Presseschau vom 19. April 2013 - Im Magazin Cicero kleidet Irene Bazinger die Regietheaterdebatte neu ein
Diese unsäglichen Spielvögte!
19. April 2013. "Im Theater ist – vom gewaltigen Blödsinn bis zur intellektuellen Emphase – alles möglich", schreibt Irene Bazinger in der aktuellen Ausgabe des Magazins Cicero. Seine gesellschaftliche Relevanz erweise sich, "wie in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auch", in der Qualität seiner Hervorbringungen. "Wenn gelangweilte, ungebildete, überhebliche Regisseure mit schlecht gewaschenen Fingern an Texten herumfummeln, die sie gar nicht interessieren und die sie deshalb auf ihr banales geistiges wie emotionales Niveau herunterbrechen, ist das Theater daran nicht schuld."
Es könne nichts für einen künstlerischen Horizont, der sich zwischen "Sesamstraße" und Facebook bewege – und das nicht als Mangel empfinde. Es könne auch nichts für Stückfassungen, die mit den Originalen kaum noch etwas zu tun haben, "dafür mit Fremdtexten, Filmeinblendungen und Musiktiteln aus der gerade bevorzugten Playlist des jeweiligen Regisseurs vollgeknallt sind." Oder wenn "diese unsäglichen Spielvögte" ihrem Ensemble nichts anderes abverlangten als baldigst Hemd und Hose auszuziehen, mit blankem Hintern durch den Kartoffelsalat zu robben oder erst mal in irgendeine Ecke zu kotzen, per Videokamera riesig auf die Bühnenrückwand übertragen.
Die Regietheaterdebatte sei inzwischen wieder abgeflaut, "aber nicht das, was sie ausgelöst hatte". Neben den genannten Provokationsversuchen macht Bazinger eine "innere Auszehrung" als Bedrohung für Das Theater aus, "die man höflicherweise als Blässe des Gedankens, ebenso als Dämlichkeit und Präpotenz bezeichnen könnte".
Was in den großen Städten "mit viel Aufwand unter speziellen Umständen eventuell irgendwie und dank hervorragender Schauspieler" durchrutschen könne, werde auf den kleineren Bühnen normalerweise zum Desaster. Eine Inszenierung à la Castorf, Gosch, Petras in der Provinz könne verheerend sein, denn sie senke maßgeblich nicht nur das Niveau des regionalen Theater, sondern verderbe überdies die Perspektive des Publikums.
Und nachdem die Regisseure das anspruchsvolle Publikum aus dem Theater gejagt hätten, rannten sie ins Kino. "Ich kriege akute Hassschübe, wenn mir Theaterleute erzählen, um wie viel lieber sie Filme sehen als Theater. Kein Wunder, haben sie es doch selbst in Bausch und Bogen ruiniert!"
Im Theater seien unbegabte Regisseure – "ich sage bloß Christoph Schlingensief!" – oft blendend im Geschäft. Zu erklären sei das höchstens dadurch, dass sie mit ihren wohlkalkulierten Sujets und mit ihrem schamlosen Bühnen-Bohei eine riesige Medienresonanz auslösten und so einerseits soziale Relevanz simulierten, andererseits für nicht minder mediengeile Intendanten zu Quotenbringen würden.
Die Intendanten kriegen auch noch ihr Fett weg: "Wo ist ein Intendant mit Mut zum Abenteuer, zur eigenen Meinung, zur intellektuellen Widerspenstigkeit? (…) Ich kenne nicht alle, aber ich sehe keinen."
Schlussappell: "Macht uns nicht dümmer, als ihr seid und wir sind! Lasst uns die Theater wieder zu Kathedralen des Besonderen erleben! Rettet sie aus den handelsüblichen Komfortzonen!"
(sd)
Wir halten Sie auf dem Laufenden
Wir sichten täglich, was in Zeitungen, Onlinemedien, Pressemitteilungen und auf Social Media zum Theater erscheint, wählen aus, recherchieren nach und fassen zusammen. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrem finanziellen Beitrag.
Viele Grüße
gehen. Zunächst zeichnen ua. die Nachtkritiken auf dieser Seite, nachtkritik de., in der Tat auch für die sogenannte Provinz ein bei weitem differenzierteres Bild als es je jegliches "Regietheaterbashing" wird leisten können. Und auf nachtkritik de. ist auch das Spekrum an KritikerInnen kaum verdächtig, hofberichterstattend zu sein, und da, wo dieser Verdacht dann hin und wieder doch ein wenig mitschwingt, wird er gelegentlich sogar sachlich begründet wiedergegeben, so daß diskutiert werden könnte. Auch Inszenierungen, die mehr dem Bilde des Bazingerschen Holzschnittes
entsprechen, oh ja, es gibt sie (und das hat zB. sehr wohl mit dem Überheblichkeitsthema, dem Dauerironiethema zu schaffen, das Herr Briegleb vor nicht allzulanger Zeit an passenderer Stelle (meineserachtens) plaziert hat), bleiben prinzipiell diskutabel, und leider wird von diesem Prinzip auch zu Zeiten nachtkritik de.s noch zu wenig Gebrauch gemacht. "Augen auf" ! Richtig, es gibt sie wieder, wie Stefan unlängst angesichts einer ersten "Schwalbe", ich will die löbliche erste LeserInnenkritik seit langem auf dieser Seite einmal so nennen, feststellte: die Möglichkeit zur "LeserInnenkritik", und offenbar ist mir die Ankündigung der erneuerten Möglichkeit ebenso entgangen wie ihm (Gab es überhaupt eine ?); umso löblicher, daß die erste Leserkritikerin offensichtlich die Augen offen hatte ! "Augen auf", denn es gibt nicht nur sehr Sehenswertes an mindestens den oben genannten Bühnen, es gibt auch Spannendes zu erleben, wenn man sich auf andere, zB. KritikerInnenstimmen zu einer Sache einläßt, bevor oder nachdem man sich selbst diese angesehen und "erklärt" hat, und auch "bevor" und "nachdem" sind als differente Weisen, ans Theater heranzutreten, diskutabel. Nehmen wir zB. den "Clavigo" in Kiel, der vor ca. einer Woche Premiere hatte. Die Kritiken zweier etablierter (regionaler) KritikerInnen, Ruth Bender (KN, 15.4.2013 "Verlieben sich zwei") und Wolfgang Butzlaff (Shz, 15.4.2013 "Kieler Schauspielhaus enttäuscht mit Jugendwerk von Goethe"), könnten viel weiter garnicht auseinandergehen; schon allein die Frage, auf was man sich eigentlich einläßt, wenn man heute zu einer "Clavigo"-Inszenierung geht, scheint so unterschiedliche Antworten zu provozieren, wohlgemerkt : bei zwei KritikerInnen, die ganz ordentlich davon leben können, Kritiken und Theaterartikel zu veröffentlichen, und diese Antworten scheinen das dann Kritisierte so sehr zu belangen, daß für meine Begriffe gerade diese offene Schere darüber, was wir hier eigentlich gerade erleb(t)en, von ungemeinem Reiz ist,
über Fremd, Welt, Ich ein wenig mehr zu erfahren.
Ich mußte, um hier nicht auch Kino und Theater gegeneinander auszuspielen, beim
"Clavigo"-Thema spontan an den Film "Unloved" denken, auch erinnerte ich mich an einen einmal gesehenen Lenz-Film, der Goethe und Lenz zusammen in Sessenheim (bei Friederike Brion, die heute Geburtstag hat sozusagen) zeigte; insofern sperrt sich mein Vorverständnis beispielsweise gegenüber der Ruth-Bender-Zeile "Ein Teenie-Liebes-Kummer-Drama mit filmreif eingebauten Effekten in Gestalt eines rächenden Bruders und eines frechen Freundes", da, mit Herrn Butzlaff gesprochen, der Stoff ganz gewiß nicht der aktuellen Brisanz entbehrt (siehe "Unloved"), den er, Butzlaff desweiteren im Konflikt zwischen Liebe und Karriere und den falschen Einfluß von Beratern in etwa ausmacht. Herr Butzlaff bleibt für meinen Geschmack leider ein wenig fixiert auf das Drama; dabei liegt es freilich auf der Hand, daß die recht großen Themen "Liebe" und "Karriere" und ihre Beziehung gewiß auch schon irgendwo "behandelt", "angegangen" wurden (wie zB. in "Unloved"). Hat man ein Beispiel wie "Unloved" zur Hand wird es gewiß leichter, die Voraussetzung des "Teenie-Dramas" ein wenig zu befragen in der Hinsicht, ob da nicht mehr drin ist. Genau diese Befragungsprozesse erhoffe ich mir vom neueröffneten "Bolzplatz", der seinen Namen jetzt erst recht verdient, denn nur die wenigsten Bolzplätze sind geradezu gemeindeamtlich als "Bolzplatz" ausgewiesen (ich sah dergleichen wohl, aber es hat mich immer ein wenig amüsiert), die meisten muß man halt (mit allerlei BolzfreundInnen) suchen und finden.
was ist das feigheit?unfähigkeit?die konvention des unkonventionellen?wehe wenn du sauber arbeitest,pfui teufel. seltsam ist das ja schon.
Wie wahr! Ich reise aus familiären Gründen demnächst zwangsweise wieder auf Verwandten-Besuch in die ostdeutsche Provinz. Das was mir dort in (meinem) trauten Kreis real geboten wird, übersteigt selbst die Phantasie eines Frank Castorf.
Das so gescholtene Regietheater hält mich am Leben und lässt mich klarer sehen!!!
Dramaturgen, die von Kunst keinen blassen Schimmer haben, und das sind die meisten, haben alle Fäden in der Hand.. dort liegt der Hund begraben! Regisseure inszenieren um ihr künstlerisches Überleben. Sie tun es so "auffällig" wie es eben geht... sonst ruft keiner mehr an... die guten , intelligenten und leisen bleiben oftmals auf der Strecke. scharenweise verlassen die wirklichen Künstler das System Stadttheater und gehen in die Arbeitslosigkeit, weil kein Machthaber des Systems sie erkennt.
Jeder, der den Betrieb kennt, weiß: dieser lebt davon, dass man sich gnadenlos ernst nimmt und zwar mit allem was man tut. Jeder möchte Künstler sein. Jeder möchte wichtig sein. Ganz besonders die, die zum eigentlichen künstlerischen Prozess am wenigsten beitragen. Brille aufgesetzt, Agamben oder Foucault zitiert, mal eben kurz mitm Armin ( o. Herbert oder Frank usw.) telefoniert und schon stimmt das Selbstbild wieder. Kulturermöglicher, dass ich nicht lache.
Man muss das nicht so ernst nehmen, alle kochen nur mit Wasser, aber wer von Kunst spricht, die gedeiht, hat mein vollstes Misstrauen.
Was allerdings die Alternative zum Status Quo ist, weiß ich auch nicht.
Ich weiß nur: Das Interesse der Entscheider wirkt zumindest so (jetzt mal diplomatisch), als wäre ihre Absicht die Erhaltung oder Verbesserung der eigenen Position, nicht aber, als hätten sie was zu sagen. Von Kunst ganz zu schweigen.
Klar, wenn man hier und da sagen würde, was tatsächlich los ist, also dass die Abonnentenzahlen schwinden und immer weniger Leute in die Theater kommen, genauso, wie immer weniger fernsehen, dann würde man die Kohle gestrichen bekommen und aus wäre es mit dem relativ sicheren Leben in der Subvention.
Aber vielleicht sollte man hinter den Kulissen des Gebäudes, das mit Zahlenjonglagen am Stehen gehalten wird, ein Konzept entwickeln, das den Anforderungen von Städten, in denen das Zentrum stirbt, weil wir alles im Internet oder in den Gewerbegebieten am Rand kaufen, genügt, eine Neudefinition des sozialen Raums sozusagen, eine genaue Analyse der Zustände, etwas, was man audience development nennt, irgendetwas, was anders ist als das ewig so Weitermachen, bis der Karren vor der Wand ist. Aber nein, wir machen eskapistisch weiter, retten unsere mittelfristeigen Verträge, die uns sowieso ausser den Intendanten nicht genug Geld zum Leben geben.
Und zu den jungen Regisseuren: Auffällig ist, das oft gekauft wie gesehen gilt und wenig von Schauspielern gefordert wird, was man oft seltsam finden muss, wenn man das Geschäft länger kennt.
Aber ansonsten gilt ja auch: Es gibt nur gutes und schlechtes Theater, da greifen alle Einteilungen nicht mehr.
Die Beispiele sind schlechte, aber der Treffer bleibt.
Wer die Proben von Innen kennt, weiß doch wie es ist.
Kurzes Beispiel aus jüngster Zeit: Ein hochverdienter Regisseur und Ex Intendant, inszeniert Brecht an einem deutschen Großstadtstaatstheater.
An Inhalten wenig interessiert, wurde bei den Proben versucht, möglichst viel unterhaltendes in den Szenen unterzubringen. Damit sich der gebildete Bürger nicht langweilt. Und ab und zu ein kleiner Bildungselitebelohnungsgag ("Hah! Ich hab das grad verstanden!") untergebracht, und fertig war der Abend.
Niemand, von Schauspielern über den Dramaturgen bis zur Regie, war am Stück, am Inhalt oder ähnlichem interessiert. Die Gespräche handelten zwischen den szenischen Proben immer um eines dieser beiden Themen: Ob "The Shield" nun besser als "The Wire" sei, und ob nun "Homeland" wirklich der ersehnte Knaller ist.
Lustigerweise passen also einige Dinge aus dem von mir eigentlich verachtetem Konservativenblatt wie die Faust aufs Auge.
Mit dem Brecht gehts sicherlich zum TT.