Kahle Weinreben im Wind

von Jenny Sréter

Berlin, 15. Mai 2013. Wie von Geisterhand sausen Dinge über die Bühne, ein Paar Schuhe tanzen von alleine, es klimpert und klirrt, Licht verlischt, etwas geht zu Bruch. Im Schattenspiel tauchen die Silhouetten von übergroßen Kreaturen mit langen Gliedern auf. Die Kalikantzaroi sind gelandet! Sie wirbeln durch den Raum, singen und tanzen, fallen sich ins Wort. Chef der Truppe ist Mutter Kali Kapona: Sie kommandiert ihre Familie herum wie das Oberhaupt eines Mafiaclans. Dabei ist sie aber vor den Streichen ihre beiden Kinder Kaligaga und Kalentze nicht gefeit, die ihr mal die Stimme klauen, mal das Solo vermasseln. Kaligagas lange, spitze Ohren ragen wie Tragflügel aus einem Turm von verfilzten Haaren und wippen bei jeder Bewegung, am Kinn wächst ihr ein spitzer Bart. Akrobatisch sitzt sie auf einem Bilderrahmen, der von der Decke hängt und bläst verführerisch Seifenblasen. Kalentze, eher ein Sancho Panza mit seiner gerüschten Halskrause und dem Helm aus einem Sieb, fährt gebratenen Ameisen, Skorpione und Schlangen auf und rappt dazu seinen Text.

kali-kantzar 280h christostheodoridesRocky Horror Show der Fantasie-Kobolde: "Kali-Kantzar & Co." © Christos TheodoridesIm zyprischen Musical "Kali-Kantzar & Co." der Cyprus Theatre Organisation, Nicosia, besuchen drei Kalikantzaroi-Kobolde die Menschenwelt, um ihren verlorenen Sohn beziehungsweise Bruder wieder zu finden. Die stinkende Meute strandet in einem Theaterkeller und überrascht dort den Nachtwächter. Er hält sie für Schauspieler, Zigeuner, Pakistanis und will ihnen nicht glauben, wer sie wirklich sind – ein Grundproblem der Kalikantzaroi, die deshalb in einer Krise stecken. Denn eigentlich existieren sie, um die Menschen zu triezen und zu hänseln. Nun aber glaubt niemand mehr an sie, niemand hat mehr Angst vor ihnen, allmählich geht auch das Geld auf der Ärger-Bank aus.

Wider den Kulturabbau

Dieser Tage ist viel von Staatskrisen und knappen finanziellen Ressourcen die Rede. Hier aber geht es nicht um Wirtschaft und Geld, sondern Phantasie und Glaubenskraft. Als wolle die Truppe zeigen, was verloren ginge, sparte man das Theater ein, fahren sie allen Zauber auf, dessen die Bühne mächtig ist: Ein Tischlein-deck-dich saust hervor, in Schaukästen tanzen Kakerlaken, Koffer stürzen von der Decke. Auch den Darstellern zuckt es ständig in den Gliedern – die ausgefeilten Choreographien und die vielen Slapstick-Einlagen verlangen ihnen enormen körperlichen und mimischen Einsatz ab. Alle drei Kobolde stehen gerne im Rampenlicht, keiner möchte zu kurz kommen: Sie zwicken und schupsen sich, wirbeln einander herum und jagen einander über die Bühne zur Musik, die sich von Rap über Tango bis Bollywood spannt.

Das Vertraute und das Ungewohnte

Dabei dreht sich alles um Theater, Spiel und Schein: Immer wieder wird auf die Aufführungssituation angespielt mit Kommentaren wie "Wer hat denn dieses Stück geschrieben?" und "Achte auf deine Sprache, sie haben extra gesagt, für unter achtzehn". Dass der verlorene Sohn der amerikanische Schauspieler Jim Carey sein soll, ist wiederum ein Bruch in der Fiktion, der eine Brücke schlägt zu unserer Realität.

Es heißt, dass der zypriotische Künstler und Kalikantzaroi-Forscher Hambis eines Nachts in den Bergen Zyperns beobachtete, wie die kahlen Weinreben im Wind erbeben. Da sei ihm klargeworden, wie die Geschichten der kleinen Kreaturen zum Leben erweckt wurden: Das Unheimliche bewegt sich immer auf der Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Ungewohnten. So sind uns auch die Kalikantzaroi gerade so nah, dass wir uns in ihnen wieder erkennen und gerade so fremd, dass sie uns eine andere Welt eröffnen können.

 

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