Macker, ahoi!

von Sarah Heppekausen

Köln, 2. Dezember 2012. Unterm Caravan wabert der Nebel hervor, ein Kauz ruft, rauschender Gewitterregen ist zu hören. Düstere Stimmung als Einstieg ins Williams'sche Depressions-Drama. Passt ja. Aber das Gruselszenario ist nur von sekundenkurzer Dauer. Schon dreht sich eine angestrahlte Diskokugel für die Musical-Party unter dem Motto: "In the navy". Leadsänger ist Tom Wingfield im sexy Matrosenanzug, sein Backgroundchor fährt im Boot auf die Bühne und winkt fröhlich mit Stars-and-Stripes-Fähnchen. Der depressiven Phase folgt die manische.

glas-1-019 280 hoch sandra then uUnter dem Hahnenkopf: Marie Rosa Tietjen
© Sandra Then

Raus aus meinem Kopf!

Regisseur Sebastian Kreyer hat sich in seiner Inszenierung der "Glasmenagerie" für eben diese Extreme entschieden. Extrem schrill und extrem wehmütig, extrem desolat und extrem komisch – und zwar wechselnd im Minutentakt. Es ist wie beim nächtlichen Träumen. Da schlägt die Stimmung auch gerne mal übergangslos ins krasse Gegenteil. In Tennessee Williams' Abgesang auf den "American Dream" flüchten sich alle Figuren aus der Wirklichkeit in eine Welt der Illusion, bei Kreyer ist die Wirklichkeit selbst längst zum skurrilen (Alb-)Traum geworden.

Leadträumer ist Tom (Orlando Klaus), schließlich spielt das Stück in seiner Erinnerung. Deshalb geht er die anderen auch gerne mal an, wenn's ihm zu stressig wird: "Raus aus meinem Kopf!" Tom ernährt die Familie, seit der Vater Frau und Kinder verlassen hat. Der Lagerhaus-Arbeiter läuft auf der Bühne im Kölner Ausweichquartier EXPO 2 im Eilschritt und im braunen Dress der heutigen Paketzusteller. Er läuft auf der Stelle, versteht sich, traumgemäß. Ans Vorwärtskommen ist weder in diesem Job noch in dieser ausweglosen Lage von Familienabhängigkeit zu denken.

Seelenleid im Übermaß

Mutter Amanda (Anja Laïs) rechnet sich eine Welt aus eingesparten Zigaretten und verschwendetem Kursgeld zurecht. Während es Tochter Laura immer wieder buchstäblich den Realitätsboden unter den Füßen wegzieht. Ständig kippt die "Verkrüppelte" um. Marie Rosa Tietjen zieht ihre Schultern hoch und den Kopf ein, sie krallt ihre Finger und lallt wie bei einer geistigen Behinderung, sie zuckt und zerrt wie bei einer Zwangsneurose. Im nächsten Augenblick spricht ihre Laura mit reifer, kräftiger Stimme oder tänzelt elfengleich im wehenden Kleid über die Bühne. Aus einer somnambulen Trägen wird eine eifrige Leseratte, aus einem schmollenden Kind eine küssende Frau, die kurz zuvor noch den Kopf in den Eimer oder zwischen die Wohnwagenreifen gesteckt hat. So viele Seelen-, Leidens- und Körperzustände vereinen sich in dieser kleinen Person zum geballten Gefühlsgroßausbruch. "Verkrüppelung" ist in diesem Sinne ein Übermaß.

glas-1-030 560 sandra then uDepressive Dauercamper: Carlo Ljubek und Anja Laïs. Im Hintergrund: Marie Rosa Tietjen und Orlando Klaus. © Sandra Then

Deshalb bringt die Ankunft des erhofften Heilsbringers Jim O'Connor (Carlo Ljubek) auch nur noch eine abgeschwächte Wendung ins Wingfield'sche Familientrauerspiel. Emotionen, die vorher schon von einem Extrem ins andere stürzten, sind nun kaum noch steigerungsfähig. Natürlich hat Jim – Toms Arbeitskollege und ein potenzieller Mann für Laura – seinen großen Auftritt. Dessen Klimmzüge im Caravan-Türrahmen lassen Mutter, Sohn und Tochter gleichermaßen lechzen. Sein nackter Oberkörper soll Sehnsüchte stillen. Wie Pasolinis fremder Gast aus dem Film "Teorema" bringt er die Familienmitglieder in Wallung. Aber eher als göttlicher Slapstick-Verführer denn als rettender Gott.

In Volksbühnen-Manier

Der Unterhaltungswert ist eh groß an diesem Abend. In Volksbühnen-Manier spielt Anja Laïs als Mutter Amanda mit Worten und Versprechern ("Ich möchte, dass Sie ein Ständer werden, äh, ständiger Begleiter werden", "Eine Verführung, Verstellung, äh, Vorstellung ist nicht nötig"), schnappt sich das Textbuch der Souffleuse oder schreit ohne psychologisch nachvollziehbaren Grund. Verrückt ist nicht nur Laura. Eigentlich haben sie alle eine (sympathische) Macke. Sächselnd, singend, stolpernd bewegen sich die spielfreudigen Darsteller über Thomas Dreißigackers nach und nach mit 70er-Jahre-Campingtischen und Klappstühlen, Sofas, Pappschachteln und Balkonblumen vermüllter Bühne.

So berauscht sich die Regie durchaus mit Tennessee Williams an der Idee, der Wirklichkeit zu entfliehen. Aber wenn Tom am Ende auf gepackten Koffern sitzt und erzählt, wie er seine Familie verlassen hat, wie er den Absprung gewagt hat, dann erscheint auch das nur als eine weitere Traumsequenz, die man allzu schnell wieder vergisst. Hier findet kein Einbruch der Realität statt. Dafür fehlen die Zwischentöne, die vielleicht selten einen Platz im Traum, aber doch immer einen in der Wirklichkeit haben.


Die Glasmenagerie
von Tennessee Williams
Deutsch von Jörn van Dyck
Regie: Sebastian Kreyer, Bühne: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Christine Meyer, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: Anja Laïs, Marie Rosa Tietjen, Orlando Klaus, Carlo Ljubek.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

Die Glasmenagerie sah nachtkritik.de zuletzt in Jena von Johanna Wehner (2012) und in Berlin von Milan Peschel inszeniert (2010).

 

Kritikenrundschau

"Sebastian Kreyer lässt nie vergessen, dass das absurde Treiben nur Theater ist", schreibt Sascha Westphal in den Ruhrnachrichten (4.12.2012). Das Theaterspielen bzw. der Rahmen der Aufführung würden immer wieder thematisiert. "Den wüsten Überzeichnungen, in denen sich das Spiel zu überschlagen scheint, stehen immer wieder Momente der Ruhe und Verzweiflung gegenüber." Und Rosa Marie Tietjen sei der Star dieses "amerikanischen Endspiels".

Die leisen Momente seien nicht unbedingt Sebastian Kreyers Sache, urteilt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (4.12.12). "Der talentierte Jungregisseur bittet vielmehr zum Polterabend bei den Wingfields." Es werde "allerliebst gezuckt", während der Slapstick-Hammer jede Psychologie zertrümmere. Dabei seien alle Rollen- und Marottenwechsel präzis choreografiert. "Kreyer hat seinen Castorf studiert." Es bleibe insgesamt ein schwacher Trost, dass in diesem grellen "'Glasmenagerie'-Scherbenhaufen" einige Splitter sehr schön leuchteten.

Sebastian Kreyer komme der "Glasmenagerie" auf albernen Umwegen erstaunlich nahe, meint Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (4.12.12). Wo Williams andeute, werde bei Kreyer geklotzt. Dabei gehe er "ohne dekonstruktivistische Aggressionen" vor. Und die Schauspieler fielen stets aus (sic) der augenzwinkernden Metaebene zurück ins naturalistische Spiel. Nach zweieinhalb Stunden stehe nicht nur Williams' Werk unbeschadet vor uns. "Es rührt uns auch weder an, gerade weil die Parodie, zu der diese verblühten Südstaaten-Schönheiten und schizophrenen Mauerblümchen nun mal einladen, hier mitgedacht wird." Das hätte, so meint Bos, vielleicht noch besser funktioniert, wenn Kreyer auf den ein oder anderen Gag verzichtet hätte. Duch die Überfülle schlage die Doppelbödigkeit manchmal in flaches Lustigsein um. "Aber dass man bei der ersten großen Regiearbeit alles rauslassen will, ist verständlich."

Kommentare  
Glasmenagerie, Köln: Frage an die Redaktion
Wann veröffentlichen Sie die Liste der Produktionen, die Sie im Dezember besprechen werden?

(Liebe/r Rudi, hier ist sie doch: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_theater&Itemid=98
MfG, Sophie Diesselhorst f.d. Redaktion)
Glasmenagerie, Köln: Unterschied Köln/Düsseldorf
Mit Verlaub, ich habe die Premiere gesehen, gute Schauspieler, aber wäre diese Premiere in Düsseldorf und nicht in Köln herausgekommen, wäre sie gnadenlos verissen worden. Man sollte dem Regisseur seine Plattensammlung wegnehmen, der Versuch Castorf zu imitieren führte zu Momenten des Fremdschämens. Aber ist ein Haus erstmal bejubelt, werden offensichtlich alle Augen zugedrückt. Unter Holm hätt es Häme geregnet. Soviel zu Holms Abdanken, der sicher nicht nur von ihm initiiert war!
Glasmenagerie, Köln: Zustimmung
@2
stimmt!
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