Ersatz(luft)schlösser

5. Januar 2013. Gegenwärtig feiern viele große Stadttheater wie in Stuttgart oder Dresden ihr einhundertjähriges Bestehen. Das nimmt Esther Slevogt in der taz (5.2.2013) zum Anlass, über den Anteil der Theater an der Subjektwerdung des Bürgers nachzudenken. Schon die Feierlichkeiten zum Jubiläum der Münchner Kammerspiele im letzten Jahr hätten den Eindruck vermittelt: "Erst das Theater hatte die Münchner Bürger einst zu wirklichen Mitgliedern der Gattung Mensch gemacht."

Viele der Bauten, die jetzt ihren Hundertjährigen feiern, seien von Architekten errichtet worden, die auf Schlösser oder Sakralbauten spezialisiert gewesen seien (wie Gottfried Semper). Die Anlehnung an aristokratische Vorlagen wie etwa auch in Wiesbaden beweise den "Januskopf dieser bürgerlichen Einrichtung", mit der sich damals das Bürgertum einerseits selbst in den Adelsstand erhob, "andererseits aber doch ein entscheidendes Selbstverständigungsmedium und Fundament einer bürgerlichen und demokratischen Kultur schuf".

Um 1900 sei das Theater dann seiner "schizophrenen Nischenexistenz zwischen Jahrmarktspektakel und Fürstenvergnügen entwachsen und zum wesentlichen Element einer neuen bürgerlichen Hochkultur geworden". Entsprechend hätten die "pompösen Theaterbauten an zentralen städtischen Plätzen" die Schlösser und Fürstensitze verdrängt. Theater wurden "zu kulturellen Ersatz(luft)schlössern, in denen sich das Bürgertum in Kontemplation übte und auf den Plüschsesseln der Zuschauerräume still saß, während es in den Foyers in großer Garderobe höfisches Leben kopierte." Auf den Bühnen ließ sich, "freilich folgenlos, von politischer Freiheit träumen".

In den 1920er Jahren entstand der "Ruhm der ersten Theaterstars" und mit ihm "eine klassenunabhängige Stellung in der Gesellschaft, die nicht mehr an konkretes Handeln, sondern nur noch an reine Repräsentation geknüpft war". "So fand das Gottesgnadentum des Fürsten am Ende dankbaren Ersatz im Gottesgnadentum des Künstlers, das von keiner Staatsform mehr anfechtbar war: im Theaterkünstler, der sich und sein Genie keiner zivilen Ordnung mehr zwingend unterwerfen musste."

Heute beobachtet Slevogt etwa in den Feierlichkeiten des Theaters Freiburg mit seinen Untersuchungen zur neuen Stadttheaterkultur in der Reihe "Heart of he City" ein Aufbegehren gegen diese Tradition der "Künstlerfürsten". Denn "das, was einst als sogenannte Leitkultur eine identitätspolitische Errungenschaft des deutschen Bürgertums war", sei "zum Ausschlusskriterium geworden". Eine neue deutsche Gesellschaft aus "Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Wurzeln und Bildungszusammenhängen" sei "mit einem klassischen Bildungskanon nicht mehr unbedingt zu erreichen".

(chr)

Kommentare  
Presseschau 100 Jahre Theater: Tradition der Erbauung
Interessant wäre in diesem Zusammenhang, welche Rolle die BürgerInnen, die das Theater heute besuchen, "ihrem" Theater zukommen lassen. Klassikerpflege statt zeitgenössischem Theater? Dies stünde ja ganz in der Tradition ihrer Erbauung und wäre wohl wenig emanzipatorisch zu nennen. Und sind es nicht auch jene Theaterbauten, die eine Öffnung der Theater heute verunmöglichen?
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: verdünnen
Nur zwei Korrekturen, die dummerweise den Gehalt sowohl der Zusammenfassung wie den des Originalartikels stark "verdünnen" Gottfried Sempers herausragenden Theaterbauten sind Auftragsbauten des sächsischen und des preußischen Königshauses, haben mit Bürgerlichkeit wohl kaum etwas zu tun und der Theaterstar ist ganz zweifellos eine "Erfindung" des bürgerlichen Geschäftstheaters seit Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts. Nun kann man freilich nicht mehr so leicht und flott ideologisieren und spekulieren. Schade...
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: nochmal und Redaktion
Das alles ist theaterhistorisch leider ziemlich falsch, nachlesbar in jeder harmlosen Theatergeschichte - zwei seriöse Richtigstellungsversuche von mir wurden bisher unterdrückt also ein dritter und letzter Versuch auf die Unvoreingenommenheit und Wahrheitsliebe der Redaktion.

(Lieber Thomas Wieck,
nicht gleich das Schlimmste denken. Der Nachmittagsdienst endet um 18.30 bei uns. Danach schaut, wer gerade am Computer hockt, nach den Kommentaren. Und da hockte nach 19 Uhr gerade niemand mehr. Jetzt wieder. Jetzt ist auch Ihr Kommentar veröffentlicht. Wir bitten um Verständnis.
nikolaus merck)
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: wieso widerlegt?
Sehr geehrter Herr Wieck,
jetzt bin ich doch etwas verwirrt. Wieso glauben Sie, Esther Slevogt in ihrem Kommentar 2 zu widersprechen?
Slevogt sagt, viele Theaterhäuser wurden von Schlossbaumeistern gebaut, einer von ihnen: Semper.
Sie hat doch gar nicht gesagt: viele Stadttheater, also Bürgertheater.

Zweitens spricht sie von den "ersten Theaterstars", die das Stadttheatersystem in "jener Zeit", nämlich "im letzten Moment vor dem Untergang der alten Welt", also in den Jahren vor 1914, meinetwegen 1918, hervorgebracht habe. Also kommt der Theaterstar um 1900 hervor. Ihrer Ansicht nach aber bereits 50 bis 80 Jahre früher.
Ich halte das für falsch, weil der Begriff des Stars, wie wir ihn üblicherweise benützen, die Existenz von modernen Massenmedien voraussetzt, die ein von der konkreten Person und ihrem Auftreten unabhängiges Imago schaffen. Diese Massenmedien, genauer Bild- und Tonmedien gab es aber Mitte des 19. Jahrhunderts noch gar nicht. Ich halte mit Slevogt dafür, dass die Kainz und Moissi ohne Fotografien oder Schallplatten, für manche auch ohne das Kino, es nicht zum "Star" gebracht hätten.
Aber selbst wenn man die Datierung der ersten Stars einmal beiseite lässt, verstehe ich noch nicht wirklich, wodurch Sie den Kerngehalt von Slevogts These widerlegt haben???
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Theater als Massenmedium
Ich zitiere "Gegenwärtig feiern viele große Stadttheater wie in Stuttgart oder Dresden ihr einhundertjähriges Bestehen. ... Viele der Bauten, die jetzt ihren Hundertjährigen feiern, seien von Architekten errichtet worden, die auf Schlösser oder Sakralbauten spezialisiert gewesen seien (wie Gottfried Semper)." Sie sollten doch den Unterschied von Hof- und Stadttheater respektieren - und Semper hat nun mal nicht vor hundert Jahren bürgerliche - also städtische, also Stadttheater gebaut, denn da war er schon längst gestorben. Und wenn ich recht lesen kann, behaupten beide Autorinnen,auch Semper sei ein solcher Baumeister gewesen, der mit seiner höfischen Architektursprache Stadttheater gebaut habe,gleich wie die und - nun wirds lustig - fälschlich von den Autorinnen als städtisch bezeichneten in Wahrheit aber höfischen Theater in Stuttgart und Dresden.
Was Sie zum Begriff des Stars schreiben ist angesichts des Zitats: "In den 1920er Jahren entstand der "Ruhm der ersten Theaterstars" und mit ihm "eine klassenunabhängige Stellung in der Gesellschaft, die nicht mehr an konkretes Handeln, sondern nur noch an reine Repräsentation geknüpft war" zumindest problematisch. Inhaltlich wäre es doch angebracht den Begriff des Virtuosen anzustrengen - besonders beliebt und bekannt in Ost (Russland) und West (USA) und mittendrin (Deutschland und Österreich-Ungarn) die italienischen Darsteller - durchaus von modernen Massenmedien, dem der Fotografie und der Massenpresse, begleitet und zu einem Gutteil auch "gemacht". Der Star ist Ausdruck des Konkurrenzkampfes und der Verwarung der Schauspielkunst, gleich ob sie im höfisch-aristokratischen oder im städtisch-bourgeoisen Ambiente feilgeboten wurde. Darum geht es meiner Meinung nach. Und dieser Prozess ist nun einer der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt und der vor allem, das dürfte entscheidend sein nationale Sonderheiten internationalisiert. Das Stadttheatersystem kann vieles, einen Star kann es nie gebären, wie sie und die Autorin ihn verstehen. Kainz und Moissi waren eben an keinem deutschen Stadttheater engagiert, das sollte ihnen zu denken geben. Kainz und Moissi konnten zu Virtuosenruhm aufsteigen, weil sie - jeder auf seine eigene Weise -einen neuen Typus auf die Bühne stellten - und zu dieser Zeit wurden gesellschaftliche Leitbilder (Images) halt auf dem Theater produziert - weil Theater das ist der springende Punkt ein Massenmedium ganz eigener Kraft und Wirkung war. Moissi - der Immigrant - übrigens, sie wissen es so gut wie ich, galt als gefeierte Inkarnation der "slawischen Seele". Die Geschichte des deutschen Stadttheaters ist zu kompliziert und vielschichtig um allein als fataler Ort steriler Bildungsbürgerlichkeit abgetan zu werden. Ideologiekritisch ist dieser Institution nicht beizukommen,wenn man übersieht, dass das Theater einstmals das führende Massenmedium war, sowohl affirmativ wie avantgardistisch unterwegs. Das kann man sich heute wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen - es ist aber wahr. Mehr wollte ich nicht sagen, es könnten weniger geschichtsfeste Theaterliebhaber die nachtkritik lesen
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Ideologie und Dialektik
@ Thomas Wieck: Was heisst "fataler Ort steriler Bildungsbürgerlichkeit"? So sehr Sie Recht haben, dass das Theater weit mehr war und ist als eine die Verhältnisse bloß reproduzierende Selbstverständigung einer einzigen Klasse/Schicht/Milieu, nämlich der bürgerlichen Mittelschicht, so wenig sollten Sie vergessen, dass auch sogenannte "Ideologiekritiker" Ideologie produzieren, nämlich Anti-Ideologie. Tja, aus dieser Dialektik kommen wir jetzt erstmal nicht raus. Und weiterdenken.

"Die Erneuerung der Welt, jenseits von Demokratie [bzw. der Demokratie 'von oben', I.] und Kommunismus, kommt nur durch die Erneuerung des Individualismus, nicht durch das kollektive Denken."
(aus: "Manifest der deutschen Sektion der Situationistischen Internationalen", München 1960)
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: löchrige Definition
Guy Debord in Ehren - aber ich spreche vom deutschen Stadttheatersystem, wenn ich nicht irre, und ich spreche von historischen Tatsachen, wer hier ideologisiert dürfte auf der Hand liegen, ich nicht... Ihre Ideologiedefinition ist löchrig, Lenk lesen, oder auch nicht - Ideologieverdächte streut der Ideologe aus, ich weiß ich weiß, lassen wir also jedwedes kollektives Nachdenken und graben uns jeder unser indiviudelles Einzelgrab - die Institutionen werdens danken...Vorwärts und alles vergessen, was andere vor uns erfahren...
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Multitude
@ Thomas Wieck: Lenk lesen? Wer ist Lenk? Und ist der Situationismus denn unhistorisch? Ich würde ausserdem lieber von der "Multitude" sprechen, wo jeder einzelne, unabhängig von einer Partei bzw. Parteiorganisation, ich sagt und wir meint, nicht umgekehrt, das war und ist doch das Fatale: Wir zu sagen, aber damit doch immer wieder nur das (ökonomische) Einzelinteresse zu meinen. Auch und gerade innerhalb der Strukturen des Theaters.
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Kierkegaard zur Hand
Ich brauche nur die sehr schöne Schrift "Die Krise" ( im Leben einer Schauspielerin) von Sören Kierkegaard zur Hand nehmen, zum diesjährigen 200. Geburtstag des
Dänen möglicherweise auch eine Empfehlung für PerformerInnen , um zu erahnen,
wie "groß" Kopenhagen einst vor 1850 in der hier relevanten Hinsicht gewesen sein muß, selbst wenn Kiel (mit einem kaum mehr als hundertjährigen Stadttheater) heute
mehr Einwohner zählen sollte als Kopenhagen seinerzeit. Ich kann Herrn Wieck nur zustimmen..
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Buchhinweis
Das Buch heißt Ideologie /Ideologiekritik und Wissenssoziologie hgg. und eingeleitet von Kurt Lenk. Alles andere was Sie, Inga, schreiben, ist für mich zwar nachvollziehbar, hat aber mit dem strittigen Gegenstand nichts zu tun. Deshalb gestatten Sie mir in ein andauerndes Schweigen zu verfallen.
Pressechau 100 Jahre Stadttheater: Versammlungsfreiheit
@ Thomas Wieck: Und natürlich kann es nicht darum gehen: "Vorwärts und alles vergessen, was andere vor uns erfahren". Ich weiss nicht, wer bzw. warum einer auf solche Menschen hören sollte, welche immer nur - wie die Polizei - fordern: "Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts mehr zu sehen!", wo es doch gerade da um entscheidende, gemeinschaftsbildende Prozesse geht. Zum Beispiel um die öffentliche Versammlungsfreiheit.
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: bitte Lenks Argumente zusammenfassen
@ Thomas Wieck: Ein andauerndes Schweigen hilft niemandem weiter, denn die wesentliche Funktion des Theaters als Medium ist doch, Kommunikation zu generieren. Diesbezüglich wäre es also nur konsequent und hilfreich für alle Leser und Kommentatoren auf dieser Seite, wenn Sie die wesentlichen Argumente, welche Sie aus dem Buch von Kurt Lenk ziehen, inhaltlich kurz zusammenfassen würden.

Und warum sollten meine Argumente inhaltlich nichts mit dem Thema der Verfasstheit (sic!) der Stadttheater zu tun haben? Gerade da ging es doch mal um Fragen der Agora, der Versammlungsfreiheit und öffentlichen bzw. gemeinsamen Meinungsbildung, der Demokratie von unten. Wird das durch die Architektur des Stadttheaters nun gefördert oder eben gerade nicht? Ist die frontale Guckkastenbühne ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems? Inwiefern wird darüber eine Form der Schwarmbildung ermöglicht oder vielleicht doch eher verhindert?
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Star durch Schrift?
Ich schätze das ja sehr, was Frau Slevogt schreibt, aber seit Tagen geht es mir in meinem Kopf herum: Theaterstars seien gebunden an Massenmedien?

Nun, bevor Kains und andere Stars wurden, gab es etwas, dass ohne jene Medien Massen bewegte.

Es war die Schrift.

Die Schrift hat Dichter wie Shakespeare, Moliere und Goethe groß gemacht.

Aber was soll´s.
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Dichtungen
Nicht die Schrift, sondern ihre Dichtungen.
Presseschau 100 Jahre Stadttheater: Goethezitat
Dichten selbst ist schon Verrat.
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Dichten ist Übermut.

(Johann Wolfgang von Goethe)
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