Rauer Wind für Kunst und Freiheit

von Stefan Bläske

5. März 2013. Es knirscht im Gebälk, es knirschen die Zähne, und es knirscht der Schnee unter den schweren Schuhen. Dass es kalt ist in Russland, sehr kalt, und ein rauer Wind weht, liegt nur zum Teil an Väterchen Frost. Vielmehr an der unheiligen Allianz zwischen autoritärem Staat und extremistischer Orthodoxie, die unter eifernden Bekenntnissen zu Gott und Vaterland dem "westlichen Liberalismus" den Kampf ansagt. Ein Jahrzehnt russischer "Kulturkampf" verdichtete sich am Wochenende in Milo Raus "Moskauer Prozessen", und so wäre es fast eine Enttäuschung gewesen, wenn die dreitägige Veranstaltung im Andrei Sacharow-Zentrum ohne Störungen und Schlagzeilen über die Bühne gegangen wäre.

Die Störung: Quod erat demonstrandum

Im Grunde wurde nur bestätigt, was aus westeuropäischer Perspektive keines neuerlichen Beweises bedurft hätte. Jedenfalls fügen sich die Vorfälle (unsere Meldung vom 3. März 2013) nahtlos in das Bild des lupenrein putinschen Russland: am dritten und letzten Tag der "Moskauer Prozesse", als der Casus Pussy Riot auf der Tagesordnung stand, wurde die Veranstaltung erst von Mitarbeitern der Migrationsbehörde unterbrochen, die nachzuweisen versuchten, dass Regisseur Milo Rau kein rechtmäßiges Visum besitze, dann von Kosaken, die Sorge trugen, hier würden ihre religiösen Gefühle verletzt.

mlee-130Vertreter der Migrationsbehörde kontrollieren den Ausweis von Milo Rau. Auf dem Bild hinter Milo Rau steht Maxim Schewtschenko, neben Milo Rau sitzt Maxim Krupskiy (Staatsanwalt).
© IIPM / Maxim Lee

Letztlich verliefen diese Zwischenfälle glimpflich, selbst die in Statur und Kleidung einschüchternden Kosaken zogen friedlich wieder ab. Immerhin haben sie neuerlich demonstriert, dass eine potentiell "kritische" Kunstveranstaltung selbst dann nicht ohne Einmischung von Staats- und Kirchenvertretern über die Bühne gehen kann, wenn sie – wie im Fall der "Moskauer Prozesse" – von mehreren Dutzend internationalen Journalisten gleichsam flankiert und geschützt ist, zugleich aber quasi in einem abgekapselten Raum ohne russische Öffentlichkeit stattfindet.

Die Moskauer Prozesse: Staat versus Mensch

Die dreitägige "Gerichtsshow" im Sacharow-Zentrum ist Teil des von Milo Rau groß angelegten Projekts "Die Moskauer Prozesse", das im Oktober 2012 mit einem Kongress am Nationaltheater Weimar begann. Dort wurde gleichsam Grundlagenforschung betrieben und die russische Tradition der Schauprozesse aufgefächert. Die interessante inhaltliche Auseinandersetzung mit Schau- und Gerichtsprozessen wurde damals leider in den Hintergrund gedrängt durch die mediale Aufregung um Breiviks Erklärung, die Milo Rau in diesem Rahmen uraufführte.

Die "eigentlichen" Moskauer Prozesse sind jene aus den Jahren 1936 bis 1938, der Anfangszeit des Großen Terrors unter Stalin. In vier Gerichtsverhandlungen, drei davon öffentlich, wurden hohe Partei- und Staatsfunktionäre wegen angeblicher terroristischer resp. staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt und verurteilt, die Hauptvertreter der Politikergeneration der Oktoberrevolution von 1917 liquidiert. Hinsichtlich der Verfahrensweise in derartigen Schauprozessen und dem Einfluss der Exekutive auf die Judikative machte der Kongress in Weimar die strukturellen Parallelen zur heutigen Situation in Russland deutlich.

Die Moskauer Prozesse: Religion versus Kunst

Bei den "neuen" Moskauer Prozessen handelt es sich zum einen um den weltweit Aufsehen erregenden Fall von Pussy Riot im vergangenen Jahr, die Verurteilung der Aktivistinnen zu zwei Jahren Lagerhaft – mit der Begründung, dass ihr Auftritt in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale, mit dem sie gegen den Schulterschluss zwischen Putin und dem Patriarchen demonstrieren wollten, die Gefühle Gläubiger verletze, eine gotteslästerliche Agitation und Rowdytum zugleich sei.

Mit Rowdytum hat auch ein Prozess neun Jahre zuvor zu tun, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. 2003 zerstörten orthodoxe Extremisten die religionskritische Ausstellung "Achtung, Religion" im Sacharow-Zentrum, verurteilt wurden absurderweise aber nicht die Zerstörer, sondern die Ausstellungsmacher. Ähnliches widerfuhr dem Kurator Andrei Jerofejew und dem Direktor des Sacharow-Zentrums Juri Samudurow drei Jahre später, als sie unter dem Titel "Verbotene Kunst 2006" jene Werke versammelten, die im Laufe des Jahres dem Publikum vorenthalten worden waren. Sie präsentierten sie hinter Stellwänden mit Gucklöchern. Gläubige (am vehementesten wie immer jene, die den Stein des Anstoßes gar nicht selbst gesehen haben) fühlen sich beleidigt, die "Volkskirche" hetzt, und im Prozess treten viele falsche Zeugen mit Spickzetteln auf. Das Buch Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung dokumentiert den Prozess mit schönen Schwarz-weiß-Zeichnungen von Wiktoria Lomasko und faszinierend schwarzem Humor.

Die Beteiligten: Miteinander gegeneinander

Diese drei Prozesse nun werden von Milo Rau noch einmal aufgenommen. Diesmal kein Reenactment, für das Milo Rau und Jens Dietrich mit ihrem "IIPM – International Institute of Political Murder" bekannt wurden mit Die letzten Tage der Ceauşescus und Hate Radio. Sondern eine neue Chance. Die Anklagen sind die gleichen, die verhärtet aufeinandertreffenden Positionen sind es auch. Die Situation indes ist eine seltsame: Einerseits ist es Spiel. Theater, Performance, Filmdreh (letztlich soll aus diesem Material ein Kinofilm werden). Es ist Kunst, konsequenzlos, insofern diese Prozesse keine rechtliche Wirkung entfalten, das finale "schuldig" oder "nicht schuldig" eher symbolische als performative Macht hat.

mlee-179Die Gerichtshow vom 1. bis 3. März im Sacharow Zentrum in Moskau: Maxim Schewtschenko (Leitender Sachverständiger der Anklage) spricht zur Jury. © IIPM / Maxim LeeTrotzdem ist es ernst, insofern im Rahmen dieses Spiels Menschen und Positionen aufeinanderprallen, die einander aufs Heftigste bekämpfen. Darin besteht wohl die größte Leistung von Milo Raus Projekt: dass es erbitterte Widersacher zwar nicht an einen Tisch, aber immerhin in einen Saal bringt, dass hier auf die Macht von Sprache und Argument vertraut wird, dass sich hier Menschen argumentativ miteinander auseinandersetzen müssen, die sich sonst nur bellend ineinander verkeilen.

Insofern ist der Cast tatsächlich beeindruckend: Als Chefankläger tritt Maxim Schewtschenko auf, ein Medienstar im Staatsfernsehen. Seine Eloquenz und sein Charisma wirken, eingesetzt für die Belange extremer Orthodoxie und den gebetsmühlenartig wiederholten Schutz des "Sakralen", diabolisch gefährlich, zumal im Vergleich mit seiner scharfen Anklage die Verteidigung erschreckend blass bleibt. Erschreckend, weil Anna Stavitskaya nicht nur die Verteidigerin spielt, sondern auch in den realen Prozessen gegen die beiden Ausstellungen als solche auftrat – man mag hoffen, dass sie im Ernstfall stärker auftritt.

Die Experten: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Die Fernsehmoderatorin Olga Shakina übernimmt die Rolle der Richterin und hat immer wieder Mühe, Ordnung zu wahren in den Duellen zwischen Anklage und Verteidigung, in den Kreuzverhören mit den geladenen Experten und Zeugen. Diese hat Milo Rau, so wirkt es, nach möglichst hohem Sprengstoffgehalt ausgewählt, wobei die Vertreter von Liberalismus und Kunstfreiheit, wie die Kulturwissenschaftlerin Elena Volkova oder der Philosoph Michail Ryklin (aus westlicher Perspektive gesprochen) sachdienlich auftreten, Werte abwägend, Rechtsstandards in einem säkularen Staat einfordernd.

mlee-5Anita Soboleva (Rechtsexpertin), Olga Shakina (Richterin), Mikhail Kaluzhsky (Assistent der Richterin)  © IIPM / Maxim Lee

Die Vertreter von Orthodoxie hingegen wirken teilweise wie rechte Gruselgestalten, Faschisten und orthodoxe Taliban, und wenn man sie, etwa den Historiker Roman Bagdasarov oder den orthodoxen Aktivisten Dmitry Enteo, reden hört vom Schutz ihrer "traditionellen Werte" und ihrem Hass auf zeitgenössische Kunst, Liberalismus, Homosexualität, von ihrem Recht, sich mit allen Mitteln gegen "den Teufel" zu verteidigen, wird einem Angst und Bange.

Jeder der Experten beginnt mit einem Schwur, "die Wahrheit" zu sagen "und nichts als die Wahrheit" – aber was kann das für ein Wahrheitsbegriff sein, wenn doch jeder nur seine eigene Wahrheit als solche akzeptiert, glaubend an die Allmacht Gottes oder die Freiheit der Kunst, an den russischen Bären oder den Osterhasen?

Ein Grundproblem der Prozesse besteht also darin, dass Schuld und Unschuld der Angeklagten daran gemessen wird, ob eine künstlerische Aktion "religiöse Gefühle" verletzt und "religiösen Hass schürt", und dass die Definitions- und Meinungsmacht im öffentlichen Raum darüber, was "religiöse Gefühle" sind und was sie provoziert, mehr und mehr in die Hand von militanten Orthodoxen ohne jegliche Toleranz gerät.

Das Urteil: Im Zweifel für die Angeklagten

Was also ist das Ergebnis des Prozesses? In dubio pro reo! Das Urteil der sieben Schöffen endet mit drei Ja-Stimmen, drei Nein-Stimmen und einer Enthaltung und bedeutet juristisch: Freispruch. Entgegen den Urteilen in den Original-Prozessen werden die Angeklagten nicht für schuldig befunden, "religiöse Gefühle verletzt und religiöse Feindschaft geschürt zu haben". Milo Rau kann am Ende der dreitägigen Prozesse verkünden: "Die Kunst hat gewonnen".

Akzeptiert man die Zusammenstellung der sieben Schöffen als einigermaßen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt durch verschiedene Alter, Religionszugehörigkeiten etc., zeigt das Urteil, so jedenfalls interpretiert der aufgebrachte Chefankläger Maxim Schewtschenko seine Niederlage, vor allem eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Einer der Schöffen weist auch darauf hin, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn die drei Fälle nicht in denselben Topf geworfen worden wären, und es ist leicht zu erraten, dass die Ausstellungsmacher weit eher davongekommen wären als Pussy Riot.

Man kann die "Moskauer Prozesse" unter vielerlei Aspekten betrachten und bewerten: konzeptionell und darstellerisch, in Bezug auf ihre künstlerische, politische und mediale Wirkung. Man mag versuchen auseinanderzudividieren, ob der Schlussapplaus nach drei Prozesstagen inhaltlich dem Freispruch galt, oder formal den Teilnehmern für die engagierte Übernahme ihrer "Rollen". Ob man sich mehr Inszenierung oder mehr "Authentizität" gewünscht hätte. Ob man die drei Prozesse nicht doch lieber hätte getrennt beurteilen sollen. Und ob das Projekt gut daran tat, mit dem Casting eher dramaturgisch eine Zuspitzung auf radikale Positionen zu verfolgen als die Gelegenheit zu nutzen, mit moderateren Kräften zu einer Vermittlung beizutragen.

Die Lage der Nation: David gegen Gulag

Als stärkster Eindruck der "Moskauer Prozesse" blieb für mich das Gefühl einer Ohnmacht, einer erdrückenden Übermacht von Staat und Kirche. Der "geschützte Raum" Sacharow-Zentrum, die Vielzahl internationaler Pressevertreter und der "Freispruch", also die gleichsam "theatrale Revision" des realen Urteils boten zwar zwischenzeitlich Sicherheit und Grund zur Hoffnung. Das minderte aber nicht die Bedrückung angesichts der Aggressivität der Orthodoxie, und sie zerplatzen wie Seifenblasen bereits durch die rein physische Präsenz schon einer Handvoll Polizisten, schon einer Handvoll Kosaken.

mlee-90Yekaterina Samuzewitsch  © IIPM / Maxim LeeDiese mächtigen Männer, bärenhaft in ihren Uniformen und Pelzen, benahmen sich dank Interventionen unter anderem auch von Maxim Schewtschenko zwar vergleichsweise handzahm, aber wie deutlich war ihr Machtanspruch, war ihre Verdrängung zu spüren. Daneben, dazwischen kaum mehr wahrnehmbar: die kleine, zierliche Jekaterina Samuzewitsch. Anders als ihre beiden Kolleginnen von Pussy Riot sitzt sie keine zwei Jahre Haft ab, sondern ist frei auf Bewährung. In den "Moskauer Prozessen" nun neuerlich auf der Anklagebank, tritt sie erneut an zu ihrer Verteidigung, im Raum hallt noch eine Extremistenforderung nach "200 Jahren Haft für Pussy Riot" nach. Mit welcher Ruhe Samuzewitsch nach vorne tritt, einsteht für ihre Rechte, für einen Rechtsstaat, das ist so beeindruckend, so berührend, so tragisch: sisyphusgleich wieder und wieder den Stein den Berg hinauf zu rollen, wieder und wieder anzureden gegen staatlichen und religiösen Militantismus, ... dies ist die eigentliche Kraft, dies ist für mich das eigentliche Ereignis der "Moskauer Prozesse". Dieser, und sicher noch einiger Folgender.

P.S.: In Moskau beginnt derweil der Kampf um die Deutungshoheit über das Projekt, die Vereinnahmung von verschiedenen Seiten für die jeweiligen Zwecke. Auf Anfrage nach dem Fortgang der Dinge schreibt Milo Rau aus Moskau, es sei ein Medienchaos ausgebrochen, inklusive kursierender Verschwörungstheorien, weshalb er – um die "versöhnliche Seite der Putin-Regierung zu zeigen" – zu einigen Talkshows regierungsnaher Sender eingeladen wurde, wo er auch wieder auf Maxim Schewtschenko treffe.

Einerseits erhalte er weiterhin Drohungen vom "Immigration Service" und Warnungen, der Staat würde für ihn noch ein "übles Nachspiel" bereithalten, am Sonntag sei er nur so glimpflich davongekommen, weil sich spontan zwei Anwälte und Schewtschenko für ihn eingesetzt hätten.

Andererseits werde er "absurderweise" gleichermaßen von der linken wie der rechten Presse gelobt: von Links für sein Engagement für "Meinungsfreiheit", von Regierungsseite für seine "Vermittlerrolle". Zahlreiche Künstler, staatsnahe wie staatsferne, haben sich in verschiedenen Schreiben hinter ihn gestellt.

Kann man alles richtig machen – im richtigen Land?

 

Sblaeske kleintefan Bläske forschte und lehrte als Theaterwissenschaftler an der Universität Wien, schrieb als Korrespondent aus Wien und anderswo für nachtkritik.de und arbeitet derzeit in der Dramaturgie des Residenztheaters in München.


 

Mehr zu Die Moskauer Prozesse: alle großen deutschsprachigen Zeitungen hatten KorrespondentInnen nach Moskau geschickt. Was sie gesehen und gehört haben fassen wir in einer Presseschau zusammen.

Der Dokumentarfilm Die Moskauer Prozesse über die drei Prozess-Tage im Moskauer Sacharow Zentrum wird am 14. März in einer Preview in der Zürcher Gessneralleee gezeigt.