Müdigkeit hält in Bewegung

von Steffen Becker

Karlsruhe, 2. März 2013. Der Beruf eines Nachtkritikers ist der Inbegriff einer neoliberalen Tätigkeit. Eine Arbeit, für die man sich gerne selbst ausbeutet, weil sie einem das Gefühl von Freiheit und Initiative verleiht. Im besten Falle erzeugt sie die Befriedigung, kluge Gedanken schon formuliert zu haben, bevor die Kollegen von den Printmedien überhaupt die Chance hatten, sie schreibend zu entwickeln. Dieses "Ich kann" ist nach Meinung des Philosophen Byung-Chul Han der innere Zwang, der uns effektiver in den Burn-Out treibt als die äußere Kraft von Anordnungen. So liegt man denn auf einer Matratze im Studio des Staatstheaters Karlsruhe, hört drei Schauspielern zu, wie sie Hans Essay über die Müdigkeitsgesellschaft bearbeiten und fühlt sich ertappt.

Gemeinschaft stiften
Was diese Leute zitieren (mit Mikro) und debattieren (einfach so), beschreibt viel von der eigenen Realität: Wer in Projekten denkt, ist nur vordergründig sein eigener Herr, letztlich aber immer selber schuld, wenn es nicht klappt. Das überforderte Leistungssubjekt reagiert mit Hyperaktivität, die in der Reaktion auf jeden Impuls im Grunde passiv agiert. Kennt man von vielen so genannten kreativen Berufen. Die der Regisseure und Schauspieler zählen auch dazu. Umso gespannter durfte man sein, ob und wie Stefan Otteni und sein Team ihre eigene Erschöpfung ausstellen – mit Han als Analyst der depressiven Müdigkeit und Peter Handkes "Versuch über die Müdigkeit" als Gegenpol einer befreienden Müdigkeit, eines Gemeinschaft stiftenden Zustandes.

Das Setting dieser Inszenierung der Reihe "philosophisches Theater" versucht indes, jede Anspannung vom Publikum abfallen zu lassen. Helfer versichern, dass schlafen in Ordnung ist. Sie liefern Vitamine und Kekse, bieten eine Rückenmassage an und geleiten in der Pause zur Toilette. Anne Neuser (Bühne) spannt über die Besucher eine Art Zelt, das verklärte Pfadfinder-Erinnerungen wachrufen.

muedigkeitsgesellschaft 560 felix gruenschlossMüdigkeitsgesellschaft: Thomas Halle und Publikum © Felix Grünschloß

Das fühlt sich wohlig-entspannt an – und ist eine Wurzel des Dilemmas, das Otteni seinem Publikum zur individuellen Lösung darreicht. Während man sich in der Decke wälzt, wird man aufgewirbelt von den Schauspielern Ursula Grossenbacher, Thomas Halle und Gunnar Schmidt. Sie diskutieren lautstark über die philosophischen Fragen der Müdigkeit, demonstrieren Accessoires für den Power-Nap (flauschige Vogel-Strauß-Masken) und veranschaulichen die Oberflächlichkeit von Multitasking mit Affeneinlagen. Ihre Haupttexte von Handke und Han fordern Konzentration, ebenso die Schlenker zu Platons Höhlengleichnis, zu Herman Melvilles Anwaltsgehilfen Bartleby, griechischen Göttersagen und Friedrich Nietzsche.

Quell von Erkenntnis

Man muss sich entscheiden, nach welchem Prinzip man der Vorstellung folgt – gibt man dem Impuls der Müdigkeitsgesellschaft nach, kann man sich der Entspannung kaum hingeben. Denn das bedeutet mit dem Prinzip eines Theaterbesuchs als Fortbildung zu brechen. Die Verunsicherung ist im Premiere-Zeltlager deutlich zu spüren. Es entsteht zumindest zu Beginn nicht das Handke'sche "Volk der Müden", dessen Müdigkeit es empfänglicher macht für den Kern einer Sache. Langeweile als Quell von Erkenntnis – eine so schöne wie fremdartige Vorstellung. Stattdessen spürt man vor Ort auch als Kritiker die Scham, die Hans Müdigkeitsgesellschaft in Bewegung hält. Darf ich einfach an die Decke starren und etwas verpassen? Kann ich mich mit dem Stück gut fühlen oder muss ich erst benennen können, warum?

Besonders eindrucksvoll demonstriert Otteni diese Ambivalenz von Müdigkeit, als ein Junge eine Matratze entert, weil er allein nicht schlafen kann. Es wirkt wie eine ungewollte Unterbrechung und die Schauspieler stellen ihn mit dem Kinderlied "LaLeLu" und aggressivem Ton ruhig. Zum Schluss gehen sie dann einfach, ihr Gute-Nacht-Gesang verhallt und das Publikum schaut eine Weile in den künstlichen Sternehimmel. Nach zwei Stunden siegt dann doch das körperliche Verlangen nach Spannungsabfall und es hat sich wohlige und als Gemeinschaft empfundene Ermattung breit gemacht.

Arbeitsverweigerung vermeiden

Für den Nachtkritiker ist der Ausstieg schwieriger. Man hat sich das Nichtstun jetzt verdient – gefühlt und von Philosophenverstand bestätigt. Oder zumindest die Muße, über das Gehörte schlafen zu dürfen. Man fühlt sich ermutigt durch die Aufforderung der Schauspieler, einmal laut den "schönen (!) Satz" zu sagen: Nein, ich möchte lieber nicht. Um Arbeitsverweigerung zu vermeiden, muss man sich doch zurückziehen auf das Beispiel neoliberalen Künstlerdaseins. Schauspieler Thomas Halle hatte berichtet, wie er nach Proben erschöpft durch die Straßen streift und mit Herablassung auf Menschen mit Berufen schaut, die so eine königliche Müdigkeit nicht hervorrufen. Mit diesem Gefühl klammert man sich an den Kritikerlaptop. Die Handke'sche Utopie verfliegt im Geklapper der Tasten. Zum Glück wird es der normale Zuschauer einfacher haben mit dem Genuss dieses Stücks.


Müdigkeitsgesellschaft / Versuch über die Müdigkeit (UA)
von Byung-Chul Han / Peter Handke
Regie: Stefan Otteni, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Bühne/Kostüme: Anne Neuser.
Mit: Ursula Grossenbacher, Thomas Halle, Gunnar Schmidt.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

Für Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (4.3.2013) ist dieser Abend "bemerkenswert", weil er "selbst umsetzt, was er fordert: eine Unterbrechung des Alltags, eine Entschleunigung des Produktivitäts-Hamsterrades". Anders als in anderen Kunstaufführungen werde das Wegdämmern hier geradezu gefördert. Die Text-Collage sei "bewusst unaufdringlich gehalten" und werde "auf Dauer angenehm beruhigend" durch das "unaufgeregte Sprechen" der Akteure vorgebracht, "ab und zu unterbrochen durch Gute-Nacht-Lieder".

Ein "interessanter Abend", von dem insbesondere Handkes Erzählungen "im Gedächtnis" blieben, so schätzt es Georg Patzer in der Stuttgarter Zeitung (4.3.2013) ein. Wobei es den Schauspielern zu verdanken sei, dass Texte und Gedanken hier "zum Leben erwachen und Handkes häufig schwer erträgliches Pathos ein wenig gemildert wird". Regisseur Stefan Otteni gelinge es, "aus den widerspenstigen – vor allem bei Hans auch manchmal konfusen, dogmatischen – Textfragmenten eine interessante, aber fragile Mischung herzustellen, die den Zuschauer nicht einschläfert, sondern mit Gedankenanstößen in einen Zustand erhöhter Gedankenempfänglichkeit versetzt".

Im Badischen Tagblatt (5.3.2013) aus Baden-Baden schreibt Ute Bauermeister: mit einem "außergewöhnlich intensiven und intimen Theaterabend" versetze Stefan Otteni die Zuschauer in eine angenehme "Wir-Müdigkeit", in einen entspannten Zustand des "Sich-rundum-Wohlfühlens". Meisterhaft gelinge es Otteni aus theoretischen Texten von Han und Handke einen Theaterabend zu machen, Sprache werde "Erlebnis", Gedanken und Theorien würden "sinnlich wahrnehmbar". Die Schauspieler rezitierten Passagen aus Büchern, plapperten über eigene Erfahrungen, sängen oder kommentierten "hitzig" die Texte – ein "Spitzenmüdigkeitsteam".

In der Süddeutschen Zeitung (5.3.2013) schreibt Christine Dössel: mit Handke gesagt, sei sie in Karlsruhe in einen "Horizont der Müdigkeit" eingetreten, auf den T-Shirts der Helfer stünde: 'It"s okay if you sleep'. Womit schon das Problem beginne, die Liegeposition sei der Konzentration nicht förderlich, auch sehe man schlecht und überhaupt sei es anstrengend, den Texten der Herren Han & Handke und gleichzeitig der "Wellness-Auflage des Regisseurs" zu folgen. Man habe es mit einer "verordneten Als-ob-Müdigkeit" zu tun. Der Abend sei eigentlich interessant, wenn die Schauspieler bloß nicht "unter permanentem Hochdruck, mit aufgekratzter Diskursfreudigkeit, einem schmissigen Motivationstrainer-Impetus und diesem (reichlich verlogenen) Bescheidwisser-Gestus" die Erkenntnisse von Han & Handke zum Besten gäben. Dössel vermisst den "Leidensdruck", die "Überforderung" "Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung' angesichts eines 'Zuviel", welches Byung-Chul Han unserer Zeit attestiere.

 

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