es lebt mit dem Verdacht, dass sich in der Beziehung zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer etwas Grundlegendes geändert hat; dass nämlich der Zuschauer im Saal sich heute mehr verstellt als der Schauspieler auf der Bühne." Der Zuschauer zügele sich, bleibe unlesbar, tue so, als wäre es unsichtbar. "Der Schauspieler verhält sich ungezwungen, ungezügelt, lässt sich gehen."

Wenn nun Lollike und Rau Breiviks Text einem Publikum vorsprechen ließen, stehe dahinter auch die Frage: Wie wird es reagieren? "Lollikes und Raus Verdacht ist: Die Masse der Bürger müsste sich zu Breiviks Aussagen bekennen, wenn sie ehrlich wäre." Die Gesellschaft gehe mit Breivik um wie mit einem, dem die Bühne gehöre, weil er das machtvollste Argument vorgelegt habe, "anders gesagt: weil er überlebt hat". Seine Tat werde, da sie legendär schon sei, nun auch noch Kunst. Und Breivik zum Subjekt und Objekt der Kunst. Die Unsterblichkeitskuppel überwölbe ihn schon jetzt. "Für die Angehörigen seiner Opfer, und nicht nur für die, ist das schwer zu ertragen."

Hätte er nicht gemordet, so Kümmel, kein Mensch würde sich um seine Texte kümmern. Das Schlimmste an den Bildern aus dem Osloer Gerichtssaal sei immer gewesen: "Breivik erschien auf ihnen wie der einzige, der mit sich im Reinen ist – ein Mann, der bis zum Schluss autark gehandelt hat, ein freier Skandinavier, Autor und Vollstrecker seiner Entschlüsse." Nun habe er auch das letzte noch geschafft: "Seine Texte werden aufgeführt. Man wird sie hören – in Kopenhagen, Arhus, Oslo, Weimar, Berlin."

(sd)

Mehr zum Thema: Im Interview mit der Frankfurter Rundschau erläuterte Milo Rau Ende September seine Beweggründe für das Breivik-Reenactment, das er am 19. Oktober in Weimar auf die Bühne bringt – hier die Presseschau.

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