Europäischer Common Sense

von Christian Baron

Weimar, 19. Oktober 2012. Für den Kritiker wird es sofort grundsätzlich: Sollte man sich einer szenischen Lesung der Verteidigungsrede des Massenmörders Anders B. Breivik mit ästhetischen Kategorien nähern? Freunden des leicht verkürzten moralischen Zeigefingers verbietet sich dies natürlich. Wer aber einen kühlen Kopf bewahrt, kommt daran nicht vorbei. Zumal Regisseur Milo Rau und Darstellerin Sascha Ö. Soydan den künstlerischen Charakter dieses nun in Weimar uraufgeführten Textes ausdrücklich betonen. So sei es vorweg gesagt: Das Experiment ist vollends geglückt, Soydan hat den inhaltlich kruden und literarisch grottenschlechten Text sachlich, aber nicht ohne Haltung vorgetragen und durch ihren bedächtigen Stil den Zuhörern viel Raum für eigene Gedanken gewährt.

breivik 280h thomasmueller uDie Schauspielerin Sascha Ö. Soydan
© Thomas Müller

Heikles Vorhaben

Das mit dem kühlen Kopf ist in diesem Fall ja so eine Sache. Der Rechtsradikale Breivik, der im Juli 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, verlas im April 2012 unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Osloer Gericht jenes einstündige Statement, in dem er seine angeblich politischen Tatmotive ausführlich darlegte. Es fällt schwer, das emotionslos zu analysieren. Umso heikler ist das Vorhaben Milo Raus, sein Projekt als Teil des szenischen Kongresses "Power and Dissent" umzusetzen, der an diesem Wochenende am Nationaltheater Weimar wissenschaftlich-künstlerisch die Funktionsweise und ästhetische Darstellbarkeit von Staatsmacht erkunden möchte.

Zwei Tage vor der Aufführung hatte sich das Weimarer Theater urplötzlich dazu entschlossen, "Breiviks Erklärung" in den eigenen Räumen zu verbieten. Nur der kurzfristigen Bereitschaft des benachbarten Lichthaus-Kinos ist es zu verdanken, dass die Veranstaltung stattfinden konnte. Fakt jedoch ist: Raus Inszenierung (für die er dieses Wort eigentlich nicht verwenden möchte) ist ein hervorragendes Diskussionsangebot und verstört vor allem durch das den bloßen Text ins Zentrum rückende Spiel mit dem Minimalismus.

Die Maske des Dämons entreißen

Vor einer improvisierten Holzlamellenwand spricht die deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan in die laufende Kamera, mit nüchtern anmutender Intonation sowie durch kleine szenische Elemente wie manch versiert eingesetztes Lächeln oder Kaugummikauen reserviert und zugleich frei von jeder Ironie. Damit ist bestmöglich prononciert, wie stark sich die Agierenden selbst von dem Inhalt distanzieren. Es gelingt, diesem in fast allen Medien und letztlich auch durch das Gericht als wahnsinnig abgestempelten Breivik die Maske des Dämons zu entreißen und dahinter den fanatischen Antikommunisten hervorscheinen zu lassen, der unser aller Mitte entstammt.

Als hätte sie schon vorher geahnt, wo mancher Zuschauer innerlich erschrecken mag, legt die Protagonistin an besonders prägnanten Punkten vielsagende Pausen ein; es sind meist Sentenzen, die deutschen Ohren nur zu bekannt vorkommen müssen. Da prangert der Text etwa den "Kulturmarxismus" an und behauptet, in Europa gäbe es "keine Demokratie" mehr, weil Nationalisten, die den "schädlichen Multikulturalismus" ablehnen, "für Verbrechen büßen müssen, die lange vor ihrer Geburt geschehen sind". Hierzulande kennt man das als "Schlussstrich-Debatte". Das schrille Geheul der Westerwelle-FDP wird einem wiederum in Erinnerung gerufen, wenn davon die Rede ist, dass die Europäer aufgrund ihrer sozialstaatlichen Dekadenz längst im Sozialismus lebten. Im anschließenden Versuch, nachzuweisen, wie stark die vermeintliche Islamisierung Europas voranschreitet und dass sich die "Völker Europas" bald "fremd im eigenen Land" fühlen müssten, wird schnell klar: Roland Koch oder Edmund Stoiber hätten es in ihren umjubelten Bierzeltreden kaum anders ausgedrückt.

Als salonfähig entlarvt

Es sind Passagen, die belegen, dass es noch nicht einmal das Sarrazin-Buch gebraucht hätte, um zu erkennen, wie sehr die Grundelemente von Breiviks chaotischem Gedankenkonstrukt im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung verankert sind. Auch bei zwei der drei NSU-Terroristen handelt es sich um saturierte Akademiker-Sprösslinge. Außerdem, so lässt sich ohne große Geistesblitze logisch folgern, wenn ein so großer Anteil der menschenverachtenden Gedanken Breiviks auch von vielen aus dem nicht terroristisch gesinnten Bildungsbürgertum geteilt wird, dann ist es zunächst einmal völlig egal, ob der Text aus der Feder eines Klosterschülers oder eines Mörders stammt.

Freilich gewinnen die Thesen erst dadurch, dass Breivik der Autor ist, eine besondere Brisanz, auf die sich wiederum unterschiedlich reagieren lässt: Entweder (wie geschehen) wird Breivik offiziell für unzurechnungsfähig erklärt und sein Text totgeschwiegen. Oder aber (und dafür ist Rau gar nicht genug zu danken) er wird als politischer Täter ernst genommen, die kruden Thesen als salonfähig entlarvt und durch eine szenische Lesung der öffentlichen Debatte zugeführt. Auch wenn das Deutsche Nationaltheater Weimar diese Debatte verhindern wollte, bleibt am Ende doch die Erkenntnis: Dieser Abend hat gezeigt, wie wichtig die Konfrontation damit ist.

 

Breiviks Erklärung
Öffentlicher Filmdreh des IIPM – International Institute of Political Murder
Konzept und Regie: Milo Rau, Recherche: Tobias Rentzsch, Ausstattung: Anton Lukas, Video: Markus Tomsche, Ton: Jens Baudisch.
Mit: Sascha Ö. Soydan.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause.

international-institute.de
www.nationaltheater-weimar.de

 

 Alles über Milo Rau auf nachtkritik.de im Lexikon.

Kritikenrundschau

Henryk Goldberg schreibt auf thueringer-allgemeine.de, der Online-Seite der Thüringer Allgemeinen (22.10.2012), "Breiviks Erklärung" sei kein Skandal. "Eigentlich" sei dieser Abend "unerträglich langweilig". Es handele sich um das Dokument eines "eklektizistisch zusammengeschraubten Weltbilds", in dem sich der Massenmörder als Freiheitskämpfer geriere. Milo Rau böte eine "seriöse, minimalistische Inszenierung", in der die deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan die "größtmögliche Distanz" repräsentiere. Sie halte den Text "gleichsam hoch", stelle ihn aus, abstrahiere von der Person Breivik und immer wenn ein Satz "mehrheitsfähig" scheine, mache sie eine kleine Pause und werfe einen "um Komplizenschaft" werbenden Blick ins Publikum. "Nicht der Text im Ganzen, aber einzelne Haltungen, die Angst vor "Überfremdung", die "Islamphobie", seien "durchaus konsensfähig in der Mitte der europäischen Gesellschaften" vermutet Goldberg. Das mache diese bürgerliche Mitte "nicht anfällig für Massenmord und Lynchjustiz", zeige jedoch, "ins Monströse projiziert, das Potenzial solchen Denkens, wenn es seine bürgerliche Konditionierung verliert". Die Konsequenz daraus könne "nur die Debatte über diese Ängste sein, nicht ihre Verteufelung".

Ganz anders argumentiert Wolfgang Hirsch auf tlz.de, dem Online-Portal der Thüringischen Landeszeitung (22.10.2012): er hält "Breiviks Erklärung" für eine "Perversion des Theaters". Milo Rau behaupte zwar, man müsse sich mit den "Inhalten" dieses "nicht guten", jedoch "faszinierenden" Textes "auseinandersetzen", doch bedürfe es nicht einmal "durchschnittlichen Verstandes, um den in sich widersprüchlichen, ideologisch verblendeten Breivik-Stuss" als solchen zu identifizieren". Mit dem Massenmörder, der sich auf "Völkerrecht" und "Menschenrechte" berufe, in eine "paranoide Komplizenschaft einzutreten und seinen kruden Gedanken ein Forum - zudem eines der Kunst - zu bieten", lasse sich auch nicht mit "einem radikalaufklärerischen Impetus" entschuldigen. Die Inszenierung sei eine "Beleidigung des Publikums" und mache die Schauspielerin Soydan zu einem "allerdings freiwilligen – Missbrauchsopfer". Milo Raus "geistige Libertinage" huldige einem "selbstzweckhaften Positivismus" und nehme eine "Verletzung des naturrechtlichen Fundaments, auf dem abendländische Civitas nach unserem philosophischen Verständnis gründet", lässig in Kauf. Aus solch einer Haltung spreche, wenn man sie "aus der Warte der Breivik-Opfer" betrachte: "die kalte Menschenverachtung".

Wiederum anders argumentiert Dirk Pilz in den Feuilletons des Dumont-Konzerns Frankfurter Rundschau (wir zitieren hier aus der längeren FR-Fassung) und der Berliner Zeitung (22.10.2012): Er versucht "Breiviks Erklärung" in den Kontext des Kongresses "Power and Dissent", kuratiert von Milo Rau, einzuordnen. In Vorträgen und Podiumsgesprächen sei es um die Frage gegangen, "wie sich staatliche Macht manifestiert, wie sich Kunst und Dissidenz zueinander verhalten und was es heute heißt, politische Strategien in der Ästhetik zu verfolgen". Pilz beschäftigt sich auch noch einmal mit der Absage des Nationaltheaters an Rau, den Text im E-Werk lesen zu lassen. Pilz hält es für skandalös, dass der geschäftsführende "Interimsleiter" glaube, "über einen Theaterabend urteilen zu können (und müssen), ohne auch nur eine Probe oder die Premiere gesehen zu haben. Dass er den Text schon für das Theater hält." Die Ahnungslosigkeit paare sich hier mit der "Angst vor der Kraft, die Breiviks Text auf einer Bühne gewinnen" könne. Dabei passiert genau das Gegenteil. Durch die Lesung werde der Massenmörder weder "dämonisiert" noch "erklärt". Man erkenne, dass der Text ein geschlossenes rassistisches Denksystem bediene. "Erst durch diese Theaterlesung wird hörbar, dass der Text ressentimentgeladene Elemente zu einem Konvolut kombiniert, das auf große Zustimmung spekuliert", der Topos von der "Fremdheit im eigenen Land" etwa sei "weit verbreitet", die "Rede vom Glaubensverlust an die Demokratie fast Allgemeingut". "Erst die Verlegung der Rede auf die Bühne ermöglicht es, zu diesen bekannten Befunden kritische Distanz herzustellen." Das sei "Provokation im Wortsinne": "Herausforderung zum Einspruch, zur politischen Auseinandersetzung".

"Man hatte gedacht, es schlau zu machen, indem man den Text von einer Akteurin sprechen ließ, deren Figur so weit wie denkbar von dem norwegischen Unhold entfernt wäre: der jungen Deutschtürkin Sascha Soydan", erläutert Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung (22.10.2012). Aber gerade der Kaugummi, den sie kauen musste, habe die Situation kippen lassen: "Er war eindeutig ein Requisit, und als solches zog er das Event von der Lesung zum Drama hinüber. Zwar war er als Zeichen der Distanzierung kaum misszuverstehen; doch damit schuf er eine Rolle und verhalf der Figur zu gewaltiger Präsenz, einer Präsenz von Pein und Arroganz." Als Lesestück hätte der Text einschläfernd gewirkt – über Breivik in Oslo wäre man entsetzt gewesen. "Wenn aber Frau Soydan wiederholt vom Blatt aufblickte, auf der Stirn die Qual des Rechthabers, und ins Publikum rief 'Ist das denn so schwer zu verstehen?' "- habe jeder im Saal die "künstlerische Leistung" erlebt. "Frau Soydan erledigte ihre Sache schlecht, indem sie sie so gut machte." Am Schluss sei unschlüssiger Applaus erklungen, der "die Schauspielerin ehren wollte ohne ihren Part zu billigen. Das geht nicht."

Die Aufführung der Breivik-Rede im Vortrag der "attraktiven, supercoolen, streetwisen und unerreichbaren Tochter türkischer Migranten" Sascha Soydan "schmerzt", berichtet Detlef Kuhlbrodt von der tageszeitung (23.10.2012) aus Weimar. "Der Text schmerzt, nicht so sehr im Einzelnen, in den Passagen, die tatsächlich anschlussfähig sein mögen, nicht nur an einen rechten Diskurs, Sarrazin, Islamophobiker und Islamisten, sondern auch an linke Zitate" (der Kritiker fühlt sich etwa an Wendungen aus einem Song von "Ton Steine Scherben" erinnert). Er schmerze im Vortrag, weil "er eine Wunde wieder aufreißt", die Zeitungen wie der Spiegel längst als vernarbt ansehen, wenn sie argumentieren, in Sachen Breivik gebe es keinen "größeren Nachholbedarf" mehr. "Man hatte das Gefühl, nicht nur bei, sondern auch Teil einer obszönen Veranstaltung gewesen zu sein, von der man sich in Wortmeldungen distanzieren zu müssen meinte, wenn etwa gesagt wurde, dies sei kein guter Text, oder es sei zwar rhetorisch ein guter Text, 'aber nicht erste Liga' gewesen."

Im Zusammenhang eines längeren Porträts des Reenactment-Theaters von Milo Rau schreibt Christine Wahl vom Tagesspiegel (27.10.2012) über "Breiviks Erklärung": "Was an dem Abend tatsächlich stattfindet, ist nicht nur eine Entdämonisierung, sondern auch eine gezielte Enttheatralisierung Breiviks: Rau und Soydan tragen die vertrauten Medienbilder vom Massenmörder und dessen Selbstinszenierung ab und legen die Architektur eines rassistischen Gedankengebäudes offen, dessen Anschlussfähigkeit an mehr oder weniger etablierte rechtsnationale Diskurse eine demokratische Gesellschaft analytisch aufarbeiten sollte, statt sie zu verdrängen."

"Breivik weg zu inszenieren", wie es Milo Raus Anspruch war, sei "ihm, natürlich, nicht gelungen", schreibt Michael Helbing im Freitag (26.10.2012). Er "hat ihn nicht weg, er hat die vermeintlich schweigende Masse gleichsam hinzu inszeniert". Sie spreche aus der Vortragenden Soydan, "die den Text bis zur Hälfte Kaugummi kauend und in Gänze betont sachlich vorträgt, woraus sich fast wie von selbst eine kühle, spöttische Überlegenheit herstellt". Mit der Aufführung der Rede begebe man sich im Ganzen in ein "klassisches Dilemma: Das Theater, das den Skandal vermeiden will, beschwört ihn damit erst herauf. Gibt man Breivik ein Podium, gibt man ihm recht. Gibt man „Breivik" keines, auch."

 

Kommentare  
Breivik, Weimar: Tendenz im Stadttheater
Was ein Versatzstück unserer Zeit. Den Künstler Milo Rau, mit einem gelungenem (!) Diskurs, vor die Tür zu setzen, steht für eine Tendenz im deutschen Stadttheater, sich jeder realen Auseinandersetzung zu verweigern und in eine unerträgliche Gefälligkeit abzudriften. Dem Haus sollte die Förderung für diese Spielzeit nachträglich gekürzt werden (gleich mal Milo Rau für sein nächtes Projekt geben, bitte) wegen totalem Versagen an der Kunstfront. Und das in Weimar, wo doch Buchenwald über den Berg ruft...
Breivik, Weimar: das Mindeste
Liebe marlne s.,

ich fordere einen like-button für ihren Kommentar. - Man sieht da auf dem Photo von Nachtkritik eine ehemalige Schauspielerin des Hamburger Schauspielhauses, die sogar mal Nachwuchsschauspielerin des Jahres war. Nicht zufälligerweise hat sie einen sogenannten "Hintergrund". Es geht ja nicht nur um die Regie, die Idee... es geht auch um die Spieler und Spielerinnen...., ....auch die wurden ausgeladen. Da ist eine offizielle Kürzung das Mindeste,...und gleich umverteilen auf andere Strukturen, die wichtiger sind.
Breivik, Weimar: vorauseilende Selbstzensur
Das ist wirklich extrem peinlich. Man fragt sich, ob es da politische Zensur gab oder ob es vorrauseilende Selbstzensur ist...Eine echte Chance für eine Provinzbühne und dann vollkommen vermasselt. Von so was erholt sich eine INtendanz nicht mehr!
Fl
Breivik, Weimar: tststs
Lieber Herr Baucks,
ein Intendant macht einen Fehler und Sie rufen nach dem Staat...
Tststs...
Breivik, Weimanr: Miteinander reden in Kinosälen
Richtig, Marlene S. Ich stimme ihnen bei. Solche "Nationaltheater" sind eben in der Tat zu schliessen - kleine Zellen wie jene von Milo Rau sind zu gründen - und die Gelder sind diesen Häusern wegzunehmen, und umzuleiten in die Milo Rau'schen Zellen. Da schaut mehr Erkenntnis raus - schon nur mit einer kleinen feinen Lesung ( eines furchtbaren Textes ) wird da mehr Wert geschöpft als mit 100 dieser illusionististischen Bühnenbauten. Und geredet wird, das ist wichtig. Wir müssen miteinander reden. Von mir aus dann in engen Kinosälen.
Breiviks Erklärung, Weimar: auf Bildzeitung-Niveau gelandet
Weder war die stimmungsvoll geleuchtete schülerhafte Lesung auch nur im Geringsten eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Phänomen Breivik, noch ein Anfang davon. Wir sehen vielmehr, wohin dieser hastige und unreflektierte Umgang mit so einem Text führt: jetzt sagt doch Herr Baron wirklich, man solle Breivik als politischen Täter ernst nehmen. Das ist entweder eine Forderung der Rechtsradikalen, der Fundamentalisten oder es ist einfach nur dumm. Dankbar dafür ist doch vor allem einer: Breivik, der genau das ja will!
Ernst nehmen muss man Breivik, aber vor allem als gesellschaftliches Phänomen, als komplexes Problem einer (post)demokratischen Gesellschaft, die im Falle von Norwegen eine starke Neigung zur Konsensgesellschaft hat. In der Hysterie, die hier sichtbar wird, passieren doch nur voreilige Verortungen, die nur en masse vorschnelle Rationalisierungen hervorbringen. Deshalb verstehe ich auch nicht, was das auf diesem Kongress zu suchen hatte – wo es um die Unterdrückung von politischen Äußerungen in der Kunst gehen sollte (dass durch die populistische Hereinnahme dieser Aktion das eigentliche Kongressthema überdeckt würde, war wahrscheinlich Milo Rau vorher auch schon klar?)
Mit diesem von Klischees und Pauschalisierungen strotzenden Text von Baron landet ihr hier ebenso bei BILDZEITUNG wie Rau mit seiner spekulativen Hereinnahme der in seiner Durchführung beklemmend hilflosen Breivik-Verlesung auch.
Ist eigentlich alles nur noch medialer Rausch: Staub aufwirbeln um jeden Preis. Alles nur noch eine allumfassende Werbekampagne mit viel heißer Luft. Ich bin überzeugt, dass wir auf diese Weise jede wirklich profunde Auseinandersetzung mit den Phänomenen eines neuen Rechtsradikalismus ebenso verfehlen wie ein ernsthaftes politisches Handeln. Und wirkliche Kunst hat in einer derartig kopflosen Betriebsamkeit schon gar keinen Ort mehr.

----
Breivik, Weimar: Auseinandersetzung muss geführt werden
@ 7:
Damit sind wir aber ganz bestimmt nicht im Bildzeitungsniveau angekommen. Nein, jetzt bekommt das Ganze sogar erst eine wirklich politische Dimension, wenn gesagt wird, man muss Breivik als politischen Täter ernst nehmen. Das ist sicher ungeschickt formuliert, greift aber die Debatte wieder auf, die schon in den 70er Jahren um die RAF geführt wurde, die ja auch einen politischen Kampf führen wollte und deren Häftlinge sich als politische Gefangene des Staates sahen, den sie bekämpft haben. Das im Kontext mit Dissidententum zu diskutieren, ist zwar provokativ, aber man könnte z.B. so die Unterschiede herausarbeiten, die in einer sogenannten offenen Gesellschaft zu einer Radikalisierung führen können. Ich will damit natürlich nicht pauschal Linksradikalismus mit Rechtsradikalismus in einen Topf werfen, oder gar direkt mit Dissidententum in Zusammenhang bringen. Es geht ja auch eher um die Reaktionen (in diesem Fall Gerichtsprozesse) des jeweiligen Staates auf solche gesellschaftlichen Erscheinungen. Und da konnte gar nichts Besseres passieren, als die Tatsache, dass sich das Theater in Weimar von der Performance distanziert hat. Das zeigt ja nur die panische Hilflosigkeit, mit der zur Zeit auch im Fall des NSU, der Staat auf eigene Versäumnisse reagiert. Erst Verharmlosung dann Schlamperei und nun hektische Betriebsamkeit. Hier sind nicht die Performer Schuld oder sogar kopflos, sondern eher der Staat und die Gesellschaft, die nach wie vor nicht glauben wollen, dass es solch radikale Gedanken im Volk gibt, obwohl sie sich sogar mit einigen Thesen von Politikern aus den eignen Reihen decken. Da distanziert man sich lieber ganz schnell, als sich damit auseinander zu setzen. Und wenn das die Politik nicht tut, dann machen es zwangsläufig die Medien. Da ist es mir lieber, dass sich ein paar politisch intellektuell Köpfe aus dem Bereich der Kunst damit befassen, und das Feld nicht ganz den Polemikern und Extremisten überlassen.
Breivik, Weimar: Anteil am Schweigen
eine inszenierung / bearbeitung / lesung wird im spielplan angekündigt = von langer hand geplant. warum entscheidet sich eine dramaturgie für einen stoff und dann doch nicht? ist das vorliegende material nicht hinreichend bekannt? ist die dramaturgie außerstande ihr eigenes material zu bearbeiten? wer vertritt das haus aus künstlerische leitung / mitarbeit in der produktion?

kurz vor der aufführung wird die aufführung durch "die leitung des theaters" gestoppt. wie schon bei der letzten untersagung, wird der regisseur mit namen genannt = wie ein idiot vorgeführt, nicht so der leiter des theaters

mantraartig werden die gäste der stadt weimar auf literische persönlichkeiten hingewiesen, die vor ort gelebt, gewirkt haben. dass ein gewisser a. hitler vom balkon des hotel elephant die massen erfreute, wird erwartungsgemäß verschwiegen. das theater weimar hat seinen anteil an diesem schweigen
Breivik, Weimar: Rummel um Geistesgestörten
@stefan: wenn breivig jetzt schon mit der RAF verglichen wird, dann wird es allerhöchste zeit, den rummel um diese geistesgestörte einzelperson einzustellen. da sieht man zu welchen warnehmungsverschiebungen das führt, wenn man einem menschen zuarbeitet, der völlig alleine ein feiges blutbad anrichtet, weil er damit unsterblich berühmt werden will. das theaterstück gehört zu den details seines ruhms, den er sich vor der tat schon vor seinem geistigen auge ausgemalt hat. da arbeiten dann spiegel und theater hand in hand, weil alle davon profitieren: es gibt eine riesen aufmerksamkeit, ohne viel mühe. und damit wird nun doch erst das feld dem extremisten überlassen. was ist denn bitte an raus inszenierung intellektuell? den unterschied zur RAF mus ich ihnen nun hoffentlich nicht noch erklären, dieser mensch hat doch einfach überhaupt keine politische relevanz.
Breiviks Erklärung, Weimar: radikalisiert
@9: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie dafür plädieren, den Komplex "Breivik" vollständig aus der öffentlichen Diskussion zu streichen?

Sollte auch die Diskussion nicht geführt werden, ob diese Person "politische Relevanz" hat oder nicht?
Ob sie eine "geistesgestörte Einzelperson" ist oder bestimmte Vorstellungen in bestimmten Teilen der Gesellschaft so radikalisiert, dass sie sichtbar werden?
110 gewaltbereite Rechtsextreme leben laut Innenminister Friedrich im Untergrund.
Wie viele Deutsche haben "Deutschland schafft sich ab" gekauft?
Breiviks Erklärung, Weimar: breiteste Zustimmung
@9: Nebenschauplatz.

Die Unterschiede zwischen RAF und Breivik müssen Sie uns nicht erklären.
Müssten aber nicht Sie sich die Gemeinsamkeiten erklären?
1. Beide lehnen den Rechtsstaat ab.
2. Beide sind bereit, ihn mit gewaltsamen Mitteln zu bekämpfen.
3. Beide wollen ein Fanal für Veränderung der Gesellschaft setzen.
4. Beide bedienen sich des Mittels des Mordes, um sich Gehör zu verschaffen.
5. Beide behaupten, Terror mit Terror beantworten zu müssen.

Als Claus Peymann im Frühjahr 1977 Ulrike Meinhofs "Bambule" in Stuttgart herausbringen wollte, wurde ihm das mehr oder weniger untersagt. Buback war gerade ermordet worden.
35 Jahre später also dasselbe Spiel der Entmündigung des Publikums, nur mit vertauschen Rollen?

Verstehen Sie uns nicht falsch: Es geht nicht darum, nationalistischer und rassistischer Propaganda eine Werbeplattform zu bieten.
Es geht darum, den immer mehr wieder in Mode kommenden Begriff der Nation als einer rassisch homogenen Einheit zu dekonstruieren.

Viel wichtiger als die Feststellung, dass es einen Slogan wie "Deutschland schafft sich ab" nicht geben dürfte, ist die Feststellung, dass es ihn gibt. Und dass er breiteste Zustimmung findet.
Breiviks Erklärung, Weimar: irreführend
@ guttenberg: nein, ich plädiere dafür, das theater sich komplexeren und selbstkritischeren (reflektierteren) künstlerischen mitteln bedient, um ein solch heikles thema zu bearbeiten, und dabei die eigene rolle in dem fragwürdigen, skandalträchtigen spiel problematisiert.
Der RAF vergleich ist völlig irreführend und bringt uns in dieser diskussion nirgendwo hin. breivic hatte keine politischen forderungen, die er mit mitteln der gewalt vom staat erpressen wollte.
Breiviks Erklärung, Weimar: kann sich Re-enactment selbst problematisieren?
@12:
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber aber widerspricht das nicht dem Genre des Re-enactment?

Müsste man da nicht eher ein Stück schreiben darüber, wie und in welcher Weise sich das Theater als Kommunikator zum Mittäter macht?

Re-enactment kann doch nur einen bestehenden Text (im weitesten Sinne) in einen neuen Kontext setzen und dadurch frag-würdig machen (oder befragbar machen, um das "würdig" zu vermeiden).

Was sagen die Re-enactment-Experten im Forum dazu?

Sie hingegen verlangen, dass das Re-enactment sich selbst problematisiert, was - meine Hypothese - nicht funktioniert.
Breivik, Weimar: das National in Nationaltheater
Ich denke, daß ein solcher Einzug einer Reflexionsebene/Problematisierungsebene
in der Tat dem Grundgedanken des Re-enactment widerspricht; wird dieser vorgenommen, so entsteht eher etwas in Richtung Studie/Analyse. Jetzt wäre natürlich weiterhin noch die Frage möglich, ob man das Re-enactment hier an eine Grenze seiner Möglichkeiten anstoßen sieht oder nicht, und ob eine Art "Studie" hier eher am Platze wäre (insofern würde die Diskussion hier nicht abbrechen, sondern es passierte eine sachliche Verlagerung).
Es ist für mich in etwa wie das Verhältnis von Schachpartie, deren bloßem Nachspiel, der Analyse der Partie und Mischformen, was auch in etwa zu der Stellung des Re-enactment zu sagen wäre. Eine der denkbaren Mischformen ist zB., daß zwei Spieler an einem Tisch sitzen, von denen sich einer jeden Zug spielend erarbeiten muß, währenddessen der andere lediglich Züge nachspielt, die zuvor schon einmal gespielt worden sind (im Extremfall braucht so ein Spieler ja noch nicht einmal die Schachregeln intus haben).
In der Regel stören zu "spielerische Einstellungen" (zB. Nutzung der sogenannten "psychologischen Initiative") die Analyse ebenso wie ein "analytischer Sinn" die Spielphantasie trüben kann in einer Wettkampfsituation.
Ich persönlich halte es für fatal, wenn die Breiviks dieser Welt auch nur ein Jota weit bestimmen, was hier und dort und wieder dort und hier thematisiert wird, allerdings auch für wenig zielführend das "National" in Nationaltheater in einen Topf zu werfen mit dem NSU "National" und Breiviks Gebrauch, wir sehen ja auch Napoleon und Untergrundbewegungen nicht sogleich auf gemeinsamer Ebene. Die Sprache leidet, wenn ein Wolfgang Höbel im Spiegel von "scheußlich mittelmäßigen Existenzen" spricht und den Diskurs gefährlich ironisiert und damit auch ästhetisiert.
Fast will man da eine Stellenausschreibung heraushören: Nichtmittelmäßige Existenz
mit literarischem Niveau vollführe eine Tat, dann beschäftigt sich auch Ihr Theater um die Ecke damit. Überhaupt die Anwendung von Wertadjektiven auf "Existenz": da gibt es noch genügend Platz zur Diskussion. Was in Weimar wirklich zum Bruch führte, bleibt doch wesentlich dunkel, finde ich; immerhin wollte man das in Weimar ja lange zeigen, oder ??
Breiviks Erklärung, Weimar: gehemmt
Schade, dass es in Deutschland so schwer ist, in gutem Sinne disputfähig zu sein. Ob es die Holocaust-Bremse, die NSU-Barriere oder die noch nicht gefundene EU-Rolle Deutschlands ist, irgend etwas scheint Euch Deutsche enorm zu hemmen. Oder seid ihr noch am Suchen nach dem gesunden freiheitlich-demokratischen Staat. Gruss aus der Schweiz.
Breiviks Erklärung, Weimar: selbstgerecht
Wie selbstgerecht ist das denn?! Dass gerade die Schweiz in Bezug auf Ihre Geschichte nicht "in gutem Sinne disputfähig" ist, zeigte sich sich doch zum Beispiel an der Debatte um das Raubgold auf Schweizer Banken. Und zu behaupten, die Schweiz habe ihre Rolle in Bezug auf Europa gefunden, scheint mir sehr kurzsichtig. Gruss aus der Schweiz.
Breiviks Erklärung: genügend Stoff im eigenen Land
Breivik, Pussy Riot, warum wagt sich niemand an die Skandale im eigenen Land? Es werden in Deutschland Ausländer erschossen, und der Verfassungsschutz beobachtet den NSU seit 13 Jahren. Deutschland bestimmt in Griechenland die Finanzpolitik und schuldet diesem Land immer noch 78 Mrd € Reparationen aus dem 2. Weltkrieg! Es gibt Stoff genug...
Breiviks Erklärung: @ 17
100 daumen hoch für nr. 17!
Breiviks Erklärung, Weimar / Mainz nachgetragen: Angst vor dem Breivik in uns
Die Angst vor dem Breivik – in uns

Mainz, 19. Juni 2013. Modernes Theater provoziert gern. Spielt mit Tabus und überschreitet unsichtbare moralische Grenzen, bis ein Theaterleiter oder Raumanbieter in die Skandalfalle tappt. Und die Stückemacher des Hauses verweist. Dann nährt der Skandal das Stück: Mediale Aufmerksamkeit statt heimlicher Zensur.

Und um Zensur und das Ignorieren mißliebiger Meinungen und Ansichten geht es in Anders Behring Breiviks Rede vom 17. April 2012. Im Verschweigen, Verdrängen, Mißachten der "anderen" - auch seiner - Meinung in den Medien sieht der norwegische Terrorist eine undemokratische Geste und Situation, die seine Taten, die er als Notrecht versteht, heraufbeschworen haben. Seine Rede vor dem Osloer Gericht wurde vier mal von der Vorsitzenden Richterin Wenche Elisabeth Arntzen unterbrochen, wegen Ablesens ("Es sind nur Zitate"), der Wortwahl ("Es wird nicht schlimmer") und zweimal wegen Zeitüberschreitung ("Dann sehe ich keinen Sinn darin, mich überhaupt zu erklären!"). Zum Schluß, er hatte noch drei Seiten vor sich, unterbrach ihn die koordinierende Opferanwältin Mette Yvonne Larsen. Bei ihr hatten sich zahlreiche Betroffene darüber empört, daß Breivik Gelegenheit bekommen habe, sich so darzustellen.

Und diese Rücksicht auf die Opfer und Hinterbliebenen ist die Motivation des Tabus, Breiviks Reden zu zeigen oder aufzuführen. Doch haben die Hausherren in Weimar, München und Berlin mit dem Hinauswurf von Milo Rau mit seinem Dokumentarstück "Breiviks Erklärung" damit wirklich auf die norwegischen Betroffenen Rücksicht nehmen wollen?

Ist es nicht eher so, daß sie – ganz wie Breivik es beschrieb – damit eine unangenehme, unbeliebte oder gar mißliebige Meinungsäußerung unterdrücken wollten? "Aus Angst vor Applaus an den falschen Stellen", wie es der Rheinland-Pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) nach der Aufführung am 18. Juni 2013 in Mainz ausdrückte. Der Sozialdemokrat war zudem von dem "großer Überbau" erschrocken, und auch der Mainzer Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder zeigte sich von Breiviks "enormer Belesenheit" überrascht.

Die Rede Breiviks verlor durch die Bearbeitung zu dem Theaterstück die dramatischen Unterbrechungsdialoge, einige Wiederholungen und Details – gewonnen hat sie dadurch aber an Klarheit in ihrer Aussage. Losgelöst vom Täter durch den Vortrag der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, entfernt von den Taten in Norwegen durch die deutsche Sprache, abgekoppelt von den Fernsehbildern durch das schlichte Bühnenbild bleibt eine politische Rede übrig. Eine Rede, deren Teile so auch auf der Straße, an Stammtischen, in Zeitungen wie der "Jungen Freiheit" oder Büchern des Sozialdemokraten Thilo Sarazzin wiederzufinden sind. Auch im Theaterpublikum fand sich spontan Zustimmung zu einzelnen Positionen Breiviks: Teile der Bevölkerung würden nicht gehört, es gäbe Angst vor den Veränderungen bis hin zu "Davon kann ich vieles unterschreiben".

Und das ist der Punkt, den Milo Rau mit seinem provokanten, aber nach Ansicht Kreuders gefahrlosen, Theaterstück bei den Zuschauern erreichen will: Die Erkenntnis, daß viele der Thesen Breiviks Allgemeingut sind. Die Tabuisierung der Aussagen Breiviks sind nur der Selbstschutz vor dieser Selbsterkenntnis, die Angst vor dem "Breivik in uns".
Kommentar schreiben