Deutsch-französischer Dialog

22. Januar 2013. Anlässlich des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrags zur Förderung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich haben sich Brigitte Salino und Joseph Hanimann für die Süddeutsche Zeitung mit dem französischen Theaterregisseur Stéphane Braunschweig und dem regieführenden Leiter der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier zum Interview getroffen. Es geht um die Politik und die Theaterkunst in beiden Ländern.

Braunschweig erläutert sein Faible für deutsche Autoren wie Kleist, Büchner, den jungen Brecht oder Horváth, "bei denen die Schwierigkeit des vernünftigen Sprechens zum Ausdruck kommt". In der deutschen Gegenwartsliteratur vermisst er eine solche "durchlöcherte Sprache, voll Schweigen und Leere". Sie erscheint ihm in ihrem Fokus auf soziale Fragen "zu demonstrativ".

Weshalb es mehr deutsche Gastspiele in Frankreich als umgekehrt gibt, erklärt Braunschweig mit kulturellen Faktoren ("Frankreich ist ein Aufnahmeland für Fremdes. Im Theater geht diese Tradition auf den Programmzyklus 'Théâtre des Nations' der 50er und 60er Jahre zurück") und mit den unterschiedlichen Theaterstrukturen beider Länder: Da französische Häuser kein festes Ensemble und kein Repertoiresystem besitzen, gebe es "eine größere Freiheit für die Programmgestaltung."

Thomas Ostermeier schwärmt von der luxuriöseren Ausstattung der deutschen Theater und geht ansonsten scharf mit der neoliberalen Reformpolitik des in Frankreich viel gepriesenen "modèle allemand" ins Gericht: "Man müsste eher umgekehrt sagen: Guckt nach Frankreich, wie weniger leicht die sich von den Arbeitnehmerrechten verabschieden."

Dass sich der "Siegeszug des Neoliberalismus" kaum in einer starken Theaterliteratur widerspiegelt, erklärt Ostermeier mit der Schlichtheit dieser Realität: "Es ist, als wäre die Realität manchmal zu banal für eine befriedigende Darstellung. Kurioserweise, schlimmerweise, ist die Welt in manchen Fällen nicht zu komplex, sondern zu simpel für das, was man in der Literatur oder auf dem Theater erwarten darf." Braunschweig sieht das Sujet besser im Dokumentarfilm aufgehoben.

Schließlich sprechen beide über ihre Vorliebe für den Dramatiker Henrik Ibsen: Braunschweig schätzt das "Existenzielle" und den Individualismus bei Ibsen: "In einer individualistischen Gesellschaft wie der unseren ist es aufschlussreich, sich mit einem Autor zu beschäftigen, der nicht einfach sagt: Individualismus, wie furchtbar!, sondern der den Individualismus in all seinen Widersprüchen zeigt."

Ostermeier sieht diesen Individualismus kritischer. Der bürgerliche Glücksanspruch gerate unter Bedingungen der neoliberalen Ökonomie unter Druck: "Wenn die überfrachteten Beziehungen in Ehe und Privatleben heute zerbrechen, werden die Konflikte nur individualistisch unter den Partnern ausgetragen. Die Familie ist eine Fallgrube unbewältigter gesellschaftlicher Konflikte. Ibsen hat das kommen gesehen und es ist eigentlich ein Skandal, dass wir ihn heute wieder spielen müssen."

(Süddeutsche Zeitung / chr)

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