Baugrund und Friedhofserde

von Ralf-Carl Langhals

Heidelberg, 26. April 2013. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der geregelte Ablauf der Dinge spielt im "Alpenvorland" mehr als nur eine gliedernde Rolle. Nicht selten dient "erdverbunden" als Euphemismus für Wesenszüge, die auch beim Oberösterreicher Thomas Arzt, Autorenpreisträger des Heidelberger Stückemarkts 2012, zwischen traditionell und reaktionär, jovial-selbstgenügsam und beschränkt-provinziell oszillieren. Feucht ist sie diese Erde, fruchtbar und in Bewegung.

Der ganz normale Bürgerwahnsinn

Dass sie auch im alpinen Idyll geologisch wie heimatkundlich nicht so fest ist, dass sie Existenzen lebenslang trägt, beweist das Bauvorhaben von Hannes (Benedikt Crisand) und Heidi (Natalie Mukherjee), die auf ihrem einstigen Kinderspielgelände Baugrund erworben haben. "Man will doch seinem Leben auch mal einen Grund geben", weiß Bauherr Hannes bei der launigen Grillfete mit einstigen Spielkameraden an der Baugrube. Seine Schwägerin Sopherl (Karolina Horster) sieht es biologisch und sarkastisch: "Das Errichtetsein, darin steckt seine Potenz. Im Häuserbauermann." Was uns als Beweismittel für den lustvoll hintersinnigen Umgang des Autors mit Worten und Doppeldeutigkeiten dient. "Im Grund ist alles sehr vage", wird Hannes wenig später erkennen, noch bevor ihn Heidi sitzen lässt, um mit Kumpel Alf (Friedrich Witte) durchzubrennen. Auch wenn sie es nicht "grundlos" tut, die Lebensgrundlage ist morsch, noch bevor der Beton trocken ist.

alpenvorland2 560 florian merdes uSchöne, neue Playmo-Welt. © Florian Merdes
Und Stück und Inszenierung bleiben im Bild: Simone Wildt hat ein trickreiches wie spielfunktionales Häuschen aus Zementsäcken auf die Bühne der Studiobühne Zwinger gestellt und für Regisseur Jens Poth und das Heidelberger Ensemble lustige Playmobil-Figuren gebastelt, deren Kostüme stilsicher auf die Geburtsjahrgänge der siebenköpfigen Clique verweisen. Mitte dreißig sind sie, die meinen, sich gefunden haben zu müssen, was aber der ganz normale Bürgerwahnsinn mit seinen emotionalen, beruflichen und erotischen Dysfunktionen zu verhindern weiß. "Die Basis ist die Mittelschicht. Von der Mittelschicht hängt alles ab. Besonders bei Cremetorten", lockert Thomas Arzt seinen Alltagstiefsinn auf.

Tief in der Heimatseele graben

Was er den Figuren aber in zwei Stunden auf den Leib schreibt, würde in Sachen Verwicklungspotenzial für je drei Staffeln "Marienhof" und "Verbotene Liebe" reichen. Und genau hier liegt im eine Woche zuvor am Landestheater Linz uraufgeführten "Alpenvorland" das Problem des angesagten Autors: Er will zu viel. Neben Chatroom-Erfahrungen und weiblichem Berufsfrust sollen Elterndramen, Sexualorientierung, Kapitalismus- und Religionskritik und vieles mehr verhandelt werden. Mit einer Spur weniger Sprachbegabung könnte das Stück auch in der fraglos fragwürdigen Kategorie "pubertär" versinken.

alpenvorland3 280 florian merdes uHäuslebauen, ein Kinderspiel? © Florian MerdesEine Gefahr, der sich passagenweise auch die Inszenierung von Jens Poth aussetzt, wenn sie zu sehr auf Musical, Klamauk und Comic setzt und unnötige Längen entstehen lässt, wo die stationär angelegten Spielszenen mehr Klarheit in der Zweisamkeit vertragen hätten. Doch dann überrascht er wieder und verweigert kokett zu eindeutige Späße, setzt eine perfekt choreographierte Tortenschlacht mit Charleston und Rasierschaum gekonnt zwischen Volkstheater und "Väter der Klamottenkiste". Der Verlockung einer launigen Spaßnummer erliegen Autor und Regie nicht, obwohl Dominik Lindhorsts Komik-Potenzial dazu allen Anlass böte.

Aber Arzts zwischengelagerte erdig-süßliche und scharf schwarz geränderte Lyrik nach Kinder-, Kirchen- und Volksliedern setzt sich durch, wirkt theatralisch stärker nach. Wendelin Hejny hat diese – in bester alpenländischer Tradition stehende – Poesie musikalisch nicht chorisch, sondern mit Einzelbeiträgen der Schauspieler aufgelöst. Das ist bei Karoline Horster, Natalie Mukherjee und vor allem Evamaria Salcher grandioser Indie-Deutsch-Pop in aufnahmefähiger Qualität. Arzt gräbt zwar an zu vielen Baustellen, aber tief in der Heimatseele, wo immerhin die Katastrophen verlässlich sind: "Unsere Zone ist nicht stabil. Die Berg flachen ab, alles sinkt ins Tal runter, in die Ebenen raus." Baugrund und Friedhofserde sind gleichsam nass und kalt. Es wird Herbst da draußen. Was sagt uns das? Wer jetzt kein Haus hat ...

 

Alpenvorland (DEA)
von Thomas Arzt
Regie: Jens Poth, Bühne und Kostüme: Simone Wildt, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke, Musik: Wendelin Hejny.
Mit: Benedikt Crisand, Karolina Horster, Michael Kamp, Dominik Lindhorst, Natalie Mukherjee, Evamaria Salcher, Friedrich Witte.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

"Der Regisseur Jens Poth versucht, die Schwächen der Stückvorlage zu überspielen und zu überbrüllen", ist Christian Gampert auf Deutschlandfunk (27.4.2013) genervt. "Er verwendet ritualisierte Formen und Pantomimen und Standbilder und treibt die Schauspieler vor allem zu Beginn in ein beständiges Over-Acting." Vor allem aber habe er fast gar nichts gekürzt, so dass das thematische Sammelsurium des Autors in nervender Länge dargeboten werde. "Die Regie wärmt sich an einem künstlichen Lagerfeuer und schmeißt die Figuren in ein putziges Planschbecken, das ist so der (sic) intellektuelle Level." Angeblich seien das ja die Höhepunkte der Nachwuchsdramatik, "aber, mit Verlaub: Dieses Kaleidoskop jugendlicher Unglücksfälle reicht nicht einmal für ein kleines Fernsehspiel." Das Theater habe immer weniger mit Literatur zu tun "(die wenigen dialektalen Feinheiten des Österreichers Thomas Arzt werden einfach beiseitegespielt)", aber immer mehr mit dialogisiertem Besinnungsaufsatz und müden Alltags-Parodien.

Vordergründig komme der unterhaltsame Theaterabend revueartig flott, mitunter fetzig und fast immer quietschbunt daher, schreibt Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (29.4.2013). "Bei der Generation der Anfangdreißiger auf der Bühne steppt beinahe der Bär." Sie alle lieferten eine homogene und dynamische Ensembleleistung. "Vergänglichkeit und Vergeblichkeit allen Strebens der Gruppe werden wunderbar deutlich in der die Bühne beherrschenden Baustelle." Das Sesshaftwerden in der Gesellschaft bleibe Vorhaben oder Sehnsucht – "und wäre das Gelingen nicht die Ankunft im Spießertum?"
Vor solch elementaren Fragen stünden die Figuren in diesem "knallfarbigen Bilderbogen aus dem heutigen Österreich mit sozialen Tiefenrissen". "Die Szenenreihung überzeugt durch viele gelungene Sequenzen, erschwert aber auch einen Spannungsaufbau."

"Thomas Arzt ist kein extremer Sprachverdichter wie sein österreichischer Kollege Ewald Palmetshofer, sondern ein Erzähler, der sich in Biografien von Figuren stürzt", erläutert Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2013). "Das macht seinen Text ungemein lebendig, überfrachtet ihn aber auch immer wieder." Bei den monologischen Passagen habe Regisseur Jens Poth sinnvoll gestrichen. "Ansonsten meinte er aber, Thomas Arzts Eintauchen in den biografischen Dschungel seiner Figuren mit einer rasant durchexerzierten Playmobil-Aufstellung näher kommen zu können." In größere Nähe zur Seelenlage dieser schon in mittleren Jahren so ausgelaugten Menschen gerate die Inszenierung immer dann, wenn sie sich Zeit nehme. "Die allerdings gönnt Jens Poth sich zu selten." Das Ergebnis sei eine über Charaktere weghuschende Inszenierung, die in knapp zwei Stunden fertig sei mit einem Text, "der mehr Zuwendung bräuchte".

 

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