8. Februar 2013

nachtkritik-Theatertreffen 2013: Das Ergebnis

Sie haben gewählt! Aus 48 Inszenierungen des letzten Jahres, die von den nachtkritik-AutorInnen nominiert wurden. Zehn Tage lang waren die Wahlurnen geöffnet. Bis zu zehn Stimmen konnte jeder Wähler abgegeben. Für die zehn wichtigsten Inszenierungen des vergangenen Jahres. Nun sind die Stimmen gezählt.

– 4005 Wähler gaben insgesamt

– 7020 Stimmen ab, also jeder Wähler durchschnittlich

– 1,75 Stimmen

Zum virtuellen nachtkritik-Theatertreffen 2013 sind eingeladen (alphabetisch geordnet):

 

{slider=Das Fest von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov
Theater Vorpommern Greifswald, Regie: Uta Koschel
Nachtkritik vom 3. März 2012|closed}Man konnte kaum glauben, dass in den Schauspielern, die man jahrelang auf dieser Bühne immergleich gesehen hatte, so ein Feuerwerk steckt. Der verzweifelte, mutige und würdige Abgang eines Ensembles!

{slider=Der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller
andcompany&Co., Oldenburgisches Staatstheater, Regie: andcompany&Co.
Nachtkritik vom 23. Februar 2012}"Der (kommende) Aufstand" probt nicht nur den Aufstand, sondern dekliniert ihn nach andco-Manier durch, großzügig Zeiten und Räume durchschreitend. Und wie nebenbei werden kongenial die Occupy-Chöre (zurück) ins Theater geholt als überzeugendes Instrument politischer Verhandlungen zwischen dem Einzelnen und der Menge, sprich: der Gesellschaft.

{slider=Der Revisor von Nikolai Gogol
Residenztheater München, Regie: Herbert Fritsch
Nachtkritik vom 22. Dezember 2012}Hier treffen mit Gogol und Herbert Fritsch zwei Seelenverwandte aufeinander und sorgen gemeinsam für eine der erfrischendsten Aufführungen seit längerem im Residenztheater. 

{slider=Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horváth
Wiener Festwochen, Volksbühne Berlin, Regie: Christoph Marthaler
Nachtkritik vom 13. Juni 2012}Weil jedes (schiefe) Bild stimmt. Weil die meisten Schauspieler fantastisch und nicht nur irgendwelche Hübschchen sind. Weil Tragik lustig sein kann. Weil es wirkliche Regieideen gibt. Weil Clemens Sienknecht umwerfend mit dem Piano spielt.

{slider=Immer noch Sturm von Peter Handke
Staatstheater Nürnberg, Regie: Stefan Otteni
Nachtkritik vom 13. April 2012}Der ausufernd poetische Text, aus einer sehr persönlichen Nostalgie geschaffen, hat in der Otteni-Regie das Tanzen gelernt und  mit der Erfindung eines Mädchen-Chores spielerisch den Blick in die nächste Generation gewagt.

{slider=Krieg und Frieden nach Leo Tolstoi
Ruhrfestspiele Recklinghausen, Centraltheater Leipzig, Regie: Sebastian Hartmann
Nachtkritik vom 12. Juni 2012}Was für eine Symphonie! Hartmanns garstiger Beklemmungs-und-Befreiungs-Freestyle kreist bildgewaltig um markante Schmerzpunkte der Moderne und um die großen Fragen des Seins. Der Abend überfordert, so wie das Mysterium der menschlichen Existenz das Vorstellungsvermögen des menschlichen Geists übersteigt. Und ist dabei viel näher an Tolstois Ringen um die großen Fragen des Lebens, als es jede nur äußerliche Nacherzählung der Geschichte im Guckgasten-Format zu sein vermag.

{slider=Mit wem soll ich jetzt schweigen nach Peter Bichsel
Theater Biel-Solothurn, Regie: Deborah Epstein
Premiere am 17. November 2012}Es gelingt dem Ensemble die teilweise äußerst vertrackten, teilweise melancholisch-poetischen Texte aus allen Schaffensphasen des Dichters, so auf die Bühne zu bringen, als ob sie für eine Theaterinszenierung gedacht wären. Ohne eine durchgehende Handlung zu erfinden, mit einem Geflecht aus Bichsel-typischen Situationen und Evokationen schafft es die Inszenierung, berührend persönlich und doch literarisch anspruchsvoll, auf alle Fälle aber leicht und fast schwerelos zu sein. Dabei wird insbesondere auf die Diktion in unverkrampfter Weise soviel Wert gelegt, dass alles, was gesagt wird, ohne Textbuch unmittelbar verständlich und überzeugend ist.

{slider=Murmel Murmel von Dieter Roth
Volksbühne Berlin, Regie: Herbert Fritsch
Nachtkritik vom 28. März 2012}Ein wunderbares Form- und Farb-, Körper- und Sprachspiel, eine Bühnen-Happy Hour und Kapriolen-Kür, lustvoll, charmant, rhythmisch präzise und einfach vollendet.

{slider=P project von Ivo Dimchev
ImPulsTanz Wien, HAU Berlin u.a., Regie: Ivo Dimchev
Premiere am 5. August 2012}Eine aufwühlend anregende Lehrstunde in Sachen Kapital und Gier: Rampendiva Ivo Dimchev bietet in seinem "P project" dem Publikum Geld für spontane Bühneneinsätze – und erhöht die Anforderungen an die Schamgrenze der Freiwilligen entsprechend der Entlohnung. Wie käuflich sind wir? Nach diesem Abend ahnt man: Nach oben ist alles offen.

{slider=The King's Speech von David Seidler
St. Pauli Theater Hamburg, Regie: Michael Bogdanov
Premiere am 20. November 2012}Seidlers Stück, lange vor dem erfolgreichen Film entstanden, ist schlicht furios und unerhört pfiffig geschrieben, es ist wirklich sehr komisch, aber natürlich auch tragisch mit Blick auf den stotternden König, der den Kriegsbeginn bewältigen muss und das nur mit Hilfe eines herzerfrischend respektlosen Lehrers schafft. Michael Bogdanov entfesselt auf der technisch chronisch unterdimensionierten St.-Pauli-Bühne auf dem Hamburger Kiez ein historisch-szenisches Feuerwerk, wie es auch jenseits dieses Mini-Theaters selten zu sehen ist. Marcus Bluhm und Boris Aljinovic schließlich, König und Lehrer, sind in dieser Aufführung nichts weniger als ein Traumpaar.

 

Wir gratulieren den Gewinnern und bedanken uns bei allen, die mitgemacht haben!

 

Und was besagt das Ergebnis?

Es scheinen sich in der hier getroffenen Auswahl mehrere Tendenzen abzubilden. Zum einen haben sich offensichtlich einige Handschriften schlicht kraft ihrer Popularität durchgesetzt: Herbert Fritsch, der in den vergangenen Jahren zuerst beim virtuellen und dann auch beim realen Theatertreffen der Berliner Festspiele als Regisseur durchgesetzt worden ist, ist gleich mit zwei Inszenierungen vertreten. Fritsch-Fans können immer das gute Gefühl haben, amüsiert zu werden und gleichzeitig state of the art zu sein. Ähnliches, wenngleich schon etwas länger, gilt sicherlich auch für Christoph Marthaler, der es neben Glaube Liebe Hoffnung mit SALE beinahe zu einer zweiten Einladung geschafft hätte – auf der Zielegeraden wurde die Produktion indes noch abgefangen.

Überraschender ist es da schon, dass zahlreiche der vermeintlichen Außenseiter die meisten Schwergewichte klar hinter sich gelassen haben. Während Michael Thalheimers Medea aus Frankfurt immerhin an den ersten zehn Plätzen schnuppern durfte, landeten die meisten anderen großen Namen unter ferner liefen. Stattdessen sind das St. Pauli Theater, das Staatstheater Nürnberg, das Theater Vorpommern und das Theater Biel-Solothurn in die Endauswahl vorgedrungen: Man mag das als ein Zeichen der Verbundenheit des Publikums mit seinen lokalen Theatern werten, vielleicht kann man aber auch auf eine Art Partisanen-Taktik schließen, weil überregional weniger beachtete Theater bei einer solchen Abstimmung mehr Hebel in Bewegung setzen als die arrivierten Tanker. Immerhin hatte sich der Erfolg von Stefan Ottenis Inszenierung von Handkes Immer noch Sturm durch exzessive Kommentare im entsprechenden Thread und durch hervorragende Charts-Platzierungen schon angekündigt. Und im Falle des Fests am Theater Vorpommern hat sicherlich auch der Abschied dankbarer Zuschauer von einem mittlerweile zum Großteil gekündigten Ensemble eine Rolle gespielt.

Dass auch Ivo Dimchev mit seinem "P project" und andcompany&Co. mit Der (kommende) Aufstand ganz nach vorne gekommen sind, ist ein Indiz dafür, dass ein Gutteil der Freien Szene besonders gut vernetzt ist und die Mobilisierungs-Möglichkeiten der Social Media ganz selbstverständlich zu nutzen weiß: Avancierte Ästhetiken gehen hier mit avancierten Kommunikationsmethoden Hand in Hand.

Bleibt der Fall Sebastian Hartmann: Als eine der umstrittensten Künstler- und Intendantenpersönlichkeiten der letzten Jahre hat er zwar beileibe nicht ganz Leipzig, aber doch eine treue Schar von Anhängern hinter sich gebracht, die für ihn durch Dick und Dünn und auch durch eine nachtkritik.de-Abstimmung zu gehen scheint. Mit dem Trinker hat eine zweite Hartmann-Aufführung unser Tableau nur hauchdünn verfehlt. Sein Erfolg mit Krieg und Frieden bei dieser Wahl zeigt auch, dass das Durchsetzen bestimmter Künstler nicht unbedingt eine Sache der Mehrheiten und auch nicht eine der Experten sein muss. Mit einer starken und unbeirrbaren Lobby ist schon so manche Erfolgsgeschichte geschrieben worden.

(wb)

 

Zu den Gewinnern der letzten Jahre: Ergebnis 2012, Ergebnis 2011, Ergebnis 2010 und Ergebnis 2009. Und hier die Nominierungen, aus denen in diesem Jahr gewählt werden konnte.