Männerwahn

von Michael Laages

Essen, 2. März 2013. Eine der allzeit gültigen Deutungen des verhängnisvollen Verhältnisses zwischen ewigem Streben und dauernder Vernichtung, erzählt in der Geschichte von Aufstieg und Untergang des Heinrich Faust, entstand ja im Ruhrgebiet. Ein gewisser Adolf Tegtmeyer aus Herne charakterisierte den deutschen Gelehrten und den in teuflischem Lebens- und Todes-Pakt mit ihm verbundenen Partner nach einem Besuch im Theater wie folgt: Faust und dieser "Mister Phisto" gehörten zusammen "wie Castrop und Rauxel". Alles klar? Alles klar.

Kern ohne Pudel

Was der große Goethe-Monolog des Kohlenpott-Komikers Jürgen von Manger, Mitte der 1960er Jahre entstanden, gemein hat mit dem aktuellen "Faust"-Projekt am Essener Schauspiel im Grillo-Theater? Wenigstens einen zentralen Gedanken – jenseits von allem Drumherum, unter allen Verpackungen und Überformungen den Kern der Fabel in den Griff zu bekommen; auch ganz ohne Pudel.

Erzählte von Mangers Tegtmeyer-Holzschnitt die Faust-Geschichte schlicht und komisch wie für Tante Lisbeth oder den "Arbeitskollegen Giuseppe" sozusagen im "Readers-Digest"- Schnelldurchlauf (und nahm dafür absichtsvoll jedes mögliche Missverstehen in Kauf), so führt der Zeitgenosse Christoph Roos die bekanntlich über 12.000 Verse mit (zugegeben) grobem Schnitt und Strich auf einen Kern zurück, der für ihn Verständnis stiftet.

faust2 560 hupfeld birgit.ujpgEndlich Regen: Sven Seeburg, Thiemo Schwarz, Jan Pröhl, Laura Kiehne, Stefan Diekmann und Tobias Roth © Birgit Hupfeld

Goethes vielgestaltige Fabel vom "Faust" sei, sagt Roos (der aus der Schule der alten Berliner Schaubühne stammt und in Essen bereits Thomas Manns "Buddenbrooks" und eine "Michael Kohlhaas"-Bearbeitung nach Kleist inszenierte), in beiden Teilen vor allem ein Männer-Stück, genauer: ein Stück über Männer und deren immerwährenden, weltzerstörerischen Größenwahn. Und die Frau darin, sagt er, sei immer die gleiche: als Objekt, als Opfer und als Obsession.

Lässt sich dem "Faust" auf diese Weise folgen? Ja.

Faust im Kollektiv

Obwohl halt viele gute Bekannte zu Hause bleiben müssen – schon in der programmatischen Eröffnung. "Vorspiel im Himmel"? Nein. "Vorspiel auf dem Theater"? Ja. Sechs Herren in Overalls räsonieren vor dem Eisernen Vorhang über die Frage, wie sich einem Publikum (das ja schon da ist) was auf welche Art erzählen lässt. Dann fährt der "Eiserne" hoch, und dahinter gähnt Peter Sciors Bühne als leerer Raum über ganz viel aufgeschütteter Erde; ein Stuhl darin, sonst nichts. Dass unter der vielen Erde eine bewegliche Platte steckt, entdecken wir später.

Nun durchlaufen fünf der sechs Herren einzeln, abwechselnd und im Chor all die ausführlichen Selbstzweifel, die den Lehrer und Gelehrten Heinrich Faust so quälen. Einmal, als sich der Herr Doktor in überhitztem Philosophieren allzu sehr ins Göttliche hinauf transzendiert, mimt einer aus dem Herren-Club zu Nebel-Tricks aus dem Handgerät und handgemachtem Theremin-Gesäusel den Erdgeist, während ein anderer sich jetzt schon am Rande hält. Wir ahnen warum. Sie werden als Mephisto und mehr oder minder kollektiver Faust ab jetzt die Handlung führen.

Teufelspakt per Handschlag

Von jetzt an fehlt wirklich viel. Wie gesagt: der Pudel; aber auch der Schüler, sogar der mit Blut geschlossene Teufelspakt – Handschlag genügt. Faust wird nicht in den Jungbrunnen getunkt, Auerbachs Keller hat zu. Kein Faktotum, kein Osterspaziergang; dafür erscheint eine hübsche junge Blonde als Putzfrau. Und Faust (dem gerade eine Art Marylin wie im Kino vor dem inneren Auge gaukelte) sieht in dieser ahnungslosen Zufallsbekanntschaft Margarethe, die große Liebe.

Nachbarin Marthe Schwerdtlein ist samt Garten gestrichen, ebenso Gretchens Bruder Valentin. Nur die "Gelenkstücke" (wie Robert Wilson das nennen würde) bleiben als Gerüst der Handlung, bis dann Gretchen ziemlich original im Kerker leiden darf. Effektvoll kippt die Bühnenschräge das Mädchen samt Sand ins kühle Grab. Faust aber erholt sich schnell; und die Erfindung von Inflation und Betrug durch Einführung des Papiergeldes aus dem zweiten Faust-Teil findet noch vor der Pause statt.

Haben wir die alten Bekannten bisher vermisst? Eher nicht. War die Story klarer? Unbedingt.

Geschichte um Geld, Krieg und Macht

Die Methode funktioniert im zweiten Teil durchaus weniger gut – das poetische Geraune und Gemunkel ist hier im Original existenzieller, gerade weil die Fabel hier schon bei Goethe kaum Halt und Haltung findet. Roos streicht mutig und munter weiter - jetzt fehlen unter anderem die apokalyptische Wissenschafts-Fabel um Homunkulus und das künstliche Leben sowie die klassische Walpurgisnacht, später auch das ganze Gleichnis- und Erlösungsbrimborium des Finales.

faust1 560 hupfeld birgit uEuphorion hebt ab: Laura Kiehne und Tobias Roth © Birgit Hupfeld

Die Geschichte von Geld und Krieg und Macht bleibt als Gerüst. Die Begegnung mit Helena samt Euphorion, dem himmelsstürmisch-stürzenden Sohn ist leider nur ein länglich-flacher Pop-Song. Danach erblickt Faust vom höchsten Gebirge das Meer – und erfindet im Geiste Deich- und Wohnungsbau. Hinter der (gedachten) Hütte von Philemon und Baucis bauen die Essener Bühnentechniker dann einen eindrucksvollen Miniatur-Plattenbau samt Beleuchtung. Mitten zwischen den Wohn-Containern sucht Faust die Sorge heim und schenkt ihm Blindheit; der ewige Sinnsucher stirbt, und "Mister Phisto" hat das letzte Wort – alles ist nichts, wie nie gewesen. Licht aus, Deckel drauf.

Allein an der Garderobe

Es funktioniert. Und zum Glück gelangt die Inszenierung auch über den Punkt hinaus, wo sie "nur" das beweist. Bloß Philologen werden nörgeln. Auch im Drei-Personen-Kammerspiel setzt sich der philosophische Lebens-, Liebes- und Leidens-Diskurs des ersten Teils in Bewegung, in überwiegend starken Bildern erscheinen die Fieber-Phantasien des zweiten Teils. Jan Pröhl ist ohne jede Retusche zwischen Reife und Alter ein kraftvoll-kompakter, ein sehr irdischer Faust, Stefan Diekmann ein boshaft ironischer, manchmal richtig aasiger Teufel; Laura Kiehnes Gretchen gönnt die Inszenierung jede denkbare Emotion. Als Helena ist sie später, was sie sein soll: Abziehbild. Aber das sind auch generell die schwächsten zehn Minuten.

Ein sehr sehenswerter Versuch mit Faust ist das; und, wie Tegtmeyer sagt: "Das ist mir noch nie passiert, dass ich als erster an der Garderobe meine Klamotten gekriegt habe!" So sehr war Essen begeistert.


Faust I + II
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Christoph Roos, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albertus, Musik: Markus Maria Jansen, Dramaturgie: Vera Ring, Licht: Michael Hälker, Ton und Video: Mark Rabe.
Mit: Stefan Diekmann, Laura Kiehne, Andreas Maier, Jan Pröhl, Tobias Roth, Thiemo Schwarz, Sven Seeburg.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-essen.de


Mehr "Faust"-Doppel aus jüngerer Zeit: Peter Konwitschny zeigte beide Teile des Goethe-Dramas in Graz, Marcus Lobbes in Freiburg. In Frankfurt schnürten Stefan Pucher und Günter Krämer das Paket an unterschiedlichen Abenden. Dušan David Pařízek brachte "Faust" zusammen mit Elfriede Jelineks Sekundärdrama "FaustIn and out" in Zürich heraus. Und Nicolas Stemann wurde mit seinem Salzburger Achtstünder "Faust 1+2" auch zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladen.

 


Kritikenrundschau

Von einem "stimmigen Schnelldurchlauf durch Goethes Mammutwerk" berichtet Britta Helmbold in den Ruhrnachrichten (4.3.2013). In seiner "reduzierten, behutsam modernisierten Fassung" konzentriere sich Regisseur Christoph Roos im ersten Teil auf Teufelspakt und Gretchen-Geschichte, in der "Jan Pröhls testosteron-gesteuerter Faust" sich dank "Flüssig-Viagra" in Gretchen verguckt. "Stark verdichtet" werde auch im zweiten Teil, der in dieser Fassung keine "Erlösung" bereithalte.

Martin Burkert sagt im Mosaik auf WDR 3 (4.3.2013): Roos nehme das Stück als Männerstück, mit dem Fokus auf Verführung, Macht, Reichtum, Krieg, die vielen Sinn- und Menschheitsfragen seien "hart reduziert", auch der Kontakt mit der magischen Welt sei weg. - Am Anfang sei die Bühne leer, nur mit Erde beworfen, im zweiten Teil entstehe daraus eine Fensterfront. Für das vom Meer abgetrotzte Land werde die Bühne mit Plattenbauten zugestellt. - Laura Kiehne spiele Gretchen mit "innerer Leidensfähigkeit". Männlich, nämlich "ständig unter Dampf und getrieben" spiele Jan Pröhl den Faust, mitunter etwas zu sehr unter Dampf stehend. Ein "Klasse-Mephisto" sei Stefan Diekmann mit seiner "sarkastischen, ironischen Art".

Arnold Hohmann schreibt auf derwesten.de, dem Online-Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (4.3.2013, 18:38 Uhr): Roos kratze mit seiner Inszenierung "manchmal nur an der Oberfläche". Deutlich werde im ersten Teil seine "Idee von einem Stück über Männer, die sich nicht nur die Welt, sondern gleich auch noch die Frauen untertan machen wollen". Faust gebe es sechs Mal, Mephisto sei ein "Person gewordener extremer Aspekt des Faustschen Charakters". Die Zerstörung der Frau gelinge Roos noch "sehr sinnfällig". Aber auf Dauer gerate Jan Pröhls unter Hochdruck stehender Faust "ein wenig eindimensional". Stefan Diekmanns "marginale Körperbewegungen" als Mephisto seien dagegen "wie ein cooler Swing". Im "wenig ergiebigen Hoppla-hopp" des zweiten Teils erkenne man gerade noch vage, dass Roos sich "auf die Aspekte Geld, Macht und Krieg konzentrieren möchte".

 

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