Utopie und Rückbesinnung

von Ralph Gambihler

Leipzig, 1. März 2013. Man ist versucht, einen Showdown zu nennen, was da seit gestern am Centraltheater über die Bühne geht – nein! – , gejagt wird. Das Repertoire ist bereits abgespielt. In den verbleibenden vier Monaten der Intendanz Hartmann stürzt sich das Ensemble in ein kräftezehrendes Turbo-Finale, das den überraschend traditionsverhafteten Namen "Leipziger Festspiele" bekam. Im Wochenrhythmus kommen nun Produktionen heraus. Sie werden jeweils nur drei oder vier Mal en suite gespielt.

Einen roten Faden findet man nicht wirklich. Das Programm ist mehr ein ad hoc entstandener Mix aus Themen und Genres, dessen offensichtlichstes Merkmal ist, dass er viele Theaterschaffende und Künstler versammelt, die in den vergangenen fünf Centraltheater-Jahren als Gäste am Haus gearbeitet haben, Thomas Thieme zum Beispiel, Armin Petras, Clemens Meyer, Rainald Grebe. Es gibt Lesungen, Konzerte, Filmabende – und natürlich Theater. Auf dem Programm stehen 17 Premieren. Der Kehraus im Juni allerdings wird von einem Künstler bestritten, den das Centraltheater mehrmals ein- und jedesmal wieder ausgeladen hat, letzteres wegen hartnäckiger Budgetprobleme: Nun also kommt Hermann Nitsch mit seinem Orgien-Mysterien-Theater und wird es zu einem "2-Tage-Spiel" ausdehnen.

Abschied in der Arena

Indessen: Man will gar nicht so großartig spektakeln. Konzeptionell sind die "Festspiele" eher als Rückbesinnung auf die Ursprünge des Theaters angelegt denn als finales Feuerwerk einer Intendanz. Das Symbol dieser Rückbesinnung ist eine aus Holz zusammengezimmerte Arena, die wie ein Raumschiff im Saal des großen Hauses gelandet zu sein scheint. Sie ersetzt die hinter dem Eisernen Vorhang verschwundene Guckkastenbühne als zentrale Spielstätte. Der formale Bezug ist unübersehbar. Die Arena zitiert die Theaterarchitektur der griechischen Antike, hat aber durch die ovale Form und den komplett weißen Anstrich auch etwas von der eleganten Schlichtheit gehobener 60er-Jahre-Architektur.

traum 01.03 02 560 r arnold u"Nackt"-Bläser in der Festspiel-Arena © R. Arnold

Prasselndes Bildertheater und die große postdramatische Sause sind in diesem Rahmen schwer vorstellbar. Ganz im Gegenteil verlangt die Festspiel-Bühne nach intimen Formaten. Insofern hat es seine Bewandtnis, dass Sebastian Hartmann (Regie) zum Auftakt der Festspiele eine völlig andere Handschrift zeigt als sonst. Er hat sich gewissermaßen auf kostbaren Minimalismus verlegt und mit Dostojewskis später Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen" (1877) einen Stoff ausgesucht, der als Solo eingerichtet werden kann. Der Titel des Abends – "Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen. #1 – Traum" –  versprüht postmodernistischen Esprit, verhehlt aber, dass im Grunde Dostojewski vom Blatt gespielt wird. Im Laufe der "Festspiele" wird sich Hartmann noch mit Tschechow und Tarkowski befassen, daher die "3 Russen".

Paradies und Lüge

Auf der Bühne ist nichts als feierlich wirkende Leere. Benjamin Lilie, ein junger Schlacks aus dem Leipziger Ensemble, betritt sie Hand in Hand mit dem Bandleader des Posaunen-Sextetts "Nackt". Die zwei tragen schwarze Galaanzüge mit Biesenhemd und Kummerbund. Nach kurzer Umarmung trennen sie sich, der Musiker geht nach oben zu seinen Kollegen und Lilie ist nun allein mit sich und dem Publikum, ohne die beruhigende Gewissheit eines Requisits oder Bühnenbilds. Das wird in den kommenden 90 Minuten so bleiben.

traum 01.03 07 280 hoch r arnold uBenjamin Lillie spielt Dostojewski  © R. ArnoldIn "Traum eines lächerlichen Menschen" erzählt ein armer, an den gesellschaftlichen Rand gedrängter Stadtbewohner vom großen Wendepunkt seines Lebens. Dem Mann war alles egal, er wollte sich erschießen. Im entscheidenden Moment schlief er aber ein und hatte einen utopischen Traum, den er, wieder erwacht, als Offenbarung einer letzten "Wahrheit" erkennt. Der Traum handelte von einem Paradies, in dem die Menschen wie "Kinder der Sonne" in völliger Harmonie leben, ohne Lüge, Leid und Zwietracht.

So weit, so bekannt. Die tragische Pointe ist allerdings, dass sich der Träumende als Ursache des Sündenfalls träumt. Sein Erscheinen im Paradies zerstört das Paradies. "Wie eine ekelhafte Trichine, wie ein Pestatom, das ganze Länder vergiftet, so habe ich diese glückliche, bis dahin sündenlose Erde vergiftet." Die Menschen "lernten lügen, gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge ... Dann erwachte bald die Wollust, die Wollust gebar die Eifersucht, die Eifersucht die Grausamkeit." Die Utopie ist futsch, es triumphiert die Realität.

An Hartmanns Regie-Leine macht Benjamin Lilie aus dieser dialektischen Fabel ein hitziges Solo. Und, Überraschung: Zu erleben ist kein Hartmann-Freestyle mit großem Bildertheater, auch keine performative Ausschweifung mit fröhlichem Fremdtext-Import. Sondern: Einfühlungstheater ohne doppelten Boden! Man reibt sich fast die Augen, wie sich Lilie an postdramatischen Konventionen vorbei in seine Rolle wirft, um sein Leben spielt, krabbelt, barmt, brüllt, fleht und immer wieder zum feierlich-glücklichen Ton des Erretteten zurückfindet.

Posaunenstöße und dröhnende Erregung

Nur manchmal scheint er den Text ins Lächerliche zu ziehen, etwa bei der haltlos dramatischen Beschreibung des bescheidenen Dachzimmers, in dem der Traum geträumt wird. Aber diese Momente bleiben Ornament. Als Schlusspunkt eines fünfjährigen Stadttheater-Experiments, in dem Spielweisen und Sehgewohnheiten hinterfragt und auf den Kopf gestellt wurden, ist diese Rolle rückwärts in eine althergebrachte Spielweise ebenso kokett wie überraschend.

Weniger schön: Mit übermäßigen Ausbrüchen und Punktierungen schraubt sich der Abend stellenweise in dröhnende Erregung. Zudem nervt die Musik anfangs mit großen Posaunen-Stößen à la Richard Strauss, die für sich genommen ein tolles Konzert ergäben, aber in dieser frühen Phase vor allem ablenken. Andererseits: Es ist ein Ereignis, wie sich Benjamin Lilie diesen sehr speziellen, hochgradig fordernden Raum der Arena erspielt und über 90 Minuten die Spannung hält. Wie er Verzweiflung und Errettung gegeneinander setzt und zu einem wieder gefundenen Leben verschränkt. Da ist einer über sich hinaus gewachsen. Im Grunde blieb ihm nichts anderes übrig.

 

Entscheide dich für die Liebe. 3 Russen # 1 — Traum 
nach Fjodor Dostojewskis Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen"
Regie/Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Nackt, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Benjamin Lillie, Nackt.
Spieldauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.centraltheater-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Christian Rakow nimmt in der Frankfurter Rundschau (4.3.2013) Abschied von der Ära Hartmann in Leipzig. Der scheide, wie er gekommen sei: mit einem Tigersprung. Es gebe nicht viele Intendanzen, die bis zum Schluss für so viel Wirbel sorgten. Auch nach dem Ende der Hartmann-Ära werde die Erinnerung an ein seltenes Stadttheaterexperiment, an ein Ausnahme-Ensemble und seine "Leipziger Handschrift" bleiben, schreibt Rakow. Genauso wie der kleine Solo-Abend nach Dostojewskis Ich-Erzählung "Traum eines lächerlichen Menschen" in der Festspiel-Arena. "Allein im Rund: Benjamin Lillie", elegant charmiere er und bleibe dabei "gefährlich wie ein sibirischer Husky". Er gebe "ein Schelmenstück der Fesselungskunst". Hartmann, der große Bilderfinder, arbeite "puristisch wie selten", gebe sich ganz seinem jungen Protagonisten hin. "Sie schaffen ein zartes, immer wieder tief erschütterndes Spiel- und Hörerlebnis, ein lyrisches Kammerstück über die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit."

Von "starkem Theater" und einer "großartigen Inszenierung" spricht Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (4.3.2013). Sebastian Hartmann, der aus Georgis Sicht "ja sonst gern mal aufblähe", arbeite hier "ohne Verschlackungen auf den Punkt genau". Auch Benjamin Lillie wird für seine darstellerische Tour de Force gefeiert.

 

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